1. Einführung
Vom Gefühl, allein gelassen zu werden und dem Weg heraus
Als Frau G. die Rasierklinge in der Hose ihrer Tochter Sarah fand, da ahnte sie, was bald Gewissheit wurde: ihre 17-jährige Tochter ritzt sich. Die hinzugezogene Kinder- und Jugendlichenpsychologin stellte bei Sarah neben dem selbstverletzenden Verhalten weitere Symptome für eine emotionale Instabilität fest und diagnostizierte eine beginnende Borderline-Persönlichkeits-Entwicklungs-Störung (BPS). In Deutschland teilt Sarah dieses Persönlichkeitsmuster mit geschätzten fünf von hundert Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Ach, hätten wir das doch früher gewusst! Wie viel Leid wäre unserer Familie erspart geblieben!
Eine Mutter – Seminarteilnehmerin
Wie diese Mutter fühlen sich viele betroffene Eltern allein gelassen. Manchmal vom eigenen Partner, von ihrer Familie, ihren Freunden, den Schulen, vom Staat, vom Rest der Welt. Der Glaube daran, als Familie die notwendigen Kompetenzen zu besitzen, ist ihnen verloren gegangen.
Allen ist jedoch eines gemeinsam: ich begegne ihnen an einem Ort tiefer Hilflosigkeit. Es fällt ihnen schwer, ihre zermürbenden Auseinandersetzungen mit ihren Kindern klar zu beschreiben. Häufig berichten sie von jahrelangen Kämpfen, in denen sich alle als Verlierer empfinden. Aber worum kämpfen sie?
Sie kämpfen darum, für ihr Kind eine liebevolle Mutter (ein guter Vater) sein zu können.
Sie kämpfen darum, ihre liebevollen Elterngefühle in liebevolles Handeln umzuwandeln.
Sie wollen für ihr Kind wertvoll und wirksam sein, auch in schwierigen Zeiten.
Finden Sie sich in diesen Worten wieder? Dann gilt als erstes:
Hören Sie sofort auf gegen Ihr Kind zu kämpfen!
Solange Ihr Zusammenleben als Kampf erlebt wird, können Sie sicher sein, dass Sie alle Verlierer sein werden. Sie und Ihr Kind! Sie bewegen sich noch in die falsche Richtung!
Es gibt nur einen Kampf, der sich lohnt: ein gemeinsamer Kampf. Ein gemeinsames Ringen darum, verstehen zu wollen, akzeptieren zu lernen, annehmen und lassen zu können…
Es braucht Mut, sich den eigenen unangenehmen Realitäten zu stellen. Bitte, haben Sie keine Angst davor, trauen Sie sich! Es ist nämlich längst kein Geheimnis mehr: wir alle haben Angst.
Lernen Sie, sich selbst zu verzeihen. Das macht Sie zu wirklich echten Eltern, die auch im emotionalen Familien-Chaos glaubwürdig bleiben; als Eltern, die ihre Haltung und Kraft bewahren.
Das gelingt manchmal vor allem durch die Unterstützung von selbst gegründeten Elterngemeinschaften, durch unterstützende Freundschaften, als Elternpaare oder auch zwischen verschiedenen Alleinerziehenden. Sie alle können sich gegenseitig halten, wenn es in der Familie mal wieder kriselt.
Erinnern Sie sich immer wieder daran, dass die inneren Kräfte der Familie den stärksten Einfluss auf die Familienmitglieder haben. Und daran, dass Familien durchaus auch andere Familien brauchen, um sich gegenseitig stärken zu können. Bauen Sie sich also Ihr persönliches ‚Indianerdorf’.
Wahrscheinlich haben Sie lernen müssen, dass es nicht ausreicht, ein Kind zu lieben. Es muss sich auch geliebt fühlen. Eine Kampfsituation ließe sich auch so deuten, dass sich ein Kind z.B. überfordert, orientierungslos, hilflos, allein gelassen fühlt. Das wiederum kann in ihm Wut, Ohnmachtsgefühle und Aggressionen gegen Sie als Eltern auslösen.
Gute Eltern zu sein, ist wirklich nicht leicht. Es ist eine endlose Suche, das immerwährende Bemühen nach Worten, Taten, Gesten, mit denen Sie Ihrem Kind Ihre Liebe und Verbundenheit signalisieren können und sollten. Es gelingt mal mehr, mal weniger. Niemals immer.
Die besten Eltern machen jeden Tag ca. 20 Fehler
Jesper Juul 2010
Heutzutage haben wir sehr große Ansprüche an unsere Elternschaft. Aber Eltern zu sein, war noch nie einfach. Verantwortung für die geistige und körperliche Entwicklung ein neues Menschenlebens zu tragen, zählt zu den wertvollsten Lebensaufgaben. Eltern können einen großen Teil dazu beitragen. Doch sollten sich Eltern auch klarmachen, dass sich jedes Kind bereits von Geburt an aktiv ins Familiengeschehen mit einbringt.
