Die Macht der Demografie
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Die Macht der Demografie

und wie sie die moderne Welt erklÀrt

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Die Macht der Demografie

und wie sie die moderne Welt erklÀrt

About this book

Wie Demografie unsere Welt erklĂ€rtDemografische ÜbergĂ€nge, die einst mehrere Generationen Zeit brauchten, vollziehen sich heute in nur wenigen Jahrzehnten – und wir sind mittendrin! Bevölkerungen wachsen oder schrumpfen, werden jĂŒnger oder Ă€lter, explodieren, emigrieren oder formieren sich neu. Seit der Industrialisierung bewegen sich Bevölkerungstrends nicht mehr im Schneckentempo. Genau das macht die Demografie zu einer spannenden Wissenschaft, die uns ganz neue ErklĂ€rungsmodelle fĂŒr das Zeitgeschehen liefern kann: - Wie gestaltet sich das Wechselspiel zwischen technischem Fortschritt und Bevölkerungswachstum?- Beeinflusst eine höhere Lebenserwartung das globale MachtgefĂŒge?- Welche Auswirkungen haben sinkende Geburtenraten auf die Weltgeschichte?- Wie können wir den demografischen Wandel besser verstehen und angemessen darauf reagieren?Demografische Daten – und was wir daraus lernen könnenDie Demografie ist tief im Leben verankert. In gewisser Hinsicht ist sie mit ihren Daten zu Geburtenrate, Lebenserwartung und Migration das Leben selbst, denn sie bildet es exakt ab. Doch erst wenn man die Bevölkerungswissenschaft im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie Wirtschaftsentwicklung, technischem Fortschritt und Verbrei-tung von Ideologien betrachtet, liefert sie uns ErklĂ€rungen fĂŒr den Lauf der Weltgeschichte.Paul Morland, Demografieforscher am Birkbeck College der UniversitĂ€t London, rĂŒckt mit seinem Buch die Bevölkerungsentwicklung und den globalen demografischen Wandel in den Blick. Er erzĂ€hlt die Geschichte der modernen Welt neu – erkenntnisreich und faszinierend!

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TEIL ZWEI

DER DEMOGRAFISCHE WANDEL NIMMT FAHRT AUF – DIE EUROPÄER UNTER SICH

3. Der Triumph der Angelsachsen

Im Jahr 1846 wurde Frank McCoppin in der Grafschaft Longford im Herzen Irlands geboren. Im gleichen Jahr meldeten, quasi am anderen Ende der Welt, die Vereinigten Staaten Anspruch auf die mexikanische Provinz Alta California an. Die Stadt, aus der das heutige San Francisco werden sollte, hatte damals kaum 500 Einwohner. Als McCoppin 1897 starb, lebten in San Francisco bereits rund 300 000 Menschen. Zur Zeit der Geburt McCoppins hatte noch niemand ahnen können, dass er einmal BĂŒrgermeister einer Stadt werden sollte, die 1846 kaum so zu bezeichnen war, und dass er einen US-Bundesstaat im Senat vertreten sollte, der ĂŒberhaupt erst 1848 unter die Kontrolle der USA kam. Am Ende des 19. Jahrhunderts dagegen galt der Aufbau einer kleinen, aber höchst lebendigen Metropole am Ă€ußersten westlichen Ende Nordamerikas, bewohnt von Menschen mit ĂŒberwiegend britischen und irischen Wurzeln, schon als ziemlich normal, ebenso wie heute. Es gibt unzĂ€hlige Geschichten wie die von McCoppin, Geschichten von Menschen aus KleinstĂ€dten und Dörfern auf den Britischen Inseln, die in ferne LĂ€nder aufbrechen und dort zu reichen und mĂ€chtigen Vertretern der neuen Gesellschaften werden. Überall finden wir solche Geschichten, von Adelaide bis Oregon, von Kapstadt bis Chicago, und sie alle sind das Produkt einer Bevölkerungsexplosion, aus der unsere heutige Welt hervorging.

