Bilder der Levante
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Bilder der Levante

Eine Langzeitreportage aus dem Nahen Osten

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Bilder der Levante

Eine Langzeitreportage aus dem Nahen Osten

About this book

Bilder der Levante ist ein Porträt des Nahen Ostens in Momentaufnahmen, in Begegnungen und Geschichten. Schauplätze sind Beirut, Jerusalem, Gaza, Kairo, Damaskus, Aleppo, Bagdad, Orte, die die Journalistin Michael Jansen seit 1961 immer wieder besucht. Beim Lesen verdichtet sich ihre Erzählung; sie legt Verbindungen und historische Hintergründe offen, und gerade die persönliche Dimension entwickelt in ihr einen unglaublichen Sog. Das Buch beginnt mit Szenen aus Kairo 2011 während des Arabischen Frühlings. Und auf nur fünf Seiten, mit großer Lust geschrieben, bekommt der Leser eine Tiefenbohrung in die ägyptische Geschichte präsentiert, die über die sechziger Jahre bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht und einen wachgerüttelt und neugierig geworden zurücklässt. Das Buch ist gleichermaßen eine Autobiografie vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts wie eine Langzeitreportage über eben diesen Konflikt und all seine Auswüchse im turbulenten 20. und frühen 21.Jahrhundert. Erklärungen gibt Michael Jansen zwischen den Zeilen. Die Art, wie sie die Leserin, den Leser an ihren Beobachtungen teilnehmen lässt, vermittelt Erfahrung und ein tiefes Verständnis für die arabische Welt.

