1 Sozialraumorientierung â Ein Handlungskonzept Sozialer Arbeit
Martin Becker
In diesem einfĂŒhrenden Beitrag werden, beginnend mit der KlĂ€rung wesentlicher Begriffe, die GrundzĂŒge des diesem Handbuch zugrunde liegenden Handlungskonzeptes Sozialraumorientierung (SRO) zunĂ€chst zusammenfassend dargestellt. Es wird das GrundgerĂŒst der Dimensionen des Handlungskonzeptes SRO vorgestellt, an dem sich die Beschreibungen dessen Bedeutung und Anwendung in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit unter BerĂŒcksichtigung der jeweiligen handlungsfeldspezifischen Unterschiede ausrichten. ZunĂ€chst wird das diesem Handbuch zugrunde liegende BegriffsverstĂ€ndnis von Konzept, Methode und Techniken erlĂ€utert werden. Darauf folgend gilt es die Begriffsbestandteile des hier zu beschreibenden Konzeptes der SRO zu klĂ€ren.
1.1 Handlungskonzept â BegriffsklĂ€rung und -verstĂ€ndnis
Die Fokussierung auf Handlungsfelder Sozialer Arbeit beruht auf dem »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« (Becker/Kricheldorff/Schwab 2020) und bedeutet, die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen in bestimmten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in den Blick zu nehmen und die daraus abzuleitenden Aktionen und Interventionen professioneller Sozialer Arbeit, in Bezug zu den jeweils passenden Handlungskonzepten und Methoden zu entwickeln. Das diesem Handbuch zugrunde liegende und weiter unten noch zu explizierende Handlungskonzept SRO wird also auf die handlungsfeldspezifischen Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, Governance, TrÀgerlandschaften und Situationen von Handlungsfeldern Sozialer Arbeit bezogen.
Auf der Grundlage des dreidimensionalen Kompetenzbegriffs, wie er im EuropĂ€ischen Qualifikationsrahmen (EQR)1 definiert wird, spielen sowohl theoriebegrĂŒndete Handlungskonzepte als auch die Methoden der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle beim Kompetenzerwerb durch Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen. Die Kombination von WissensbestĂ€nden aus Bezugswissenschaften und Erkenntnissen der Wissenschaft Soziale Arbeit (ErklĂ€rungswissen) mit Kenntnissen und FĂ€higkeiten der Entwicklung und Anwendung von Methoden (Handlungswissen und Analyse-/Synthese-/KritikfĂ€higkeit) bildet auf der Grundlage von Wertorientierungen und Haltungen die Basis der Ausbildung spezifischer Handlungskompetenzen Sozialer Arbeit. Nach GeiĂler und Hege (2007: 20) bezeichnet Konzept ein
»Handlungsmodell in welchem die Ziele, die Inhalte, die Methoden und die Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht sind. Dieser Sinn stellt sich im Ausweis der BegrĂŒndungen und Rechtfertigungen dar«.
Zielen Handlungskonzepte vorwiegend auf ErklĂ€rungswissen ab, so sollten sie hierzu theoretisch begrĂŒndete, plausible, erforschbare und ĂŒberprĂŒfbare ErklĂ€rungen fĂŒr soziale Prozesse beinhalten. Auf der Basis dieses Erkenntnisgewinns lassen sich Entscheidungen ĂŒber Handlungsbedarfe treffen, entsprechende konzeptionelle Ziele bestimmen und geeignete Methoden zur Zielerreichung auswĂ€hlen. Konzepte erhalten durch den Einbezug geeigneter Methoden und Techniken und der damit verbundenen systematischen Vorgehensweisen zur Zielerreichung einen Handlungsbezug und werden somit zu Handlungskonzepten. Charakteristischerweise betonen Handlungskonzepte einen programmatischen Aspekt (wie z. B. Lebenswelt, Ressourcen, Sozialraum, Management etc.), aus dem sich Handlungsprinzipien und Arbeitsweisen ableiten lassen.
Handlungskonzepte fassen also grundlegende Ansatzpunkte einer Disziplin (hier Soziale Arbeit) theoriegeleitet zusammen und beinhalten, mit der Betonung eines bestimmten programmatischen Aspektes, eine spezifische Sichtweise der ErklÀrung sozialer Prozesse.
