21 Fallgeschichten, erzÀhlt von Angehörigen und Pflegenden
Peter Kaufmann
In unseren 21 Fallgeschichten ĂŒber den FVNF berichten Angehörige, aber auch Pflegende detailliert, wie sie ein Sterbefasten aus nĂ€chster NĂ€he mitverfolgt und was sie dabei empfunden haben. Wir wollten wissen: Warum entschlieĂt sich jemand zum Sterbefasten? Welche charakterlichen Eigenschaften, welche Biografien und konkreten Erlebnisse im Bereich Krankheit â Sterben â Tod stehen hinter diesem Entschluss? Wie verlĂ€uft der Sterbeprozess bei einem völligen Verzicht auf Nahrung und FlĂŒssigkeit? Wie verlĂ€uft er, wenn noch etwas getrunken wird? Welche Komplikationen und Schwierigkeiten können sich ergeben?
Viele kennen FĂ€lle von Sterbefasten â doch oft fehlen konkrete Fakten
ErzĂ€hlt man aus gegebenem Anlass in einem kleineren oder gröĂeren Kreise etwas ĂŒbers Sterbefasten, melden sich meist einige GesprĂ€chsteilnehmer, die in der Familie oder im Freundeskreis bereits einmal von dieser Art des Sterbens gehört oder es sogar aus nĂ€chster NĂ€he mitverfolgt haben. Hier einige Beispiele, die sich beliebig vermehren lieĂen.
Von einem frĂŒheren Kollegen erfĂ€hrt man zufĂ€llig: Er ist unheilbar an einem Speiseröhrenkrebs des oberen Verdauungstrakts erkrankt und operiert worden. Er lebt nun mit erheblichen EinschrĂ€nkungen, ordnet seine VerhĂ€ltnisse und lĂ€sst sich dann in ein Hospiz aufnehmen, wo er sofort konsequent mit Essen und Trinken aufhören will, um rasch zu sterben. Ihm gefĂ€llt es im Hospiz, ĂŒber sein Smartphone erhĂ€lt er dauernd Zuspruch; er hört mit dem Trinken nicht auf â wie es weiter geht, ist nicht zu erfahren.
Ein 90-jĂ€hriger BefĂŒrworter des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und FlĂŒssigkeit (FVNF) berichtet nebenbei im GesprĂ€ch, dass zwei seiner Ă€lteren BrĂŒder durch FVNF aus dem Leben geschieden sind, als sie merkten, dass sie dement wurden; auf Details will er nicht eingehen, da es sich um seine Familie handelt.
Ein dehydrierter Ă€lterer Mann ist im Altenheim zusammengebrochen und wird in eine Klinik aufgenommen und rehydriert. Er bittet, dort den FVNF zu Ende fĂŒhren zu können, den er schon begonnen, aber geheim gehalten hatte, weil man ihm das im Heim nicht gestattet hĂ€tte. In der Klinik stöĂt er auf VerstĂ€ndnis und er darf dort sterben. Wie lange das gedauert hat und ob es Komplikationen gab, ist nicht zu erfahren. Allerdings wird uns zum Totenschein mitgeteilt, dass dort »natĂŒrlicher« Tod in Absprache mit der Staatsanwaltschaft eingetragen wurde.
Ein Journalist deutet in einem persönlichen GesprĂ€ch beilĂ€ufig auf einen Fall von FVNF hin. Auf RĂŒckfrage erfĂ€hrt man: Es war sein Schwiegervater, der einer Demenz entgehen wollte; es sei gut verlaufen, aber die Gattin mĂŒsse sich nun auch davon erholen und sei nicht zu konkreten AuskĂŒnften bereit.
Es ist leider so: Nur selten erhĂ€lt man weitere konkrete, belastbare Angaben, wenn man weitere Details erfahren möchte â oft ist das Erlebte auch nur noch bruchstĂŒckhaft im GedĂ€chtnis vorhanden. GröĂtenteils wird der Ablauf des Sterbens positiv beurteilt, nur gelegentlich als eine verstörende und selten als eine unangenehme Erfahrung geschildert â wohl vor allem mangels Kenntnissen ĂŒber den Verlauf eines Sterbeprozesses. Um das real vorkommende Sterbefasten wirklich beurteilen zu können, ist man aber auf umfassende Informationen ĂŒber die Personen, ihre Motive und die VerlĂ€ufe des Sterbeprozesses in einer gröĂeren Zahl von Beispielen angewiesen.