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1Aufbruch

Kairo, Ägypten, 28. Januar 2011
Unter der Brücke des 6. Oktober stampfen Pferde nervös vor ihren Kutschen, die nicht weiterfahren können. Die Fahrer rauchen. Das Dröhnen vom Tahrirplatz schwillt an und nimmt ab, metallisches Knallen von Schüssen. Über unseren Köpfen die Stimmen von Zuschauern, versammelt auf der Terrasse des Ramses Hilton. Conor McNally, der Sohn der irischen Botschafterin, und ich rennen in die Hotellobby, die Treppe hinauf, und beziehen Stellung hinter staubig-stachligen Kübelpflanzen an der Terrassenmauer. Unten zu unserer Linken marschiert eine geschlossene Demonstrantenfront zum Abdel-Moneim-Riad-Platz und weiter zum Tahrirplatz. Bereitschaftspolizisten mit schusssicheren Westen, schwarz behelmt und gekleidet, schießen mit Tränengas und Schrot und sprengen immer neue Demonstrantenreihen auf. Immerzu stoßen einzelne Gruppen von Demonstranten vor und werden wieder zurückgeschlagen.
Zu unserer Rechten stecken Männer, Frauen und Kinder auf der Brücke des 6. Oktober fest, andere ein Stück flussabwärts auf der Kasr-el-Nil-Brücke, die auf den Tahrirplatz mündet. Auf der Brücke des 6. Oktober stellen sich Männer zum Asr auf, dem Nachmittagsgebet, stehen andächtig, friedlich, und verbeugen sich im goldenen Nachmittagslicht. Eine Pause im Kampf um den Tahrirplatz. Der uralte Nil, eine sanfte Brise kräuselt sein metallgraues Wasser.
Vom Westufer aus schießt die Polizei mit Wasserwerfern in die Menschenmenge auf der Brücke des 6. Oktober.
Von der östlichen Uferpromenade und aus den Straßen hinter dem Hotel strömen Demonstranten. Diszipliniert, in geschlossenen Reihen, unbewaffnet. Entschlossen, den Tahrirplatz zu erreichen, trotz Tränengas, Gummigeschossen und tödlichem Schrot. Abertausende Ägypterinnen und Ägypter. Vor meinem inneren Auge verlangsamt sich ihr Vormarsch zeitlupenartig, Stille umschließt die Szene. Der Himmel voller Gas- und Rauchwolken. Ich sehe nichts als den ungeheuren Zusammenprall zweier mächtiger Gruppen, in einem tödlichen Spiel gefangen. Die Demonstranten in ausgewaschenem Bunt, die Polizei in Schwarz, die Knöpfe und Sterne auf den Schulterklappen schimmern silbern. Gebrüll vom Tahrirplatz unterbricht meine taube Konzentration.
Meine Atemwege, Augen und Haut brennen vom geruchs- und farblosen Gas, und ich fliehe in die Lobby. Auch Conor zieht sich schließlich zurück. Die Hoteltüren werden verschlossen. Der Wachmann sagt, wir könnten gehen, sobald sich die Situation beruhigt habe. Wir warten. Tränende Augen, juckende Haut. Ungeduldig. Von den Geschehnissen sehen wir nichts mehr. Endlich draußen. Eine Pause im Vorstoß der Demonstranten und die Abwehr durch die Polizei. Die offenen Pferdekutschen sind geflohen, die Straße ist leer. Conor und ich winken ein einsames, klappriges schwarz-weißes Taxi heran. Ich steige ein, er bleibt; ich muss einen Artikel abgeben. »Al funduk Marriott, minfudlak! Zum Marriott-Hotel, bitte!« Fünf Minuten später überqueren wir den Nil auf der Brücke des 26. Juli. Der Fahrer berechnet den Preis, den das Taxameter anzeigt.
Kairo, Ägypten, 21. Juli 1961
In Rafah im Gazastreifen stieg ich vor dem Morgengrauen in den Zug nach Kairo. In al-Arisch setzten sich drei ägyptische Armeeoffiziere, kaum älter als ich, in mein Abteil. Sie stellten sich vor, doch ihre Namen habe ich längst vergessen. Einer sprach gut Englisch, die anderen beiden lächelten steif. Es war eine lange, heiße Fahrt entlang der Sinaiküste. Feiner Staub drang durch die Fensterritzen und legte sich auf meine Arme, mein kurz geschnittenes Haar. Die Offiziere spendierten mir leuchtend rosa Limonade und Käsebrote mit Pickles, geriffelte Möhren und Gurken, deren Essigschärfe mir durch Mark und Bein fuhr. Bei El-Kantara kamen wir ins »richtige« Ägypten, dann ging es weiter südwärts nach Ismailia, vorüber an sattgrünen Äckern, betriebsamen Städten und Dörfern, bis zum Ramses-Bahnhof in Kairo. Vor dem cremefarbenen Gebäude mit seinen blauen Mosaikverzierungen stand ein riesiger Ramses aus Granit, die Arme fest an die Seiten gepresst, auf dem Haupt die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens. Der schüchterne, stille jüngste Offizier wurde vom englischsprechenden Offizier beordert, mich sicher in mein Hotel zu bringen.
