1. Das böse Kind
Schon früh deuteten christliche Gelehrte die Zahl des Tieres auf das römische Imperium und so fand der „Kirchenvater“ Irenäus (gest. um 200 n.a.Z.), dass auf Griechisch geschrieben der Begriff λατεινος (lateinos) den Wert 666 ergibt. Noch im Jahr 1838 schreibt dazu der einflussreiche katholische Gelehrte Franz Allioli in seinem umfangreichen Bibelkommentar: „Nach dem Zusammenhang hat diese Deutung die größte Wahrscheinlichkeit, und so wäre unter dem Thiere das mächtige römische Reich - Latium, die Lateiner - bezeichnet, wie dieses auch unter den übrigen Bildern des Thieres kenntlich und deutlich hervortritt.”12 In dieser „Erklärung” fehlt ein Beleg dafür, dass die Römer zur Zeit des Apokalyptikers in besonderer Weise als Einwohner „Latiums“ betrachtet wurden. Zudem wurde Latium griechisch regulär als Λατινη (Latine) geschrieben, wohingegen man die Bewohner von Latium Λατινος (Latinos) nannte. Letzteres ergibt aber nicht den gewünschten Zahlenwert 666, sondern eben nur 661. Ein weiterer Nachteil der irenäischen Deutung besteht darin, dass sie das vorgegebene Kriterium „Zahl eines Menschen” unbeachtet lässt. Aber leider berichtet keine historische oder religiöse Schrift von einer Person die als „Lateinos” bekannt geworden wäre. Um diesen Mangel auszugleichen, fehlte es dann nicht an Versuchen, römische Kaiser wie Julian „Apostatus” als das Tier 666 zu „berechnen“.13 Als weitere Lösung gab Irenäus auch den erfundenen „Namen” ευανθας (eu’anthas) an, dessen Buchstaben sich nun zwar auf den Wert 666 summieren, jedoch blieb er eine Erklärung schuldig, was das denn nun überhaupt besagen soll.
Unbestrittener Favorit und bis heute mit Abstand am häufigsten im Zusammenhang mit der 666 genannt ist der römische Kaiser Nero, den man sich ohne Peter Ustinov vor Augen kaum noch vorstellen kann. Als personifizierten Bösewicht wurde ihm der „Brand Roms“ und die darauf folgende angebliche „Christenverfolgung” angelastet. In jüngster Zeit tendiert die Forschung jedoch dazu, den „Paradefall des Erzschurken” zumindest von einigen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entlasten, zumal es fraglich wäre, warum Nero im Umfeld des jüdisch-römischen Krieges offenkundig Rom-treue „Christen“, nicht aber Juden hätte verfolgen lassen sollen.
Wie das obige Beispiel Julians zeigt, ist es keineswegs einfach, die Namen römischen Herrscher wiederzugeben, zumal diese ihren Zeitgenossen nicht zwangsläufig unter den Kurznamen geläufig waren, auf die sich die Nachwelt wohl aus Gründen der Bequemlichkeit festgelegt hat. Ein paar Beispiele authentischer (und damit üblicherweise) griechischer Namensnennungen verdeutlichen die Problematik:
Der uns heute als „Kaiser Augustus” geläufige Herrscher hieß „Kαισαρ θεος Σεβαστός Θεου υιος” (kaisar theos sebastos te’u hyios), d. h. er wurde als „Caesar Gott Augustus14 Sohn Gottes” bezeichnet. Mit der Adoption durch Gaius Julius Caesar nahm der als Gaius Octavian15 geborene Sohn des Prätors Octavian den Namen Caesars an: „Gaius Julius Caesar Augustus”. Den Beinamen Octavian führte er allem Anschein nach nicht. Er wurde auch von seinen Gefolgsleuten nie gebraucht, findet sich aber in den Schriften Ciceros, der ihn später allerdings nur noch Gaius Caesar nennt. Ab dem Jahr 40 v.a.Z. nennt sich der „junge Caesar” selbst nunmehr ”Imperator Caesar Divi Filius”, seit dem 16. Januar 27 v.a.Z. aber lautete sein offizieller römischer Herrschername: „Imperator Caesar Divi Filius Augustus”. Einen Monat nach seinem Tod am 19. August 14 n.a.Z. „vergöttlichte“ ihn der römische Senat, wie schon zuvor seinen Adoptivvater Julius Caesar, und nannte ihn „Divus Augustus”. Woran sollten wir uns nun orientieren, wenn wir versuchen wollten, den Zahlenwert seines Namens zu berechnen?
Das selbe Problem - der Überfluss an Namen und häufig wechselnde Namen - begegnet uns faktisch bei fast allen römischen Herrschern die lange genug im Amt waren und so selbstverständlich auch bei Nero. Für ihn ist offiziell belegt: „Νερον Κλαvδιος Καισαρ Σεβαστoς Γερμανικoς Αυτοκρατορ Θεος” (= neron klaudios kaisar sebastos germanikos autokrator theos).16 Zusammengerechnet ergibt das nach der griechischen Zählweise den Wert 5195. An welchen Stellen müsste man also mit der Schere ansetzen, wenn man den Namen unbedingt auf den Wert 666 reduzieren wollte? In der üblichen griech. Schreibweise ergibt aber bereits Nερών (neron) 1005.
Um diesem Problem zu entgehen, wichen einige auf das hebräische
Alefbet aus und fand damit eine Lösung: Die Schreibweise
(
neron = 50+6+200+50 und
kesar = 200+60+100)
17 addiert sich auch tatsächlich zu der Summe
666.