England gibt den Takt vor

Die Experten sind uneins darĂŒber, was zuerst da war – das rapide Wachstum der industriellen Produktion oder der massive Anstieg der Bevölkerungszahlen – und welches PhĂ€nomen die Ursache des anderen war. Aber ob nun der Bevölkerungszuwachs die Industrialisierung stimulierte oder die Industrialisierung den Bevölkerungszuwachs erst möglich machte, eines ist gewiss: Beides verlief nahezu zeitgleich. Und was auch immer zuerst da war: Ohne das andere wĂ€re es nicht sehr weit gekommen. Nur eine sehr große Zahl Fabrikarbeiter konnte den Einstieg in die Industriegesellschaft und die Fertigung im Weltmaßstab stemmen, aber auch nur mit massenhafter Industrieproduktion und Exporten dieser Produkte konnte sich die wachsende Bevölkerung selbst tragen. Was in Großbritannien begann, eroberte bald die ganze Welt im Sturm und schĂŒttelte diese gehörig durch, Land fĂŒr Land, Kontinent fĂŒr Kontinent. Die Bevölkerungsexplosion ermöglichte zunĂ€chst den Briten und dann den Völkern Europas, die Herrschaft ĂŒber die Welt zu erlangen, spĂ€ter trug sie entscheidend dazu bei, die EuropĂ€er wieder zurĂŒckzudrĂ€ngen. Genau das ist die Geschichte dieses Buchs, das ist die Macht der Demografie. Im vorliegenden Kapitel geht es um die ersten Anzeichen dessen, was einmal zu einem globalen PhĂ€nomen werden sollte, Anzeichen, die sich bei den Bewohnern der Britischen Inseln und ihren Nachbarn zeigten, die man zu jener Zeit hĂ€ufig als »Angelsachsen« bezeichnete.
Die demografische Revolution nahm auf den Britischen Inseln ihren Anfang, und die verlĂ€sslichsten der vorliegenden Daten stammen aus England (mitunter auch aus England plus Wales).1 Wir mĂŒssen uns darĂŒber klar werden, wie und warum dies ein Vorgang revolutionĂ€ren Ausmaßes war, anders als alles bisher Dagewesene. Es ist ja nicht so, dass es nicht auch frĂŒher schon rasches Bevölkerungswachstum gegeben hĂ€tte. Aber die Zunahme, die Ende des 18. Jahrhunderts in England begann und sich im 19. Jahrhundert immer weiter fortsetzte, war die erste, die parallel zu Industrialisierung und Urbanisierung verlief. Was da frĂŒh im 19. Jahrhundert begann, war kein einzelner Ausschlag in einer langen Abfolge steigender und sinkender Bevölkerungszahlen. Es war Teil eines nachhaltigen Musters rapiden Wandels, der schon bald globale Ausmaße annehmen sollte. Dieser Wandel war in zeitlicher wie rĂ€umlicher Hinsicht revolutionĂ€r: zeitlich, weil die Zunahme nicht nur schnell verlief, sondern nachhaltig und andauernd war; rĂ€umlich, weil es quasi die Blaupause fĂŒr die Entwicklung im Rest der Welt abgab.
Um Englands Bevölkerungszuwachs richtig einordnen zu können, mĂŒssen wir ein paar Jahrhunderte zurĂŒckgehen, ans Ende des 16. Jahrhunderts, die letzten Jahre der Herrschaft von Königin Elizabeth I., das Zeitalter Shakespeares. Als Spaniens Armada ĂŒber die Weltmeere segelte – und unterging – und Englands großer Dichter auf dem Höhepunkt seines Schaffens stand, lebten rund vier Millionen Menschen in England, deutlich mehr als die ungefĂ€hr drei Millionen gar nicht so lange davor, am Ende der Regentschaft von Heinrich VIII. Diese Zunahme um ein Drittel in gerade einmal einem halben Jahrhundert (das entspricht gut 0,5 Prozent pro Jahr) hatte sich nach geschichtlichen MaßstĂ€ben sehr schnell eingefunden. England unter den Tudors war grĂ¶ĂŸtenteils friedlich und wohlhabend, die politische Lage relativ stabil – bei allen religiösen Fehden, die es zu jener Zeit eben gab –, und der Handel blĂŒhte, sowohl im Land selbst als auch im Austausch mit Kontinentaleuropa. Überdies war England immer noch dabei, die Verluste durch den Schwarzen Tod und die dunklen Jahre der Rosenkriege und anderer Katastrophen des SpĂ€tmittelalters auszugleichen. Diese hatten die Bevölkerung dezimiert, nun kehrte wieder eine gewisse StabilitĂ€t ein, es gab genug Land, um mehr Menschen zu ernĂ€hren. »Merry Old England« war also durchaus nicht nur ein Mythos viktorianischer Berufsnostalgiker. Wachsende Bevölkerungszahlen sind normalerweise ein Indiz fĂŒr verbesserte Lebensbedingungen, deshalb war die Epoche der Tudors und Elizabeths I. im 16. Jahrhundert tatsĂ€chlich eine glĂŒckliche Zeit fĂŒr England, jedenfalls im Vergleich zur Epoche unmittelbar davor und, in gewissem Maße, zur folgenden.