Hassan, ein palästinensischer Freund aus Beirut, hatte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension reserviert, die Landsleute von ihm in der als »Downtown« bezeichneten Gegend betrieben. Ich bekam ein sauberes Zimmer mit Bett, Waschbecken und einem schmalen Fenster mit grünen Läden. Zu meinem Bedauern waren Toiletten und Duschen auf dem Flur. Mit einem ägyptischen Pfund die Nacht war das Zimmer jedoch erschwinglich. Hassan, der gerade ebenfalls in Kairo war, nahm mich mit in den Gezira-Club, einst Spielwiese der britischen Kolonialherren, nun übernommen von der ägyptischen Unabhängigkeitselite. Von einer Tribüne aus sahen wir einem Wettbewerb im Tontaubenschießen zu. Während die Wurfmaschinen mit einem Klacken und Zischen die Tonscheiben losschleuderten, empörten Hassan und seine Freunde sich über die jüngsten Verstaatlichungen durch die Regierung Gamal Abdel Nassers. Am anderen Ende des staubigen, welken Rasens, knapp außerhalb der Reichweite der Gewehre, sammelte ein betagter Ägypter in abgetragener Dschalabija und mit Turban auf dem Kopf gelbe Scherben in einen Korb.
Bei Einbruch der Dunkelheit lauschten wir in Gizeh einer hohl dröhnenden Tonbandstimme, die Ägyptens Geschichte erzählte, während Lichtstrahlen über die Stufenseiten der Pyramiden wanderten und die Sphinx anleuchteten. Von ihrer Nase hieß es, Napoleons Soldaten hätten sie Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Kanonenkugel weggeschossen, obwohl schon frühere Reisende die Sphinx ohne Nase gezeichnet hatten.
Bay City, Michigan, USA, 1946
Ich kletterte auf einen Stuhl, um vom dem dritten Brett des Bücherregals ein Lesebuch für Kinder zu greifen, lief schnell zurück in mein Zimmer, setzte mich auf den Boden und schlug den festen grünen Einband auf. Blätterte Seite um Seite, wenige enttäuschende Illustrationen in Schwarz und Grau, Worte, in Sätzen geordnet, in einschüchternden Absätzen zusammengefasst. Ich entzifferte ein Wort, Buchstabe um Buchstabe, dann noch eins. Erkannte Wendungen und begriff ganze Sätze. Ich verstand Absätze und wurde als Höhepunkt mit einer vollständigen Geschichte belohnt.
Sie handelte vom Heiligen Ludwig, einem französischen König während der Kreuzzüge, der 1249 mit seinen Truppen in der ägyptischen Hafenstadt Damiette landete und seine Soldaten auf einen Gewaltmarsch nach Kairo schickte, bis sie im Nildelta auf ägyptische Truppen stießen. Das Heer des Heiligen Ludwig wurde geschlagen. Er wurde gefangengenommen, starb jedoch erst zwanzig Jahre später in Tunis zu Beginn eines weiteren Kreuzzugs.
Nach meinem Triumph mit dem Heiligen Ludwig langweilte ich mich in der Schule bei den lustigen Abenteuern von Dick und Jane und fing an, im Unterricht zu stören.
Kairo, Ägypten, 29. Januar 2011
Die Stadt erwacht nur langsam zum Leben, erschöpft von drei Tagen Massendemonstrationen auf dem Tahrirplatz.
In Zamalek, einem Wohngebiet am Nordende der Insel Gezira mitten im trägen Nil, öffnen die wenigen Geschäfte und Cafés spät. Ein kleiner Junge hält Conor und mir einen Bund frische Minze entgegen, als wir zur Brücke des 6. Oktober unterwegs sind. Bewaffnete Polizisten sperren den Verkehr über die Brücke, ignorieren aber die wenigen Fußgänger. Der Tahrirplatz ist leer, döst in den warmen Sonnenstrahlen und wartet auf den »Tag des Zorns«.
Wir gehen über den Platz und weiter nach Nordosten durch fast völlig verlassene Straßen, vorbei an Moscheen und Geschäften mit geschlossenen Läden. Die Gläubigen waren zum Mittagsgebet hier und sind wieder fort. Aus einem verbeulten blauen Auto ruft uns eine hübsche junge Frau in fließendem Englisch zu: »Sie sollten lieber nicht draußen sein! Heute passiert noch was. Wo müssen Sie denn hin?«