Wir haben leider wiederholt die Erfahrung machen mĂŒssen, dass uns ausfĂŒhrliches Material fĂŒr einen Fall zugĂ€nglich war und eine Geschichte geschrieben wurde, diese dann aber nicht veröffentlicht werden durfte, beispielsweise weil es sich die Angehörigen, die uns zuvor bereitwillig informiert hatten, es sich am Ende dann noch einmal anders ĂŒberlegt hatten. Dazu ein konkretes Beispiel: Ein in seiner Heimatstadt bekannter Mann ist nach einem Sterbefasten verstorben. Seine Angehörigen bezeichnen den Ablauf als ein «Verenden». Die recherchierte, journalistische Aufarbeitung des in der Tat sehr traurigen Falls gefĂ€llt ihnen jedoch nicht. Sie möchten lieber einen eigenen Nachruf veröffentlicht sehen, in dem jedoch das Geschehen deutlich anders dargestellt wird und etliche relevante Fakten fehlen. Das Beispiel kann daher fĂŒr dieses Buch nicht verwendet werden.
Hier noch ein weiteres Beispiel dafĂŒr, warum wir eine Fallgeschichte nicht verwenden konnten. Im Hamburger Wochenmagazin »Der Spiegel« schilderte beispielsweise eine Journalistin ausfĂŒhrlich und detailreich den langen Leidensweg eines ALS-Kranken, der sich ĂŒber FVNF informiert und so sterben möchte. Wie geht diese aufsehenerregende Geschichte weiter? Ist es eine Fallgeschichte fĂŒr uns? Hat sich der Todkranke dann tatsĂ€chlich zum Sterbefasten entschieden? Die Autorin des Artikels und der Verlag blocken unsere Anfrage ab. Zitate dĂŒrften selbstverstĂ€ndlich verwendet werden, ein Umschreiben des Textes komme nicht in Frage und weitere Informationen zu diesem Fall gĂ€be es nicht.
Seit wann wird der FVNF in der wissenschaftlichen Literatur thematisiert?
Bei den Grundrecherchen zu diesem Buch hat uns auch die Frage beschĂ€ftigt, wann die Idee des FVNF wohl zum ersten Mal in der internationalen medizinischen Fachliteratur auftauchte. Sehr wahrscheinlich lĂ€sst sich hierfĂŒr eine Publikation angeben, die auch einen Fallbericht enthĂ€lt: Robert J. Sullivan, jr. MD, MPH »Accepting Death without Artificial Nutrition or Hydration«, Journal of General Internal Medicine, Volume 8 (April) 1993. Der in dieser Publikation beschriebene »Case Report« sei im Folgenden nacherzĂ€hlt und kommentiert, auch wenn es sich nicht um ein Sterbefasten im eigentlichen Sinn handelt. Mit vielen medizinischen Details beschreibt Sullivan die Fallgeschichte einer schwer kranken Frau, die wegen eines Darmverschlusses nicht mehr essen konnte. Sie lehnte die ihr vorgeschlagenen Ă€rztlichen MaĂnahmen ab und bevorzugte es, ihr Lebensende beschleunigt herbeizufĂŒhren.
Von Jugend an erfreute sich die etwas fettleibige Frau W., wie wir sie nennen wollen, meist guter physischer wie psychischer Gesundheit. Ihre Einstellung zum Leben war bis zum 78. Lebensjahr stets positiv gewesen. Doch nun Ànderte sich ihre Situation plötzlich: Es wurde bei ihr ein Unterleibskrebs diagnostiziert; die GebÀrmutter und die Eierstöcke mussten entfernt werden. Wegen verbreiteter Metastasen waren auch Bestrahlungen nötig. Einige Zeit nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus zeigte sich ein neuer Tumor und es musste nochmals bestrahlt werden.
ZunĂ€chst schien dann alles wieder gut zu sein, doch acht Monate spĂ€ter stellte man einen Darmverschluss als SpĂ€tfolge der Bestrahlung fest (einige andere leidvolle Entwicklungen sind hier ausgelassen). Frau W. stellte nun Fragen: Kann ein Chirurg garantieren, dass es nach der operativen Behebung eines neuerlichen DĂŒnndarmverschlusses spĂ€ter zu keinem weiteren mehr kommt? Und ist irgendwann ein kĂŒnstlicher Darmausgang nötig? Weil der verantwortliche Arzt dazu keine verbindlichen Aussagen machen konnte, lehnte Frau W. â voll einsichtsfĂ€hig â die Operation und alle weiteren eventuell noch möglichen Therapien ab. Weil sie auf ihrem Entschluss beharrte, wurde sie nun in eine Pflegeeinrichtung verlegt.