Im 17. Jahrhundert schwĂ€chte sich das Bevölkerungswachstum ab und kehrte sich sogar um, als BĂŒrgerkrieg und Pest sich zurĂŒckmeldeten. Anfang des 18. Jahrhunderts setzte jedoch wieder Wachstum ein.2 Das durchschnittliche jĂ€hrliche Wachstum lag etwa bei 0,3 Prozent in der ersten HĂ€lfte des 18. Jahrhunderts und stieg in der zweiten HĂ€lfte auf nahezu ein halbes Prozent. So weit, so gut, historisch betrachtet aber nicht weiter ungewöhnlich. Dennoch war nun der Punkt erreicht, von dem aus sich die Dinge fĂŒr immer verĂ€nderten und die Macht der Demografie sich ungeahnt entfalten konnte. Das Bevölkerungswachstum in England beschleunigte sich im 19. Jahrhundert und erreichte trotz einer großen Zahl von Auswanderern ĂŒber 1,3 Prozent. Das natĂŒrliche Wachstum ohne BerĂŒcksichtigung der Emigration lag in den Jahren von 1811 bis 1825 bei einem Spitzenwert von ĂŒber 1,7 Prozent.3 Eine solche Zunahme hatte es in keiner anderen Periode gegeben, weder im Hochmittelalter vor der Pest noch im »Merry Old England« der Tudor-Dynastie. Eine Bevölkerungszahl, wie sie England nie zuvor erlebt hatte, war die Folge. Wenn eine Bevölkerung – oder was auch immer – mit 1,3 Prozent pro Jahr wĂ€chst, verdoppelt sie sich innerhalb von circa fĂŒnfzig Jahren, ein weiteres Mal in den fĂŒnfzig Jahren danach, und genau das war in England im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Fall.
Ironischerweise wurde just zu dem Zeitpunkt, als diese Revolution einsetzte, die »alte Ordnung«, die sie hinter sich zu lassen im Begriff war, erstmals beschrieben, und zwar von Thomas Malthus. Malthus war ein Landpfarrer aus Surrey, einer blĂŒhenden Grafschaft im SĂŒden Englands, und er erkannte etwas, das er fĂŒr ein ehernes Gesetz der Geschichte hielt. In seinem berĂŒhmten Essay on the Principle of Population (»Das Bevölkerungsgesetz«), der zwischen 1798 und 1830 mehrmals grĂŒndlich ĂŒberarbeitet und neu veröffentlicht wurde, stellte er die These auf, eine wachsende Bevölkerung wĂŒrde zwingend das Land ĂŒberlasten, das sie ernĂ€hren sollte, was unausweichlich Elend und Tod nach sich ziehen mĂŒsste. Unter solchen Bedingungen, so Malthus, wĂŒrden Kriege, Hungersnöte und Seuchen die Bevölkerung auf ein Maß reduzieren, das das Land wĂŒrde ernĂ€hren können. An diesem Punkt angelangt, bei geschrumpfter Einwohnerzahl, die sich die verfĂŒgbaren Ressourcen teilte, wĂŒrden die Überlebenden, weil geringer an Zahl, einen grĂ¶ĂŸeren Anteil an den verfĂŒgbaren Mitteln erhalten und damit ein etwas besseres Leben fĂŒhren, lĂ€nger leben und mehr ĂŒberlebende Nachkommen haben können. Dann aber wĂŒrde die Bevölkerungszahl schon bald wieder an ihre natĂŒrliche Grenze stoßen: Ohne die EinschrĂ€nkungen durch »Laster« (EmpfĂ€ngnisverhĂŒtung) oder »sittliche BeschrĂ€nkung« (spĂ€te Heirat oder sexuelle Enthaltsamkeit) wĂŒrde die allgemeine Not wieder zurĂŒckkehren. In Malthus’ eigenen Worten: »Die Kraft zur Bevölkerungsvermehrung ist um so vieles stĂ€rker als die der Erde innewohnende Kraft, Unterhaltsmittel fĂŒr den Menschen zu erzeugen, dass ein frĂŒhzeitiger Tod in der einen oder anderen Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muss.«4
