Die Erneuerung der SPD:
Arbeitsfelder und Baustellen
Debattenbeitrag auf Basis eines Referats auf dem Kreisparteitag der SPD Rhein-Sieg in Troisdorf am 14. Oktober 2017
Mit Blick auf die Parteierneuerung
Auf dem Kreisparteitag der SPD Rhein-Sieg am 14. Oktober 2017 in Troisdorf hielt ich als Unterbezirksvorsitzender ein kurzes Referat zu den Herausforderungen, vor denen die SPD 2017 aus meiner Sicht steht. Ich benannte fĂŒnf Handlungsfelder und formulierte hierbei mehr Fragen als Antworten.
Im Nachgang wurde ich gebeten, diese Gedanken zusammenzufassen und sie detaillierter darzustellen. Der Bitte komme ich â auch zur KlĂ€rung meiner eigenen Analysen und Gedanken â nach. Es ist ein lĂ€ngerer Text entstanden, der weder Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit noch auf absoluten Zuspruch erheben soll. Es ist ein Debattenbeitrag neben anderen.
Worum es geht â
und was vor der Klammer stehen muss
Die Lage der SPD ist 2017 nach einer Reihe von Wahlniederlagen in den LĂ€ndern Schleswig-Holstein, Saarland und Nordrhein-Westfalen sowie nach dem historisch schlechtesten Ergebnis auf Bundesebene seit GrĂŒndung der Bundesrepublik Deutschland dĂŒster.
Ausgangsthese jeglicher Betrachtung dieses Textes und der Einordnung der Ereignisse ist: Wenn die SPD wieder erfolgreich sein will, indem sie gesellschaftliche Mehrheiten und Zuspruch in zentralen Debatten der Republik sowie mehr Zustimmung und Mehrheiten in Wahlen auf Landes- und Bundesebene erringen will, so braucht sie dringend eine konsistente, fĂŒr weite Teile (!) der WĂ€hlerschaft attraktive (!) Vision von Staat und Gesellschaft. Diese Vision muss deutlich ĂŒber ein oder zwei WĂ€hlermilieus einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland heraus reichen und ein verbindendes Element darstellen.
Vor allem steht die attraktive Idee einer modernen Gesellschaft entlang eines sozialdemokratisch-progressiven Gedankens der Gestaltbarkeit der Zukunft. In untrennbarer Verbindung mit der auch zu wollenden konkreten Gestaltung in politischer Verantwortung â der Verbesserung dessen, was ist.
Im Mittelpunkt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Nach welchen Regeln1 soll das Zusammenleben gelingen? Wer soll dazu gehören und was ist dafĂŒr zu tun? Also: Wer ist âWirâ und wie werden die vielen Einzelnen zum âWirâ? Integration ist hier im engsten Sinne Bestimmung der Zugehörigkeit und eröffnet die spannende Diskussion eines neuen Gesellschaftsvertrages unseres Landes im Sinne der ursprĂŒnglichen AufklĂ€rung.
Es ist aber viel mehr als reine Technik oder Programmatik. Wahlen und politische Zustimmung entscheiden sich mehr und mehr entlang emotionaler wie kultureller Komponenten und entlang der Gedanken von IdentitĂ€ten und Gruppenzugehörigkeit. Im Rahmen des KlĂ€rungsprozesses gilt es eine sozialdemokratische Haltung zu den drĂ€ngenden Fragen der Zeit zu finden und glaubwĂŒrdig einzunehmen. Lehren sind aus den dann gefundenen und vereinbarten Prinzipien und dem daraus abgeleiteten Menschenbild zu ziehen. Das bedeutet, dies vor allem authentisch zu leben und als Teil der Organisationskultur zu ĂŒbernehmen. Mehr als reine Programmatik ist die Vision auch Emotion, empathische Ansprache und sozialdemokratische ErzĂ€hlung von der âneuen Zeitâ. Eben alles jenseits reiner Sachlogik, thematischer ZwĂ€nge oder der vorgeblich schnöden Einsicht in zwingende Notwendigkeiten des Zusammenlebens.