Der Tod von Frau W. war nun absehbar, da sie aufgrund des Darmverschlusses keine Nahrung mehr aufnehmen konnte. Da sie auch nicht mehr trinken durfte, wurde eine intravenöse Infusion gelegt, um sie weiterhin mit FlĂŒssigkeit zu versorgen. Eine Periode der StabilitĂ€t setzte ein, die 13 Tage anhielt. Sie litt zeitweilig sehr unter WĂŒrgereiz und wiederholtem Erbrechen, was sich mittels einer Magensonde ĂŒber die Nase (nasogastrische Sonde) lindern lieĂ. FĂŒr Frau W. war dieser Zustand sehr belastend; sie wartete ungeduldig auf den Tod. Bei mehreren Gelegenheiten wurde ihr eine chirurgische Linderung ihres Darmverschlusses angeboten, doch sie blieb fest entschlossen, jede Therapie bis zu ihrem Tod abzulehnen. Zumindest fĂŒr eine begrenzte Zeit hĂ€tte sie dank der vorgeschlagenen Operation wieder essen und trinken können. Ihr Verhalten kann insofern als freiwilliger Verzicht auf Nahrung und FlĂŒssigkeit zum Zwecke des vorzeitigen Sterbens angesehen werden, nicht jedoch als Sterbefasten, weil hierbei vorausgesetzt wird, dass die Person noch essen und trinken kann (vgl. z. B. Walther & Birnbacher 2019a).
Frau W. litt in dieser Zeit so gut wie nie unter Schmerzen, doch die Infusion beeintrĂ€chtigte sie zunehmend. Am 14. Tag Ă€rgerte sie sich sehr, dass sie noch nicht gestorben war. Sie erreichte, dass die intravenöse FlĂŒssigkeitszufuhr beendet wurde und verweigerte weiterhin jede orale FlĂŒssigkeitsaufnahme. Ihren Mund befeuchtete sie nun mit Glyzerintupfern â bis zum 33. Tag, an dem sie schlieĂlich den Vorschlag des Pflegepersonals akzeptierte, EiswĂŒrfel zu lutschen. Man hatte sie nĂ€mlich endlich davon ĂŒberzeugen können, dass durch die weiterhin nötige Magensonde jede geschluckte FlĂŒssigkeit gleich wieder abgesaugt werde, so dass die Verwendung von EiswĂŒrfeln ihr Leben auch wirklich nicht verlĂ€ngern wĂŒrde.
Frau W. hatte keine Angehörigen. In ihrem Freundeskreis, der ihr die Familie ersetzte, galt sie als eine Persönlichkeit mit einer eigenen Meinung und dem Mut, ihre Ăberzeugungen auch durchzusetzen. Auch in ihrer letzten Lebenszeit erhielt sie öfters Besuche von Freundinnen und Freunden und schrieb auch noch Briefe. Sie beteiligte sich jeden Tag aktiv an ihrer Körperpflege und blieb stets bei klarem Verstand. Allerdings bat sie wiederholt darum, dass man ihr Leben durch eine tödliche Dosis Morphium beenden möge. Diese Bitte lehnte der zustĂ€ndige Arzt respektvoll, aber unnachgiebig ab. Er bot ihr aber an, Schmerzen oder Beschwerden zu lindern. Nach zwei Wochen Verzicht auf das Trinken fragte sie den Arzt, ob er ihr eine regelmĂ€Ăige »therapeutische« Dosis von BetĂ€ubungsmitteln verschreiben könne, um ihre Langeweile zu ĂŒberbrĂŒcken und besser schlafen zu können. Sie schlug vor, Bauchschmerzen vorzutĂ€uschen, um die Behandlung zu rechtfertigen. Der GroĂteil der Pflegenden, die alles unternahmen, um das Wohlbefinden von Frau W. wĂ€hrend des Sterbeprozesses zu gewĂ€hrleisten, unterstĂŒtzte diesen Vorschlag. Dies fĂŒhrte dazu, dass sie ĂŒber mehrere Tage Morphin erhielt, worauf sie spĂ€ter aber von sich aus wieder verzichtete (auf Dosierungen sowie andere MedikamentenwĂŒnsche kann hier nicht eingegangen werden).
Am 42. Tag nach Beenden der ErnĂ€hrung beziehungsweise am 29. Tag nach dem weitgehenden Verzicht auf FlĂŒssigkeitszufuhr starb Frau W. friedlich. Tags zuvor war sie sehr schlĂ€frig geworden und dann ins Koma geglitten.
Die ĂŒberaus lange Dauer des Sterbeprozesses ĂŒberraschte sowohl die Ărzte als auch das Pflegepersonal. R. Sullivan diskutiert dies in seiner Publikation anhand diverser physiologischer Gegebenheiten und bezieht frĂŒhere Erkenntnisse an Sterbenden ein â so wie man sich dies fĂŒr mögliche klinische Studien des FVNF in der Zukunft wĂŒnschen wĂŒrde. Eine wichtige Vermutung ist, dass der Körper beim totalen Nahrungsverzicht auch einige Wochen lang noch Wasser aus Fettverbrennung beziehen kann, so dass die Folgen der Dehydrierung hinausgezögert werden.