Zwar hatte Malthus in der Tat einen bahnbrechenden Überblick ĂŒber die Entwicklung der Menschheit bis in seine Gegenwart vorgelegt, zu seinem UnglĂŒck jedoch wandelte sich die Welt grundlegend, als er sein Werk verfasste. Mit dem Eintreffen der landwirtschaftlichen, gefolgt von der industriellen Revolution in seiner britischen Heimat verĂ€nderte sich die Nahrungsmittelproduktion ebenso wie der Handel, und das gab der Bevölkerung die Möglichkeit, weit ĂŒber das bis dahin geltende Maß hinaus zu wachsen.5 Die Bevölkerungszahl war nun nicht mehr an die Menge der vor Ort produzierbaren Unterhaltsmittel gekoppelt. Ein industrialisiertes Land konnte seine Produkte schnell auf dem Weltmarkt verkaufen und seine Nahrungsmittel ĂŒberall auf dem Globus einkaufen. Neue Techniken in der Landwirtschaft ermöglichten eine Steigerung der Produktion; so hatten etwa im 18. Jahrhundert neue Verfahren bei Aussaat und Fruchtwechsel die ErtrĂ€ge gesteigert, im 19. Jahrhundert hielten Maschinen verstĂ€rkt Einzug in die Landwirtschaft. Der Ertrag pro FlĂ€che stieg im frĂŒhen 19. Jahrhundert um fĂŒnfzig Prozent, und in der zweiten HĂ€lfte des Jahrhunderts erfassten die europĂ€ischen Anbaumethoden riesige neue FlĂ€chen in Kanada, den USA und Australien. Auch auf die Produkte aus diesen Gebieten konnten die Menschen in Europa nun zurĂŒckgreifen.
Mit der Besiedlung dieser Territorien, der Vertreibung, teilweise sogar Ausrottung ihrer Ureinwohner und der Einbindung der FlĂ€chen in die moderne Agrartechnik sowie der Schaffung von Transportinfrastruktur fĂŒr den Verkauf der Produkte in Großbritannien und anderswo in Europa konnten immer mehr Menschen ernĂ€hrt werden. Im Grunde befeuerten die Briten ihr Bevölkerungswachstum durch das Erschließen neuer, riesiger LĂ€ndereien und das Bestellen dieser FlĂ€chen mit den neuesten Verfahren. Erst zu Malthus’ Zeiten wurde diese neue, effizientere und produktivere Welt ĂŒberhaupt vorstellbar. HĂ€tte Malthus im Herzen dieser Revolution, in Manchester etwa, gelebt und gelehrt oder wĂ€re er ausgewandert, um seinen Dienst in einer Gemeinde in der Neuen Welt zu verrichten, hĂ€tte er vielleicht einen Blick auf die Zukunft der Menschheit erhaschen können. In seiner lĂ€ndlichen Heimat in Surrey ist ihm das entgangen.
Das Bevölkerungswachstum löste nicht bei allen im Lande Begeisterung aus. Vor allem unter Intellektuellen – und lĂ€ngst nicht nur bei Konservativen oder ReaktionĂ€ren – gab es einen eindeutigen Trend, der Ausbreitung der Bevölkerung, der Massenzivilisation und dem sich dahinter abzeichnenden Szenario geradezu mit Entsetzen entgegenzusehen. 1904 lamentierte The Times, die Vororte im Londoner SĂŒden wĂŒrden zu einem »Distrikt abstoßender Monotonie, HĂ€sslichkeit und Langeweile« verkommen. H.G. Wells verzweifelte daran, dass »England nun zur HĂ€lfte nichts weiter als ein verstreuter Vorort« sei, und sprach vom »geschwulstartigen Wachstum« endloser Straßen und immer den gleichen HĂ€usern. Bei D.H. Lawrence schienen die neuen Volksmassen gar Völkermordgedanken zu wecken: »Wenn es nach mir ginge, sollte man eine Todeskammer, so groß wie der Kristallpalast errichten, dann wĂŒrde ich all die Kranken, Lahmen und KrĂŒppel aus den Haupt- und Nebenstraßen holen, hineinschicken und sie schmerzlos von ihrem Leiden erlösen.«
Die herablassende Verachtung fĂŒr die minderen StĂ€nde war mindestens so alt wie das antike Griechenland, aber die ausgesprochen widerwĂ€rtigen Ressentiments, die hier zum Ausdruck kommen, lassen sich wohl nur als spezifische Reaktion auf ein in diesem Ausmaß nie zuvor gekanntes Bevölkerungswachstum deuten. Am unverblĂŒmtesten oder alarmierendsten meldete sich der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche zu Wort: »Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein UnglĂŒck fĂŒr die höheren.«6 Eine solche Einlassung dĂŒrfte man kaum vernommen haben, als die Bevölkerung noch ĂŒberschaubar und stabil war und die meisten Armen am Rande des Hungertods ihr Dasein fristeten.