Nach engerem VerstĂ€ndnis bezeichnen Methoden zunĂ€chst ein planmĂ€Ăiges Vorgehen zur Zielerreichung. Im Rahmen eines Handlungskonzeptes sind Methoden, auf dem oben dargelegten Konzeptbegriff basierend, jedoch nicht âșzielneutralâč, sondern abhĂ€ngig von und passend zu den, im Rahmen eines jeweiligen Handlungskonzeptes gewonnenen Erkenntnissen ĂŒber theoretisch und empirisch begrĂŒndete ZusammenhĂ€nge auszuwĂ€hlen, zu adaptieren und zu kombinieren.
Methoden sind nach dem fĂŒr dieses Handbuch geltenden BegriffsverstĂ€ndnis im Vergleich zu Konzepten weniger komplex, sie legen den Schwerpunkt eher auf den Aspekt der Vorgehensweise, also auf Handlungen, und bedienen sich dabei eines Sets an geeigneten Verfahren und/oder Techniken.
Dementsprechend können Methoden keine starren Handlungsanleitungen sein oder bieten, die sich zur Bearbeitung jedweder Aufgaben und Probleme eignen, sondern Methoden sind situationsbezogen, offen und reflexiv auf die Eigenarten und Besonderheiten sozialer Prozesse und Menschen anzupassen.
Techniken wiederum sind als erprobte, standardisierte Verhaltensmuster zu verstehen, deren Wirksamkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagbar sind, und dienen der konkreten Bearbeitung und Realisierung von Methoden (Galuske 2007: 24ff.).
Manche Methoden und Techniken können fĂŒr unterschiedliche Handlungskonzepte geeignet sein und angewandt werden. Andererseits können fĂŒr jeweilige Handlungskonzepte hingegen nur bestimmte Sets an Methoden und Techniken geeignet sein und Anwendung finden.
1.2 »Sozialraum-Orientierung« â raumtheoretische und gesellschaftspolitische Betrachtungen
»Sozialraum« steht, nach obiger Definition von Handlungskonzepten, fĂŒr den programmatischen Aspekt des Handlungskonzepts SRO und soll deshalb an dieser Stelle zunĂ€chst begrifflich definiert und inhaltlich expliziert werden. Mit der Aufgabe, Raum begrifflich zu fassen und dessen Bedeutung fĂŒr Menschen zu erklĂ€ren, beschĂ€ftigten sich Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Blickwinkeln. So wies bereits Durkheim (1903) auf den Zusammenhang zwischen sozialer Struktur menschlichen Zusammenlebens und deren rĂ€umlicher Konstitution hin. Er ging jedoch von direkten kausalen ZusammenhĂ€ngen zwischen Sozialstruktur und Raumstruktur aus, wodurch wiederum die Sozialstruktur reproduziert wĂŒrde (Konau 1977). Georg Simmels (1908) Nachdenken ĂŒber die ZusammenhĂ€nge zwischen Raum, Zeit und Substanz fĂŒhrten ihn zu einem neueren Raumbegriff, als synthetische Leistung des Menschen bzw. von Gesellschaften und damit auf den sozialen Ursprung des Raumbegriffs. Zwar geprĂ€gt von den newtonschen Vorstellungen eines absoluten Raums, ging auch Simmel von der Existenz des geografisch bestimmten Raumes aus, setzte diesen jedoch in Relation zu den sozialen Prozessen, durch die der geografische oder materielle Raum erst seine Bedeutung erhalte. Die Chicagoer Schule der Soziologie (z. B. Park/Burgess/McKenzie 1925) interessierte sich speziell fĂŒr die empirisch nachweisbaren Einflussfaktoren der rĂ€umlichen Organisation von Gesellschaft. HierfĂŒr wurden StĂ€dte und Stadtteile als Territorien der Lokalisierung sozialer Ordnungen untersucht. Mit ihrem »sozialökologischen Ansatz« war eine Fokussierung auf quasi naturgesetzlich determinierte Anordnungen von Menschen in geografischen RĂ€umen verbunden, die der von Simmel bereits aufgezeigten KomplexitĂ€t von Wechselwirkungen zwischen sozialen Strukturen und Prozessen in raum-zeitlicher Perspektive nicht gerecht wurden.