18 Den ersten Einwand, den wir gegen diesen Lösungsvorschlag (dessen Urheber wohl nicht mehr zu ermitteln ist) erheben können, weist darauf hin, dass beide Wörter mit den historisch belegten hebräischen Schreibweisen, wie wir sie beispielsweise aus der rabbinischen Literatur kennen, leider
nicht übereinstimmen:
(neron, 316),
(kesar, 370).
19 Beide Begriffe müssten sich in ihrer regulären Schreibweisen mit dem Buchstaben „Jud” zusammengenommen eigentlich die Summe 686 ergeben. Auch wenn es theoretisch durchaus vorstellbar ist, dass sowohl „neron” als auch „kesar” in einzelnen Fällen auch ohne „Jud” geschrieben wurden
20, bliebe dennoch die Frage, womit diese abweichende, ansonsten nichtbelegte
Schreibweisen begründet werden sollen? Neben den vergleichsweise geringfügigen Problem der Schreibweise gibt es jedoch noch einen weitaus gewichtigeren Einwand, der die Formel „Neron Kesar” als Lösung für das Rätsel der 666 mit großer Gewissheit ausschließt. Um dies zu erläutern, müssen wir uns etwas mit der römischen Namensgebung befassen. Die freien römischen Bürger besaßen seit etwa dem dritten Jahrhundert v.a.Z. in aller Regel die sog.
tri nomina: 1. das Praenomen(= Vornamen)
2. das Nomen Gentile (= Name der Gens, Sippe)
3. das Cognomen(= Beinamen, meist zur Bezeichnung einer Linie der Familie)
Die Vornamen, von denen es nur 18 gab und welchen nur wenige21 gebräuchlich waren, spielten eine sehr geringe Rolle und dienten in der Regel auch nicht zur persönlichen Anrede. Das Nomen Gentile entspricht etwa unseren Familiennamen. Das Cognomen ging ursprünglich auf Spott- oder wie wir heute sagen würden „Spitznamen” zurück. Der römische Kaiser Gaius ist uns heute vorallem über seinen Beinamen „Caligula” („Stiefelchen“) bekannt, der anfängliche Freund und Verbündete und spätere Mörder des Julius Caesars Marcus Junius durch seinen Spitznamen „Brutus” (Dummkopf), der schon einem sich dumm stellenden Vorfahren angehängt wurde. Bei Adoptionen, die bei „Adeligen“ häufiger vorkamen, übernahm der Adoptierte den Gentilnamen, trug aber in der Regel den früheren Eigennamen mit dem Suffix -ianus weiter (siehe beispielsweise Gaius Julius Caesar Octavianus = Augustus). Caesar, der vielleicht berühmteste Name der Antike, war ursprünglich ein eben solches Cognomen, ein Beiname zur genaueren Bezeichnung einer Seitenlinie der römischen Adelsfamilie der Julier.22 Mit seiner Adoption durch Julius Caesar ging der Cognomen Caesar auch über auf Octavian, den späteren „KaiserAugustus“. Unter Claudius (41-54 n.a.Z.) und Nero (54-68) wurde Caesar zum festen Bestandteil der Herrschernamen, jedoch war es Galba, der erstmals an seinen Adoptivsohn Lucius Calpurnius Piso Frugi Licinianus im Januar 69 den Namen Caesar einem nicht wenigstens weitverzweigten Verwandten verlieh.23 Damit wurde der Name Caesar nun zur Bezeichnung des Thronfolgers, d.h. zur Vorstufe des Augustus-Titels, der den tatsächlichen Herrscher bezeichnete und ihm vorbehalten blieb. Erst seit Mark Aurel (161-180) wurde der Augustus-Titel auch schon zu Lebzeiten des Herrschers dem Thronfolger verliehen. Unter Diocletian (284-305) wurden die Caesaren weitgehend selbstständige Teilherrscher.24 Erst ab dieser Zeit verdrängte der Caesar-Titel den des Augustus als eigentlichen Herrschertitel früherer Jahrhunderte und führte so zu unserer heutigen Bezeichnung „Kaiser” oder zum russischen „Zar”. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun das Faktum, dass in der Epoche, in welcher die Apokalypse des Johannes verfasst worden sein soll - und dies geschah nach allgemeiner Ansicht vor Mark Aurel - der Name Caesar noch weit davon entfernt war der Herrschertitel zu sein. „Neron Kesar” könnte allenfalls, wenn man darauf besteht, den Thronfolger Nero bezeichnet haben (doch ist auch dies aus den genannten Gründen nicht allzu wahrscheinlich). Würde eine solche Benennung aber überhaupt einen Sinn ergeben? Nero wurde nun am 15. Dezember des Jahres 37 n.a.Z. als Sohn des Domitius Ahernorbarbus und der Julia Agrippina als Lucius Domitius Ahernorbarbus in Antium geboren.25 Am 25. Februar 50 wurde er von Claudius26 adoptiert und erhielt dadurch dessen Namen Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus oder aber auch Tiberius Claudius Nero Caesar. Der angesehene Lucius Annaeus Seneca wurde sein Erzieher und Lehrer und mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, den Thronfolger auf das künftige Herrscheramt vorzubereiten. Als Claudius jedoch am 13. Oktober 54 völlig überraschend an einer „Pilzvergiftung” verstarb wurde der bisherige Caesar Nero noch am selben Tag als neuer Augustus proklamiert und hieß fortan: Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus. Caesar, d.h. Thronfolger war Nero vom Tag seiner Adoption bis zum Tod seines Adoptivvaters Claudius, also vom 25. Februar 50 bis zum 13.10.54 n.a.Z., oder anders formuliert: als „Ner...