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2-1-0, KLAPPE!
Die Videohelden von Spyrowood-Hills
Spyros Maltesos hat in Italien studiert. Doch seine Heimat Griechenland wollte er nicht für immer verlassen. Obwohl die Krise ihm und seiner gesamten Familie das Leben alles andere als leicht gemacht hat, sprüht Spyros vor Energie. Er lässt sich nicht unterkriegen. Und mehr als einmal habe ich zu ihm gesagt: »Spyro, eines Tages holst du den Oscar nach Athen!« Er lachte jedes Mal und verriet mir damals, dass er Fan eines Zitates von Walt Disney sei: »Es macht Spaß, das Unmögliche zu tun.«
Spyros Mutter erinnert sich, dass er schon als kleiner Junge nie die Videokamera aus der Hand gelegt hat: »Als er sieben Jahre alt war, hat mein Mann ihm seine Videokamera geschenkt. Seitdem filmt er ununterbrochen.«
In seinem Heimatdorf auf der Vulkanhalbinsel Méthana kennen alle den sympathischen und gutaussehenden jungen Mann, der sich schon für die Inseljugend engagierte, einen Verein gründete und viele Fotos und Videos für deren Facebook-Auftritt beisteuerte. Für Méthana war es ein Verlust, als er 2007 nach Bologna ging, um an der dortigen DAMS-Universität (Drama, Art and Music Studies) zu studieren. Der Studiengang wurde einst von Umberto Eco initiiert. In den 1970er Jahren. Und auf den Spuren dieses Genies studierte nun Spyros, über 30 Jahre später. Von 2007 bis 2012 belegte er den Studiengang »Sciences and Technologies of Visual Arts, Music, Entertainment and Fashion« mit dem Schwerpunkt Medien und Kino. Nach dem erfolgreichen Abschluss pendelte er noch häufig zwischen seiner Heimat und Italien, bevor er 2015 endgültig nach Griechenland zurückkehrte. In den Jahren seines Studiums unterstützten ihn seine Eltern, wo es nur ging. Die ganze Verwandtschaft ist stolz auf den smarten Jungen mit der Kamera, der schließlich sein Spielzeug zum Beruf machte. »Er wollte immer schon nur Videos machen. Und ich glaube, er hat die Kamera jeden Tag in der Hand gehabt«, sagt Spyros Mutter.
Mehrfach hatte ich Spyros und seine Eltern auf Méthana getroffen. Als er Anfang 2017 in Athen das »Project210« ins Leben rief, beschloss ich, ihn auch dort zu besuchen. Ich wollte mir vor Ort ein Bild davon machen, was genau es mit diesem Projekt auf sich hat. Der Projektname ist eine Anspielung auf die Telefonvorwahl 210 der griechischen Hauptstadt. Spyros und seine Freunde haben jedoch weder eine Telefonhotline gegründet, noch ein Callcenter eröffnet. Stattdessen spielt natürlich seine Kamera die Hauptrolle.
An einem sonnigen Wintermorgen mache ich mich auf zum vereinbarten Treffpunkt. Am Herodeon, dem Odeon des Herodes Atticus, einem antiken Theater am Fuße des Akropolis-Felsens in Athen, soll heute gedreht werden. Die Sonne lässt den Hügel, auf dem hoch oben erhaben der Parthenon-Tempel für die Stadtgöttin Pallas Athene thront, in einem satten goldenen Morgenlicht erstrahlen. Das perfekte Licht für einen aufstrebenden Filmemacher, denke ich bei mir, als ich über die kopfsteingepflasterte Dionysiou-Areopagitou-Straße in Richtung des Herodeon schlendere. Die Dezemberluft ist lau, die Sonne weiterhin kräftig und der tiefblaue Himmel lässt sogar einen Hauch von Sommer durch die Athener Gassen und die kurzen Hosen einiger britischer Touristen wehen, die auf dem Weg zur Akropolis sind.