Nach der Bestimmung des sozialdemokratischen (!) Gesellschaftsbildes und der Rolle (entlang von Rechten und Pflichten) des selbstbestimmten, freien Individuums beantwortet sich die Frage nach der Rolle des Staates nahezu von selbst: Welche Funktion und Aufgabe hat der Staat mit welcher Zielrichtung im Interesse der Gesellschaft zu erfĂŒllen? Welche HandlungsfĂ€higkeit des Staates setzt dies voraus?
Zu klĂ€ren wĂ€ren sodann Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, (BrĂŒderlichkeit?), Gerechtigkeit, SolidaritĂ€t, aber auch Recht und Einigkeit. Sind es leere Formeln? Sind es (sozialdemokratische) Grundwerte? Gibt es eine âlinkeâ Besetzung der Begriffe oder ĂŒberlĂ€sst die Sozialdemokratie sie dem politischen Gegner â ârechtsâ? Die Idee der Gesellschaft und die schlĂŒssige, attraktive (!) Vision von Staat und Gesellschaft fĂŒhrt zur KlĂ€rung der Begriffe.
Beispielhaft die Frage nach dem Sinngehalt der Formel âGleichheitâ: Es ist ein leeres Wort der Gleichheit, wenn diese weder wirtschaftlich (Teilhabe!) noch beispielsweise vor Gericht gegeben ist. Ist es nicht so, dass der wirtschaftlich Potentere âfreierâ ist und âmehr Chancenâ hat in unserer Gesellschaft? Seinen politischen Willen gegen den des anderen einzelnen oder gar die gesamte Gruppe der SchwĂ€cheren durchzusetzen? Und ist die Antwort hierauf ein Bildungsprogramm zur Organisation des Aufstiegs?
Nein. Es sind im Kern auch Verteilungsfragen von Macht und Vermögen sowie die Bestimmung des VerhÀltnisses von Markt2 und Staat.
Um eine schlĂŒssige, konsistente Vision zu entwickeln, die im Ăbrigen keine reine Innensicht und Nabelschau der schwer verunsicherten Sozialdemokratie sein darf, wird die Sozialdemokratie Antworten geben mĂŒssen. Sie hat klare, abgrenzbare Positionen zu zentralen Fragen und Verwerfungslinien der Debatten zu entwerfen sowie in der Folge konsequent zu vertreten.
Kursbuch: Arbeitsfelder und Baustellen
Das zentrale und entscheidende Feld wurde als Aufgabe vorab benannt. Die SPD wird aber in ihrer aktuellen Lage verschiedene Felder gleichzeitig bearbeiten mĂŒssen. Es wird kaum ein Nacheinander geben, zu sehr drĂ€ngt die Zeit, zu viel Zeit blieb zuvor ungenutzt.
Dennoch darf das nicht den Blick verstellen: Die Felder sind zwar gleichzeitig zu bearbeiten und zu klÀren. Sie sind aber nicht gleich wichtig.
Es sind fĂŒnf zentrale Handlungsfelder erkennbar:
- Analyse, Organisation und KampagnenfĂ€hgkeit â der Blick auf und in die SPD
- Kommunikation und grundlegend KommunikationsfÀhigkeit
- Die gesellschaftliche Verankerung der SPD, ihre Vision und ihr Leitbild
- Die Annahme der Herausforderungen der Zeit und ihre Beantwortung
- Eine gute Prozessorganisation: Ăber die Vermeidung von FehlschlĂŒssen
Analyse, Organisation und KampagnenfĂ€higkeit â der Blick auf und in die SPD
Es stellen sich grundlegende Fragen zu der derzeit vorhandenen Organisationskraft der SPD und den notwendigen Schlussfolgerungen hieraus. Beispiel: Sollte die SPD dauerhaft in sĂŒddeutschen LandesverbĂ€nden als auch in den fĂŒnf ostdeutschen3 FlĂ€chenlĂ€ndern bei Landtags- und Bundestagswahlen bei teilweise deutlich unter 20 Prozent an Zustimmung stagnieren, so kann ein starkes Abschneiden jenseits der 25 Prozent (!) schwerlich auf Bundesebene gelingen. Dies hĂ€ngt sowohl mit der Organisationskraft und der besonderen FĂ€higkeit zur Kampagne zusammen.