Wie erklÀrt sich der demografische Aufbruch?

Es bedarf einer ErklĂ€rung, warum der demografische Wandel einsetzte und warum das ausgerechnet in England geschah. Bis zu einem gewissen Grad war es schlicht und einfach ein glĂŒcklicher Zufall. Jenes »gekrönte Eiland«, wie es bei Shakespeare heißt, dem der BĂŒrgerkrieg erst noch bevorstand, wurde im 18. Jahrhundert erneut zu einem relativ sicheren Ort. In scharfem Gegensatz zum Rest des Kontinents hatte es nicht unter marodierenden Armeen zu leiden. AusbrĂŒche der Pest und anderer ansteckender Krankheiten pandemischen Ausmaßes ließen nach, wohl auch dank gestiegener Standards bei Hygiene und ErnĂ€hrung. Manch einer nannte gar den gestiegenen Teekonsum als Faktor fĂŒr die verbesserte allgemeine Gesundheit.7
Eine wachsende Bevölkerungszahl hat grundsĂ€tzlich eine von zwei unmittelbaren Ursachen – es können natĂŒrlich auch beide zugleich zutreffen. Erste Möglichkeit: Es gibt mehr Geburten als SterbefĂ€lle. Zweite Möglichkeit: Es gibt mehr Einwanderer als Auswanderer. Im Fall Englands im 19. Jahrhundert können wir die zweite ErklĂ€rung vernachlĂ€ssigen. So oft wir auch zu hören bekommen, dass »England seit jeher ein Einwanderungsland gewesen ist« – es trifft schlicht nicht zu. Der Anstieg der Bevölkerung Englands zwischen 1800 und 1900 hatte mit absoluter Gewissheit nichts mit Einwanderung zu tun. Ganz im Gegenteil: Gerade in dieser Zeit kehrten die Menschen in großer Zahl Großbritannien und Irland den RĂŒcken, um die riesigen Territorien von Kanada, Australien und Neuseeland zu besiedeln. Außerdem stellten EnglĂ€nder und Iren wĂ€hrend dieser Epoche die grĂ¶ĂŸte Gruppe der Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Zwar gab es durchaus auch Migration in Richtung England, nĂ€mlich aus Schottland und vor allem Irland (beides spielte sich also innerhalb des Königreichs jener Zeit ab), und ganz am Ende des 19. Jahrhunderts kam die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa hinzu, aber das machte nur einen Bruchteil der Abwanderungsbewegung in Richtung der Kolonien und der USA aus. Die SchĂ€tzungen variieren – die offiziellen Aufzeichnungen sind nicht sehr verlĂ€sslich –, und gewiss kehrten auch viele von Übersee wieder zurĂŒck auf die Insel, was das Bild nochmals verkompliziert, aber eine SchĂ€tzung spricht davon, dass allein in den 1850ern ĂŒber eine Million Menschen das Land verließen.8 Dagegen kamen im Spitzenjahr der Einwanderung im Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg gerade einmal 12 000 Menschen ins Königreich, um sich dort dauerhaft anzusiedeln.9