Aus der mikrosoziologischen Perspektive der PhĂ€nomenologie (SchĂŒtz 1932) wird der subjektive Sinn sozialen Handelns in seiner Bezogenheit auf Situationen, Orte und AnlĂ€sse des Handelns als »lebensweltliche« PhĂ€nomene begrifflich festgehalten und ethnomethodologisch untersucht. Auch die von Goffman (1969) beschriebene und praktizierte Interaktionsforschung macht den rĂ€umlichen Charakter sozialer PhĂ€nomene und damit deren vielfĂ€ltige Beziehungen deutlich. Henri LefĂšbvre sorgte in den 1970er Jahren fĂŒr eine Wiederbelebung der theoretischen Debatte um Raum. In seiner kapitalismuskritischen Schrift »Die Produktion des stĂ€dtischen Raums« entwickelt LefĂšbvre (1977) einen relationalen Raumbegriff, der zwischen sozialem und physischem Raum unterscheidet. Raum wird nach LefĂšbvre von jeder Gesellschaft in spezifischer Weise produziert. Dies geschehe z. B. durch die »rĂ€umliche Praxis«, also der (Re-)Produktion von Raum durch die AktivitĂ€t der Wahrnehmung des Raums bzw. raumbezogene Verhaltensweisen. Mit der »ReprĂ€sentation von Raum« verbindet LefĂšbvre die Konzeptualisierung von Raum durch Ideen, z. B. von Architekt*innen, Planer*innen oder KĂŒnstler*innen, die dem Raum eine kognitive Bedeutung und Lesart verleihen. Praxis und (Re-)PrĂ€sentation des Raumes durchdrĂ€ngen einander und wĂŒrden beeinflusst durch die gesellschaftliche Ordnung, die im Kapitalismus bspw. mit der Entfremdung des Handelns einhergehe. Den dritten Aspekt der Produktion von Raum sieht LefĂšbvre im »Raum der ReprĂ€sentationen«, womit die Bedeutung von Symbolen fĂŒr die Raumbestimmung gemeint ist. Damit verwirft LefĂšbvre das VerstĂ€ndnis von Raum als BehĂ€lter oder absolutem Raum und will die Vielgestaltigkeit und RelationalitĂ€t von Raum deutlich machen, ohne selbst einen klaren Raumbegriff anbieten zu können.
Dieter LĂ€pple (1991) griff die Diskussion um Raum in Deutschland wieder auf, indem er, im Gegensatz zu der bis dahin fĂŒr die stadtsoziologische Forschung dominierenden sozialökologisch orientierten »Kölner Schule« um JĂŒrgen Friedrichs (1977), die Verwendung von »BehĂ€lterkonzepten« kritisierte und stattdessen folgende vier Komponenten einer Raummatrix formulierte:
⹠gesellschaftliche VerhÀltnisse als materielle Erscheinungsform,
âą gesellschaftliche Interaktions- und Handlungsstrukturen,
âą institutionalisiertes und normatives Regulationssystem,
⹠rÀumliches Zeichen-, Symbol- und ReprÀsentationssystem.
Mit dieser Differenzierung machte LĂ€pple deutlich, dass Raum theoretisch rekonstruierbar und gesellschaftlich konstituiert wird, womit zwangslĂ€ufig eine VerstĂ€ndigungsnotwendigkeit ĂŒber die jeweilige Bedeutung von Raum entstehe.
Martina Löw (2001) hat den raumsoziologischen Diskurs ein Jahrzehnt spĂ€ter weitergefĂŒhrt und prĂ€zisiert, indem sie auf die Unterschiede der mit den Begriffen »BehĂ€lterraum« und »Beziehungsraum« verbundenen Konzepte hinwies. Demnach wird unter einem »BehĂ€lterraum« ein GefÀà (z. B. Saal oder Stadtteil) verstanden, das aus dem Blickwinkel von auĂen nach innen betrachtet mit GegenstĂ€nden, Menschen oder Eigenschaften (bspw. Möbel, Menschen, GerĂŒche etc. in einem Saal bzw. GebĂ€ude, StraĂen, PlĂ€tzen, Menschen und LĂ€rm in einem Stadtteil) gefĂŒllt sein kann. Beim »Beziehungsraum« wird, von innen nach auĂen betrachtet, ausgehend von den »GegenstĂ€nden« (z. B. Menschen, Aktionen, physische Körper, Organisationen, Regeln, Weltbilder) das Ergebnis der Beziehungen zwischen diesen »GegenstĂ€nden« beschrieben.