Besonders zu berĂŒcksichtigen ist die Lage der NRWSPD, deren Stimmergebnisse seit Mitte der 90er Jahre auf allen Ebenen rĂŒcklĂ€ufig sind, wie eine aktuelle Einordnung der Lage aus Sicht ihrer FĂŒhrung anerkennt.
Es wird daher einer besonderen Anstrengung und eines differenzierten Ansatzes je nach Region bedĂŒrfen, diese SchwĂ€chen auszugleichen. Dies ist eine der Aufgaben der verbliebenen Organisation â auch zentral fĂŒr das Willy-Brandt-Haus.
Hinzutritt die besondere Herausforderung, dass Mitgliederparteien tendenziell ĂŒberaltert sind und neue Formen der Kommunikation und Debatten ein neues SpannungsverhĂ€ltnis zwischen âdigitalenâ und âaltbewĂ€hrten, traditionellenâ Ortsvereinsmitgliedern eröffnen könnten. Kurz und provokant gesagt: Bestimmt das Online-Themenforum per App, wo Peter den HolzdreieckstĂ€nder aufstellt â oder geht da mehr? Wo liegt die Chance dieser âNetzwerkparteiâ4 â nicht nur als digitales Tool â aber auch als BrĂŒckenschlag zu neuen Zielsetzungen oder (temporĂ€ren?) Anbindung neuer Zielgruppen?
Die SPD verfĂŒgt ĂŒber eine ganze Reihe sehr systematischer Untersuchungen ihrer Mitgliedschaft und der FunktionsfĂ€higkeit ihrer Basisstrukturen. Diese wurden regelmĂ€Ăig erhoben und mit einer Vielzahl von Handlungsempfehlungen versehen.
An dieser Stelle ist ein Risiko der digitalen Ăffnung und Umstrukturierung detaillierter auszufĂŒhren â aber eben ohne in eine pauschale Absage zu verfallen. Initiativen wie âSPD++â knĂŒpfen vor allem, jenseits inhaltlicher Fragestellungen, an Organisationsstrukturen und ihre satzungsmĂ€Ăige Abbildung an. Doch der Blick ist eng. Denn diese Reformen setzen an die Existenz von Gliederungen und dem Aufbrechen der Strukturen derselben an. Eben daran, dass Mitglieder wie Strukturen ĂŒberhaupt vorhanden sind. Doch diese Strukturen gibt es in der FlĂ€che nicht mehr ĂŒberall. Und zum anderen eröffnen sie neue Verwerfungslinien. Gibt es demnĂ€chst die âaltenâ im Ortsverein, denen die âdigitalenâ Mitglieder beigeordnet werden? Und welche Organisationskraft wird in physischer PrĂ€senz neu freigesetzt oder geschaffen, wenn es um den direkten Kontakt geht? Da ist noch mehr drin und es wird spannend wie chancenreich sein, diese neuen AnsĂ€tze zusammenzubinden.
Ein besonderes âPfundâ der Erneuerung der Organisation sind die schĂ€tzungsweise 27.500 neuen Mitglieder, die die SPD nach Januar 2017 gewonnen hat. Sie sind eine besondere Reserve und bedĂŒrfen der Aktivierung und Einbeziehung.
Aus der Wiederherstellung der Organisationskraft folgt die Hinterfragung der StrategiefĂ€higkeit der Organisation SPD. Auf allen Ebenen wirken Agenturen und Berater mit unterschiedlichen, zuletzt eher ausbleibendem Erfolg mit. Spannender als die Agenturauswahl ist eine andere Frage. Ist die SPD als solche derzeit ĂŒberhaupt âstrategiefĂ€higâ?5 Wer verbindet die Organisationskraft einer Bundestagsfraktion, eines Willy-Brandt-Hauses oder der parteinahen Strukturen ĂŒberhaupt? Gibt es ein strategisches Zentrum und noch spannender: Wie interagieren die Akteurinnen und Akteure? Hat sich die FĂŒhrung auf eine gemeinsame Strategie verstĂ€ndigt und wenn ja, welche?