Ausgehend davon, dass eine massenhafte Abwanderung aus England stattgefunden hat und die Bevölkerung des Landes sich im Verlauf des Jahrhunderts dennoch fast vervierfacht hat, muss die Ursache fĂŒr das Bevölkerungswachstum in dem enorm verĂ€nderten VerhĂ€ltnis zwischen Geburten und TodesfĂ€llen zu suchen sein, was nicht nur das Bevölkerungswachstum im Land begrĂŒndete, sondern auch die verstĂ€rkte Emigration bewirkte. Die schmalen Gassen im verarmten Londoner East End, in die man am Ende des Jahrhunderts die eingewanderten Juden steckte (die den Großteil der Immigranten ausmachten), waren nichts im Vergleich zu den riesigen Territorien in Kanada, den USA, Australien, Neuseeland und anderswo, die von britischen Emigranten bevölkert wurden. Großbritannien – oder doch zumindest die Britischen Inseln – war definitiv kein Einwanderungsland. Ganz im Gegenteil mussten die GeburtenĂŒberschĂŒsse die gewaltige Nettoemigration erst einmal ausgleichen, bevor sie irgendetwas zum Bevölkerungswachstum im Land selbst beitragen konnten. Und genau dies geschah.
Mit das Erste, was sich zu Beginn dieser Bevölkerungsrevolution verĂ€nderte, war das Heiratsalter – die Leute heirateten immer jĂŒnger. Zwischen dem frĂŒhen 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts sank das Heiratsalter der Frauen von 26 auf 23 Jahre.10 Das bedeutete drei zusĂ€tzliche Jahre höchster FertilitĂ€t, in der Frauen Kinder zur Welt bringen konnten, anstatt (zumeist keusch) auf den richtigen Partner zu warten.11 Zugleich nahm die Zahl der unehelichen Geburten ab – eine Begleiterscheinung der strengen viktorianischen Moralvorstellungen. Insgesamt wurde dies jedoch durch die Zunahme bei den ehelichen Geburten mehr als ausgeglichen. Die GesamtfertilitĂ€t – ehelich und außerehelich – stieg vom relativ niedrigen Niveau des frĂŒhen 18. Jahrhunderts von vier bis fĂŒnf Kindern auf etwa sechs Kinder pro Frau im frĂŒhen 19. Jahrhundert. In diesem Punkt unterscheidet sich der Bevölkerungszuwachs in England von jenen spĂ€teren ZuwĂ€chsen in anderen LĂ€ndern; wĂ€hrend in den meisten FĂ€llen eine hohe Geburtenrate hoch bleibt und die Sterberate abnimmt, nahm in England die Geburtenrate noch weiter zu.12
WĂ€hrend die Leute frĂŒher heirateten und mehr Kinder bekamen, begannen sie auch noch, lĂ€nger zu leben, sprich...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. TEIL EINS: BEVÖLKERUNG UND GESCHICHTE
  7. TEIL ZWEI: DER DEMOGRAFISCHE WANDEL NIMMT FAHRT AUF – DIE EUROPÄER UNTER SICH
  8. TEIL DREI: JENSEITS VON EUROPA – DIE GLOBALISIERUNG DES DEMOGRAFISCHEN WANDELS
  9. Anhang I: Berechnen der Lebenserwartung
  10. Anhang II: Berechnen der GesamtfertilitÀtsrate
  11. Dank
  12. Anmerkungen
  13. Literatur