Ebenfalls 1993 wurde von zwei Ărzten und einem Medizinethiker (Bernat et al. 1993) vorgeschlagen, dass schwer Kranke mit infauster Prognose statt des damals in den USA schon debattierten Ă€rztlich-assistierten Suizides (oder gar einer Tötung auf Verlangen) das Leben durch FVNF vorzeitig beenden könnten, wenn sie dies nach reiflicher Ăberlegung wĂŒnschen. Ihre zentrale Forderung lautete, dass »[âŠ] Ărzte ihre Patienten von sich aus darĂŒber aufklĂ€ren, dass sie kĂŒnstliche ErnĂ€hrung und FlĂŒssigkeitszufuhr ablehnen dĂŒrfen und dass Ărzte ihnen dabei helfen, dies auf eine Weise zu machen, die ihnen [damit einhergehendes, P. K.] Leiden minimiert [âŠ]» Damals stand noch das BemĂŒhen im Vordergrund, zu belegen, dass solch ein Leiden ohnehin gering sei.
Eine weitere frĂŒhe Fallgeschichte
Erst etwas spĂ€ter (vgl. z. B. Byock 1995) erfolgte der Schritt hin zur Idee des Sterbefastens, also dem Vorschlag, dass auch weniger schwer kranke Menschen, die noch selbstĂ€ndig essen und trinken können, damit aufhören können, um vorzeitig zu sterben. Ira Byock erwĂ€hnt in seinem Beitrag nicht nur am Ende den Fall Sullivan, sondern er referiert auch einen Bericht von einer Frau aus Vermont, die eigentlich ihr Leben durch steigende Einnahmen von Morphin hĂ€tte beenden wollen, dann aber â weil dies fĂŒr sie nicht möglich war â Essen und Trinken einstellte und nach sechs Tagen friedlich verstarb. Es ist nicht auszuschlieĂen, dass sie wĂ€hrend dieser Zeit immer wieder Morphin erhalten hatte, damit ihr dieser Weg nicht zu schwerfiel. Wahrscheinlich ist dies der erste Bericht ĂŒber Sterbefasten in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Daher soll er im Folgenden noch kurz nacherzĂ€hlt werden.
Den Entschluss seiner Mutter zum Sterben und zum Sterbefasten beschrieb der Arzt David M. Eddy 1994 im sehr persönlich gehaltenen Beitrag »A Piece of My Mind. A conversation with my mother« in der weltweit am meisten verbreiteten medizinischen Fachzeitschrift »JAMA â Journal of the American Medical Association« (20. Juli 1994 â Vol 272, No. 3).
Virginia Eddy lebte in Middlebury, Vermont, und war trotz ihrer 84 Jahre »sehr unabhĂ€ngig, selbstĂ€ndig und sehr zufrieden«. Sie war die Witwe eines Arztes, las gerne dicke BĂŒcher, legte Wort-Puzzles oder sah im Fernsehen Nachrichten und Sport. Zweimal tĂ€glich verlieĂ sie das Haus, um Besorgungen zu machen. Gerne erinnerte sie sich an frĂŒher, an ihre Afrika-Reisen mit 70 oder wie sie mit 82 Jahren das Kentern eines FloĂes im Wyomingâs Snake River ĂŒberlebt hatte.
Ein halbes Jahr spĂ€ter war alles völlig anders. Eine akute EntzĂŒndung der Gallenblase machte ihr zu schaffen. Gallensteine wurden diagnostiziert und die Gallenblase musste entfernt werden. Sechs Wochen nach der Operation hatte sie schweren Durchfall und in der Folge einen schmerzhaften, chronischen Mastdarmvorfall (Prolaps) von acht Zentimetern, der bei jedem Husten wieder herauskam. Antibiotika waren nötig, ein Pilzbefall der Mundhöhle verhinderte die Nahrungszufuhr, in ihrer Brust fand sie einen Knoten und ein Herzflimmern setzte ihr zu. Es gab weitere starke physische Beschwerden, die hier nicht detailliert aufgezĂ€hlt werden sollen.
Virginia hatte depressive Gedanken, und weil die LebensqualitĂ€t fĂŒr sie »unter Null gefallen sei«, beschĂ€ftigte sie sich nun intensiv mit dem Sinn ihres Lebens: »Ich weiĂ, dass sie mich noch lange am Leben erhalten können. Aber wenn jedes VergnĂŒgen vorbei ist und es immer Richtung unten geht, warum sollte ich dann so weiterleben bis ich durch Krebs, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlöst werde? Das könnte Jahre dauern. Ich verstehe, dass einige Leute bis zum Ende durchh...