Es drĂ€ngt sich die Frage auf: Wie reagiert die Organisation SPD eigentlich auf internen wie externen Input? So ist die zunehmende Fragmentierung der WĂ€hlerschaft bereits 2012 grundlegend untersucht worden. Bezeichnenderweise durch die parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung.6 Bruchkanten zwischen aufgeklĂ€rtem, liberalem BĂŒrgertum und autoritĂ€r orientierten Milieus bis hin zur Gruppe der PrekĂ€ren sind klar benannt worden. Die Verbindung der bekannten Sinusmilieus mit Wahlverhalten war damit Vorsprungswissen der Sozialdemokratie und ist nach der Wahl 2017 weitestgehend anerkannt.
Was wurde hieraus abgeleitet? Dass eine zunehmende Fragmentierung der WĂ€hlerschaft in Verbindung mit einer abnehmenden StammwĂ€hlerschaft und hieraus folgend einem zunehmend verĂ€nderten Wahlverhalten fĂŒr eine Volkspartei wie die SPD nicht ohne Folgen bleiben kann, ist doch eine Binsenweisheit.
Hinzutraten alarmierende Befunde zur âwahren Stimmungslageâ in Deutschland, die Soziologen wie Stephan GrĂŒnewald7 frĂŒh vorlegten. Sie blieben aber ebenso offenbar ohne nennenswerten Einfluss auf Wahlstrategie und Positionierung der SPD.
Aus (Wieder-)Aufbau bzw. Umbau der Organisation und ehrlicher Analyse unter BerĂŒcksichtigung der RealitĂ€t folgt die Frage der KampagnenfĂ€higkeit der Organisation SPD. Diese teilt sich in die kurzfristige Frage einer Wahlkampagne und die dauerhafte Frage nach der KampagnenfĂ€higkeit bei gesellschaftlichen Debatten auch jenseits von Wahlen. SingulĂ€r die Wahlkampagne 2017 zu hinterfragen, greift zu kurz.
Kurzum: Was nutzt die beste Vision, das gute Leitbild und die klare Positionierung, wenn die Organisation nicht fĂ€hig zur stringenten und koordinierten Ăffentlichkeitsarbeit ist. Das hĂ€ngt auch eng mit strategischem Zentrum und den handelnden Akteuren (Disziplin!) zusammen. Das Stichwort Kommunikation und die KommunikationsfĂ€higkeit ist gesondert (siehe unten) zu betrachten.
Etwas skurril mutet in der SPD zudem die Debatte an, ob die Wahlkampagne a) vorbereitet oder nicht vorbereitet war, b) eine KandidatenkĂŒr acht Monate vor der Wahl zu frĂŒh, zu spĂ€t oder schlicht nicht machbar ist sowie c) man nicht vorher schon alles falsch gemacht hat.
Dem geneigten Beobachter fĂ€llt jedenfalls auf, dass sowohl nach den Wahlniederlagen von Frank-Walter Steinmeier (2009), Peer SteinbrĂŒck (2013) als auch Martin Schulz (2017) unisono erklĂ€rt wurde, dass die Kampagne und die KandidatenkĂŒr jedenfalls so nicht beabsichtigt war. Absolut unverstĂ€ndlich muss bleiben, wenn die Konzeptionen zweimal in Ă€hnlicher Konstellation gescheitert sind, warum es 2017 eines dritten, empirischen Beweises bedurfte.
Ebenso erstaunlich ist es, in zwei groĂen Koalitionen (2005-2009 sowie 2013-2017) Angela Merkel als Bundeskanzlerin mitzutragen, hiernach stets ihre Inhaltsleere und mangelnde Lösung nationaler Herausforderungen und internationaler Krisen lautstark zu kritisieren, und dann gleichzeitig die eigene, sozialdemokratische, herausragende Arbeit in Merkels Kabinetten herauszustellen und öffentlich zu bewerben. Die Begriffe Mischbotschaft und unklare Kommunikationslinie mögen noch freundlich sein.
Sehen wir es als Chance, dass ei...