Das Herodeon-Theater wurde der Stadt Athen von seinem Namensgeber Herodes Atticus im Jahr 161 n. Chr. geschenkt. Es gilt als das älteste erhaltene Odeon überhaupt. In dem offenen Theater, das 5000 Zuschauer fasst, finden auch heute noch regelmäßig herausragende Kulturveranstaltungen statt. Ein Highlight ist das jährliche »Athen & Epidauros«-Festival, das in den Sommermonaten Zuschauer aus der ganzen Welt anlockt. Dann finden hier Theateraufführungen, Tanzveranstaltungen und Konzerte statt. Hier haben schon die ganz Großen gesungen: Míkis Theodorákis, Luciano Pavarotti, Frank Sinatra, Nána Moúskouri, Liza Minnelli, Maria Callas, María Farantoúri, Imani oder Sting, um nur einige zu nennen. An diesem geschichtsträchtigen Ort bin ich also mit Spyros, meinem Oscar-Kandidaten, verabredet. Er trifft sich heute hier mit George Perris zum Videodreh. Der Singer und Songwriter Perris wurde 1983 in Athen geboren und hat schon mit den Großen der griechischen Musik zusammengearbeitet. Mehrere eigene Alben hat er veröffentlicht und ist auf der ganzen Welt getourt. Ich freue mich, den »Griechischen Michael Bublé«, wie ihn die Medien gelegentlich bezeichnen, kennen zu lernen.
2-1-0: Mein Telefon klingelt, als ich in der Nähe des Herodeons bin. Spyros ist dran. Unser Dreh muss spontan abgesagt werden. Der für heute kurzfristig anberaumte Generalstreik trifft auch das Kamerateam vom »Project210«. Das Herodeon ist verriegelt und niemand da, der Einlass gewähren könnte.
»Komm wir treffen uns in Monastiráki. Das Wetter ist gut, trinken wir einen Kaffee in der Sonne«, schlägt Spyros vor. »Kennst du den Agias-Irinis-Platz? Da treffen wir uns oft mit unserem Team und besprechen die nächsten Projekte.«
»Ja, das finde ich. Dann bis gleich!« Ich lege auf und schlendere gemütlich weiter, lasse das Herodeon rechts liegen und folge der Apostólou-Pávlou-Straße, die sich ihren Weg um die antiken Ausgrabungen sucht und dabei zahlreichen Künstlern und fliegenden Händlern einen bühnenartigen Platz bietet, an denen sie ihre Arbeiten und Waren präsentieren können. Von handgemachtem Schmuck über Taschen, Geldbeutel, Lederwaren, Kinderspielzeug, bis hin zu Küchenmessern und Haushaltsgeräten wird hier fast alles feilgeboten. Dazu finden sich allerlei Knabbereien von Pistazien bis Sonnenblumenkerne und natürlich Salépi, das im Winter sehr beliebte traditionsreiche Milch-Gewürzgetränk, das in großen bronzenen Samowaren gekocht wird, die an riesige orientalische Ölkannen erinnern.
Von Thisseío aus spaziere ich an der antiken Agráa entlang, bis ich auf die Ermoú-Straße treffe, von wo aus es nur noch einen Katzensprung bis zum Treffpunkt mit Spyros ist. Angesichts des Generalstreiks ist der Agias-Irinis-Platz heute noch voller als sonst ohnehin schon. Und der kleine Blumenladen inmitten des Platzes schmückt diesen streikbedingten Feiertag. Bunte Weihnachtsbaumdekorationen glänzen ebenso in der warmen Wintersonne wie viele bunte Schnittblumen und Pflanzen in Töpfen. In den Straßencafés sitzen die jungen Leute in T-Shirts oder dünnen Pullovern in der Sonne. Im »Tailor Made« wird gerade ein Tisch frei und ich setze mich rasch in den Sonnenschein am Straßenrand mit Blick auf die Blumen und die angrenzende kleine Kirche. Rund um das Gotteshaus, nachdem der Agias-Irinis-Platz seinen Namen hat, reiht sich ein Café an das nächste, doch freie Sitzplätze sind ebenso wenig zu sehen wie Filmemacher Spyros. Ich bin froh, dass ich den letzten freien Tisch erhascht habe.
2-1-0: Mein Mobiltelefon piept und ich lese eine Nachricht von Spyros. Er verspätet sich um wenige Minuten, ich solle schon mal versuchen, einen Platz zu finden. Kein Problem, antworte ich ihm in einer schnellen Nachricht. »Ich sitze schon und bestelle mir gleich einen Kaffee-Frappé.« Als ich das Telefon auf den Tisch lege, steht auch schon ein junger, dreitagebärtiger Hipster mit einem Tablett und einer kreativ gestalteten Getränkekarte in den Händen vor mir und fragt, was er mir bringen darf. »Einen Frappé, bitte!«, bestelle ich mein griechisches Lieblingsgetränk. »Mittelsüß mit Milch.« So, wie ich ihn seit fast 25 Jahren am liebsten mag. Damals, vor mehr als zwei Jahrzehnten, tranken fast ausschließlich die jungen Leute Frappé, die alten Männer tranken ihren Mokka aus kleinen Tässchen. Mit der Zeit hat sich der Frappé überall und generationenübergreifend etabliert, auch, wenn der traditionelle griechische Kaffee, der Mokka, natürlich nach wie vor das beliebteste Getränk im Dorfkafeneíon bleibt.