Sicherlich hatten Sie als Eltern konkrete Vorstellungen über Ihr zukünftiges Familienleben. Sie hatten es sich so schön vorgestellt: eine sich liebende Familie. Doch es kam anders. Trotz aller guten Vorsätze gelingt es Ihnen nicht immer, Ihrem Kind geduldig und liebevoll zu begegnen. Vielleicht haben Sie langsam erkennen können, dass zu einem gelingenden Familienleben mehr gehört als eine gut gemeinte Lebensplanung. Willkommen in der Realität! Willkommen im Kreis der unzähligen Familien, denen das ebenfalls klar geworden ist. Nicht wenige von ihnen sind jedoch für diese Erkenntnis einen langen, schmerzhaften Weg mit- und gegeneinander gegangen.
Heute gibt es keinen einheitlichen Erziehungsstil mehr. Jede Familie kann und muss schauen, welches Modell zu ihr passt.
Das ist doch eine begrüßenswerte Entwicklung: Sie müssen sich nicht mehr entscheiden zwischen einem autoritären oder einem antiautoritären Modell. Das bedeutet neue Freiheiten fürs Elternsein: Sie machen es so, wie Sie es für richtig halten. Ihr Erziehungsstil bleibt in Ihren Händen. Das bedeutet aber auch: Sie allein tragen dafür die Verantwortung!
So bringt diese neue Freiheit auch neue Herausforderungen mit sich. Vielen geht die Orientierung verloren. Es entsteht Unsicherheit. Woran soll man sich nun halten, wenn in der Krise plötzlich jeder etwas anders sagt oder es besser weiß? Wie macht man dann ‚richtig’? Das betrifft vor allem Zeiten, in denen man vor Sorge um das eigene Kind schon längst keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, wenn man nur noch irgendwie funktioniert.
Dann wünscht man sich eine ‚Gebrauchsanleitung’, in der genau steht, wie es geht. Aber solche allgemeingültigen Anleitungen gibt es nicht, auch wenn sie hier und da versprochen werden. Und das ist auch gut so. Warum?
Finden Sie Ihren persönlichen Weg, gute Eltern zu sein
Wir alle sind einmalige Menschen, mit einmaligen Veranlagungen und Möglichkeiten. Doch statt dieser Vielfalt Raum zu lassen, wird heute unterstellt, dass Eltern beschult und unterwiesen werden müssen, um sich für ihre Kinder in angemessener Weise zu engagieren. Wir leben in einer Zeit, in der pädagogisches ‚Rezeptwissen’ vermarktet wird. Das verunsichert Eltern, hindert sie daran, ihren eigenen Erziehungsstil zu finden.
Und so stellen sich Ihnen zwei Fragen:
- Wie können Sie lernen, sich in Ihrer Elternrolle zu schätzen, sich selbst zu respektieren, Ihren persönlichen Stärken zu vertrauen und diese zu leben?
- Wie erlangen Sie mehr Sicherheit, Klarheit und Durchsetzungsvermögen, um Ihre Kinder darin zu unterstützen, zu starken und lebensfrohen Menschen zu werden?
Liebe Eltern, Sie tragen diese Stärken bereits in sich. Manchmal sind diese im Laufe Ihres Lebens ein wenig untergegangen. Doch jetzt gilt es, sie wieder hochzuholen und sie zu leben.
Wir leben in unterschiedlichen Lebenssituationen, unter gesellschaftlich verschiedenen Bedingungen. Was in einer Familie funktioniert, lässt sich nicht direkt auf eine andere übertragen.
Immer häufiger sind Eltern sogar versucht, ihre Elternschaft abzugeben, die Lösung für die Probleme ihres schwierigen Kindes Fachleuten zu überlassen. Diese Eltern haben die Hoffnung und das Vertrauen in ihre eigenen Kräfte verloren. Sie fühlen sich ihrer besonderen und wertvollen Aufgabe, der Führung ihrer Familie, nicht mehr gewachsen. Der Sinn ihres Handels als Eltern scheint damit verloren. Sich so zu fühlen, macht depressiv.
Die Gesellschaft und unser Gesundheitswesen hält für unsere Kinder unüberschaubare Hilfsangebote bereit. Um das Richtige zu finden, brauchen Eltern jedoch häufig einen langen Atem und das Vertrauen darauf, dass sie in ihrer Not tatsächlich machbare Auswege finden werden.
Erinnern Sie sich also daran, dass Sie bereits das notwendige Rüstzeug besitzen! Kämpfen Sie für ein würdevolles, elterliches Bewusstsein und für eine Familie, die so schnell nichts erschüttern kann.