Zur Darstellung der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit der Dynamik von RĂ€umen verwendet Löw den Begriff der (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen GĂŒtern an Orten. Diese Schreibweise in Klammern soll verdeutlichen, dass RĂ€ume gleichermaĂen auf der Anordnungspraxis und auf gesellschaftlichen Ordnungen beruhen. RĂ€umliche Strukturen wĂŒrden demnach durch in RĂ€ume eingeschriebene Regeln konstituiert und durch Ressourcen gesichert. Löw schlĂ€gt vor, von einer durch die Relation zwischen Strukturen und Prozessen geprĂ€gten doppelten Konstituiertheit von Raum auszugehen. Zur Analyse von Raumkonstitutionen brauche es demzufolge Kenntnisse der »Bausteine« (soziale GĂŒter und Menschen) und deren Beziehungen untereinander. Hilfreich hierzu sei nach Löw ein Rahmenkonzept unter Verwendung eines »Raum-Zeit-Relativs«, womit im Forschungsprozess der Ausgangspunkt wahlweise auf den »Bausteinen« oder den Beziehungen liegen könne, solange beide Perspektiven einbezogen wĂŒrden. Im ersten Fall, der vorrangigen Betrachtung der Strukturen, seien fĂŒr Operationalisierungen die materielle Gestalt, das soziale Handeln, die normative Regulation und die kulturellen AusdrĂŒcke zu beachten.
Aus dem Blickwinkel des Herstellungsprozesses von Raum sind nach Löw die beiden Prozesse »Syntheseleistung« und »Spacing« zu unterscheiden. »Syntheseleistung« meint das Schaffen von RĂ€umen durch die VerknĂŒpfung der Raumelemente (soziale GĂŒter und Lebewesen) durch Menschen ĂŒber Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Imaginationsprozesse. Unter »Spacing« wird der zweite Vorgang der Konstitution von Raum, das Platzieren von sozialen GĂŒtern und Menschen und deren symbolischer Markierung, durch welche deren Zusammenspiel kenntlich gemacht wĂŒrde, verstanden. »Syntheseleistung« und »Spacing« geschehen im Alltag der Konstitution von Raum gleichzeitig. Löw geht »(analytisch) von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten« (2001: 15).
RĂ€ume sind fĂŒr Löw aufgrund der in hierarchisch organisierten Gesellschaften meist ungleichen und unterschiedlichen Bevölkerungsteile begĂŒnstigenden bzw. benachteiligenden Verteilung oft Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen.
»VerfĂŒgungsmöglichkeiten ĂŒber Geld [Ăkonomisches Kapital, wie Einkommen], Zeugnis [Kulturelles Kapital, wie Bildung], Rang [Status] und Assoziationen [Inklusion/Exklusion; Soziales Kapital] sind ausschlaggebend, um (An)Ordnungen durchsetzen zu können, so wie umgekehrt die VerfĂŒgungsmöglichkeit ĂŒber RĂ€ume zur Ressource werden kann« (Löw 2001: 272).2
Schroer (2006) verweist auf die etymologische Herkunft des Raumbegriffs von »rĂ€umen/abrĂ€umen/Platz schaffen« und erklĂ€rt damit die Bedeutung des »Raum [S]chaffens« als sozialen Prozess. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Rezeption des Begriffes konstatiert Schroer eine VerĂ€nderung von absoluten (Aristoteles, Newton, Kant) ĂŒber relativistische (Leibniz, Einstein) zu relationalen Raum-VerstĂ€ndnissen (Elias, LefĂšbvre, Löw). Schroer sieht » die besondere Bedeutung Simmels fĂŒr eine Soziologie des Raums darin, dass er sowohl die strukturelle Seite des Raums betont als auch die Hervorbringung des Raums durch menschliche AktivitĂ€ten« (2006: 78). Das Verdienst der Literaturwissenschaftler um DĂŒnne und GĂŒnzel (2006) ist es, eine interdisziplinĂ€re Ăbersicht der Theorien zu Raum erstellt und dabei eine wertvolle Sammlung von Originaltexten vom...