»Frappé haben wir leider nicht«, sagt der etwa 20-jährige Kellner, streckt mir die Karte entgegen und zählt dabei auf, was es hier zu trinken gibt: Espresso, Cold brewed coffee, Cappuccino, Freddo, Filterkaffee usw. Viele der Kaffees in der hauseigenen Mikrorösterei selbst geröstet.
»Ok, dann nehme ich einen Cappuccino Freddo«, sage ich schnell, und reihe mich mit meinem Getränk in die Alterskategorie der heute 15 bis 20-Jährigen ein. Spyros erscheint zeitgleich mit meinem Kaffee. Er bestellt einen »Flat white« auf Espressobasis aus der hauseigenen Röstung und dann begrüßen wir uns herzlich mit einer langen Umarmung. Wir hatten uns einige Monate nicht gesehen und nun sitzen wir endlich in Athen zusammen.
»Hier ist ein typischer Treffpunkt der Kreativszene«, sagt Spyros und ergänzt: »Mit unserem Filmteam sind wir oft hier und denken über neue Ideen nach.«
»Wie läuft es mit dem ›Project210‹?«, frage ich.
»Seit ich die Idee hatte und wir Anfang 2017 gestartet sind, läuft es jeden Monat besser«, sagt Spyros und strahlt stolz. Seine Idee, mit kleinen Reportage-Videos über Prominente, Künstler und interessante Leute aus Athen die Stadt besser zu vermarkten, hatte er einer kleinen Agentur angeboten. Diese hat ihn daraufhin sofort als Kreativdirektor angestellt, und er ist dort nun zuständig für »sein« Projekt.
Die Filmchen bezeichnet er als Dokumentationen des Alltäglichen. »Unsere Projekt-Videos sind reine Interviews, ganz ohne musikalische Untermalung. Der Betrachter soll sich in die Stadt hineinfühlen können. Du siehst das Interview, hörst die natürlichen Umgebungsgeräusche und bist so mitten drin im Geschehen. Wir verzichten ganz bewusst auf Filmmusik.« Man sieht Spyros an, dass er diesen Job liebt. Und er macht ihn großartig.
Das Projektteam besteht im Kern aus vier Personen, deren kreativer Vordenker Spyros ist. Hinzu kommen Studenten, die als Assistenten, Kameraleute, Beleuchter und ähnliches das Kreativteam unterstützen. Schon in seinem ersten Jahr hat sich »Project210« zu einer kleinen Marke etabliert. Auf rund 50 Interviews mit Künstlern, Musikern, Schauspielern und Gewerbetreibenden aus der Stadt kann Spyros inzwischen zurückblicken.
»Wir glauben, es gibt keine bessere Möglichkeit, eine Stadt und seine Menschen kennenzulernen als durch den Blick seiner Bewohner selbst. Es ist eine Art audiovisuelle Kartografie. So lassen wir die Menschen ihre Stadt selber vorstellen!« In den kurzen 3-Minuten-Videos kommen meist junge Leute zu Wort. Aufstrebende Musiker, Newcomer, Start-Up-Unternehmer. Authentisch schildern sie in den Videos ihr Leben in der Stadt, was sie tun oder noch tun wollen. Gerade der spezielle Fokus der jungen Filmemacher lässt Hoffnungen wachsen.
»Wir interviewen Leute, die tun, was ihnen Spaß macht. Die ihren Job lieben.« Damit geben sie auch den jungen Leuten Hoffnung, die durch die Krise schon oft als die »verlorene Generation« bezeichnet wurden. In der Krise liegt auch eine Chance, das zeigen die Videos eindrucksvoll. Und Spyros ist sich sogar sicher, dass es heute einfacher geworden ist, mit guten Ideen etwas zu erreichen. »Früher brauchtest du entweder viel Geld oder gute Beziehungen. Heute kannst du mit richtig guten Ideen etwas erreichen«, sagt Spyros. Er und seine kreativen Köpfe lieben ihren Job und sie haben ständig neue Ideen.