Unterstützung holen – ja! Abgabe der Verantwortung – nein!
Befreiung aus dem Netz von Vorwürfen und Verurteilungen
Immer wieder klagen Eltern so wie diese Mutter: „Ich fühle mich so hilflos. Ich muss dabei zusehen, wie meine Tochter mit ihrem sich selbst gefährdenden Verhalten mit Vollgas gegen die Wand fährt. Ich halte das aus bis zu dem Punkt, wo ich merke, jetzt kann es ganz schnell gehen und dann ist sie nicht mehr da. Da denke ich, da muss ich doch als Mutter was machen! Doch ich weiß nicht, was ich machen soll, wie ich mich konkret in bestimmten Situationen verhalten soll. Ich habe das Gefühl, es wird immer noch schlimmer. Ich habe schon so vieles gelesen und versucht. Und dennoch fühle ich mich so furchtbar hilflos.“
Dass diese Mutter sich so fühlt, ist nach den jahrelangen „Kämpfen“ vollkommen verständlich. Wichtig ist zunächst, dass sie sich das eingesteht.
Als Eltern dürfen Sie sich nämlich ratlos, hilflos und allein fühlen. Vermutlich müssen Sie das sogar, wenn Sie alles versucht haben, was in Ihrer Macht steht, um zu helfen. Vor allem dann, wenn davon bis heute nur wenig in Ihren Augen hilfreich war. Da liegt die Vermutung nahe, dass vielleicht einige Ihrer gut gemeinten Kraftanstrengungen tatsächlich nicht förderlich gewesen sein könnten.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie in der Vergangenheit alles falsch gemacht haben. Die Eltern, denen ich begegne, haben eher zu viel als zu wenig getan! Es war eher dieses zu viel an Hilfe, zu viel an elterlicher Unterstützung, zu viel an elterlichen Rettungsversuchen, wenn es für ihre Kinder mal wieder ungemütlich wurde.
Letztendlich erhielten diese Kinder zu wenig Raum, um tatsächliche Eigenverantwortung lernen und übernehmen zu können. Zu schnell waren ihre Eltern mit gut gemeinten Ratschlägen und Besserwisserei zur Stelle. Als müsse immer schnell eine Lösung her. Als ob den Kindern die Zeit davonrennen würde. Als müssten sie sich nur ja schnell wieder einordnen in das vorgegebene System ihrer Eltern, der Schulen, unserer Gesellschaft.
Von außen betrachtet sieht dieser Kampf manchmal aus wie ein dramatisches Missverständnis zwischen Eltern und Kindern. Sie lieben sich zwar, ,jedoch haben sie unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie leben wollen und können darüber nicht konstruktiv kommunizieren. Ich bin davon überzeugt, dass Sie dennoch Ihrem Kind in der Vergangenheit viel Schönes und Wertvolles vermittelt haben, auch wenn Sie das jetzt vielleicht nicht sehen können.
Kümmern Sie sich nun erst einmal um sich selbst. Erlauben Sie sich, Ihre belastenden Gefühle zuzulassen. Diese wirklich anzuerkennen, diese wollen Ihnen etwas signalisieren. DAS will und muss gesehen werden.
Dazu zählen typische Eigenverurteilungen wie: „Ich war keine gute Mutter (kein guter Vater) für mein Kind. Sonst wäre das alles nicht passiert.“
Hier bitte sofort STOPPEN!
Wieso kommt es Ihnen, liebe Eltern, nicht in den Sinn, sich einmal anders zu betrachten? Drehen Sie bitte einfach mal Ihren Vorwurf „Ich war keine gute Mutter“ gedanklich um. Etwa so: „Vielleicht hat das, was ich meinem Kind geboten habe, dieses vor Schlimmerem bewahrt?“1
Wer auf der Welt will diese Frage tatsächlich und eindeutig beantworten können? Wer nämlich glaubt, darauf endgültige Antworten oder Lösungen parat zu haben, der ermächtigt sich selbst zu einer Instanz, die anmaßend und selbstherrlich ist.
Manchmal spricht diese Instanz sogar in unseren eigenen Köpfen zu uns. Wenn Sie diese innere Stimme hören, wissen Sie, dass in Ihrem Kopf ein kleines, jedoch sehr einflussreiches Wesen sitzt, nennen wir es Frau Richter oder den Herrn Richter. Die Richters kennen nur einen Urteilsspruch: Schuld, Schuld, Schuld. Und warum Sie so über sich denken, das hat mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte zu tun.
Deshalb ist es hilfreich, sich über die eigene Lebensgeschichte und das, was uns geprägt hat, klar zu werden. ...