»Wir starten gerade eine Reihe, die wir ›Die Straßen der Stadt‹ nennen.« Spyros deutet nach rechts und links, entlang der Gassen des Agias-Irinis-Platzes.
»In den kurzen Videos porträtieren wir die wichtigsten Straßen der Stadt«, ergänzt er. Es sind geschickt verknüpfte, aneinandergereihte Eindrücke eines Spaziergangs die gesamte Straße entlang. Am Beispiel der Athinás-Straße, die nur wenige Meter von unserem Café entfernt verläuft, erläutert Spyros die Idee: »Wir zeigen die Stadt, so wie sie ist. Ungeschminkt und authentisch. Wenn sich jemand das Video ansieht, fühlt er sich versetzt in die jeweilige Gegend.« Bei der Athinás-Straße geht es vom quirligen Omonia-Platz bis nach Monastiráki. Man sieht Uhrenverkäufer, die bunten Lotteriescheine an den zahlreichen Kiosken, den Peripteros, Vögel, die rund um die Markthalle in Käfigen zum Kauf angeboten werden, Touristen, die sich im Gedränge für einen Rempler entschuldigen, Instrumente, die auf der Straße verkauft werden oder alte Männer, die ihre Korbwaren feilbieten. Mit den Videos soll dem Betrachter eine echte Live-Perspektive verschafft werden. Ideal für Athen-Besucher oder solche, die sich über eine bestimmte Gegend der Stadt informieren wollen. Ein moderner Video-Stadtrundgang.
Auf meinem Mobiltelefon sehe ich mir die Straße an, die von Spyros und seinem Team in 45 Sekunden als erste porträtiert wurde: die Aiólou-Straße. Sie verläuft direkt vor den Türen der Filmemacherschmiede und vorbei am Agias-Irinis-Platz, auf dem ich mit Spyros sitze. Vom Omonia-Platz verläuft sie parallel zur Athinás-Straße bis hinunter zur Römischen Agorá. Die Aiólou ähnelt aber nur teilweise der Athinás, denn hier wechseln sich ruhige und hektische Abschnitte im Straßenverlauf ab. Fußgängerzonen verleiten zum entspannten Bummeln, während auf den für den röhrenden Athener Straßenverkehr freigegebenen Teilstücken ein lärmendes Chaos herrscht. Im Bereich der antiken Ausgrabungen ist es touristisch lebhaft und Straßenmusiker spielen auf ihren Akkordeons. Je weiter man in Richtung Omonia schlendert, desto uriger wird es. In die Jahre gekommene Barbiergeschäfte, gemütliche Straßencafés und stark frequentierte Kioske sorgen für ein vielstimmiges Durcheinander. Autos hupen, Tauben flattern und irgendwo klappert ein Salépi-Topf. Mopeds knattern an allen Ecken und dazwischen sitzen alte Männer in Kafeneíons und Tavernen an kleinen Tischchen auf dem Gehweg und lassen sich von den Straßenmusikern berieseln, die auf ihren Geigen, Trompeten, Gitarren, Tamburinen oder ausgedienten Töpfen spielen. Das Video gleicht einem belebten Wimmelbild. Überall gibt es zahllose Dinge zu entdecken. Es ist diese Lebendigkeit der Stadt, die Spyros so liebt. »Athen ist wie eine Theaterbühne«, sagt er. »So wie sich das Licht ändert, ändert sich auch die Szenerie. Und es gibt hier unzählige Bühnenbilder. Wir haben etwas, wofür uns viele Städte in Europa beneiden: die Vielgestaltigkeit.«
Auf dem Handy läuft noch einmal der Spaziergang über die Aiólou. Spyros blickt zufrieden aufs Display und sagt: »Als Straße gefällt mir am meisten die Dionysiou Areopagitou. Aber Videos drehe ich am liebsten auf den Plätzen im Zentrum. Dort, wo es Bäume gibt, Autos und viele Menschen, die für ein lebendiges Durcheinander sorgen.« Spyros lächelt zufrieden im Getümmel des Agias-Irinis-Platzes. Er hat ein Gespür für die richtigen Ecken seiner Stadt, die er für seine Videos perfekt zu inszenieren weiß.
Ob enge Gassen, breite Boulevards oder Ausgrabungsstätten, Athen hat ein einzigartiges Potential für Spyros Videokunst. Noch verdient er nicht viel mit seiner Arbeit, kommt gerade so über die Runden, aber er hat sich mit seinem Projekt ein stabiles erstes Standbein und einen Namen geschaffen. Jetz...