»Zamalek«, antwortet Conor.
»Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit. Da muss ich auch hin.«
Als sie uns absetzt, frage ich sie, wo sie hinfahre. »Zum Tahrirplatz«, das Schlachtfeld zwischen Volk und Regime. »Ich treffe mich mit vier Freunden, um auf die Demo zu gehen. Eigentlich wollten noch mehr kommen, aber weder Handynetz noch Internet funktionieren, und so konnten wir keinen Treffpunkt ausmachen.«
»Warum demonstrieren Sie?«, frage ich und hoffe auf ein verwertbares Zitat. »Ich habe mein ganzes Leben unter Mubarak gelebt«, sagt sie. Hosni Mubarak, Ägyptens Präsident seit dreißig Jahren. Als sie wegfährt, sagt Conor: »Hast du gesehen? Ihr Lidschatten war auf ihr Top abgestimmt.«
Abermals überqueren wir den Nil und gehen auf der Uferpromenade zurück Richtung Tahrirplatz. Vor dem dickbäuchigen beigen Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens stehen Panzer. Bereitschaftspolizisten haben ein Spalier gebildet, damit Demonstranten nicht auf die Idee kommen, den Sender übernehmen zu wollen. Das Sagen hat immer noch Hosni Mubarak. Die Kontrolle über den Rundfunk entscheidet über Aufstieg oder Untergang eines Regimes.
In der Gasse neben dem Gebäude betrachten Wachmänner in Zivil, mit Holzknüppeln bewaffnet, die Passanten mit düsteren Blicken. Ein Jugendlicher bricht aus ihrem Gewahrsam aus, rennt über die Straße und stolpert das Flussufer hinunter, wird jedoch von einem schnellen Polizisten eingeholt und in die Gasse zurückgezerrt. Wir gehen weiter, angezogen vom Getöse auf dem Tahrirplatz.
Kairo, Ägypten, 25. November 2010
Die Stadt der Toten schien zu schlafen. Die staubige Imam-al-Lesi-Straße lag verlassen. Türen und Tore der Hausgräber und großen Mausoleen waren fest verschlossen. An manchen Eingängen hingen Vorhängeschlösser, andere waren zugemauert. An den Grabmauern standen die Namen und Daten der Verstorbenen auf Marmortafeln. Inoffizielle Siedler, manchmal Familienmitglieder, wollen hier nicht erkannt werden, tun so, als wären sie Wärter. Ein leerer Bus schlingerte vorüber. In der Tür eines Hauses, flankiert von zwei verkrüppelten Bäumen, erschien eine Frau in einem blauen Kaftan. Raya, eine Witwe aus Oberägypten, eine von vielleicht einer halben Million Siedlern, lebte seit dreißig Jahren hier. Ein Stück die Straße runter saß ein Mann vor dem Tor eines Hausgrabs, in dem sein Sohn lag, und las im Koran. Die Männer waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule und die Frauen mit Aufgaben innerhalb der Grundstücksmauern beschäftigt. Nur die Toten ruhten.
Gestapelte Rahmenhölzer für Sessel vor einer Werkstatt, eine Satellitenschüssel auf dem Dach eines Mausoleums, trocknende Wäsche in einer Mauernische und scharrende Hühner in einem Durchgang zeugten von dem Leben auf dem riesigen Friedhof, gegründet zur Zeit der muslimischen Eroberung Ägyptens 642 n. u. Z. Am Ende der Straße lag in Geschäften voller Fliegen schlaffes Gemüse und lädiertes Obst in Plastikkisten aus. Frische Lebensmittel konnten sich die lebenden Bewohner der Stadt der Toten ebenso wenig leisten wie eine Mietwohnung in den Armenvierteln Großkairos.
Zwischen den Wahlen vergaßen die Politiker die Probleme und Sorgen der hier hausenden Familien. Sobald jedoch der nächste Wahlkampf anfing, umwarben sie sie. Der Hauptplatz hing voller Plakate und Banner, die Kandidaten für die Parlamentswahlen anpriesen.
An einem Tisch am Straßenrand saßen zwei gesprächsfreudige Männer. Sie stellten sich als Sayyed Muhammad Abdel ‘Al und dessen Onkel Hag Subhi Abdel ‘Al vor. Als der Kellner Gläschen süßen Tees vor uns stellte, sagte Sayyed, sie beide seien »Wächter des Viertels«. Sie entpuppten sich als »Wächter« im Dienst von Mubaraks Regierungspartei NDP. Während der Onkel an seiner Wasserpfeife sog, sagte Sayyed: »Die Wähler lassen sich von den Kandidaten nicht bestechen. Die Watani [NDP] ist hier stark. Wir sind für Präsident Hosni Mubarak. Wir lieben Hosni Mubarak.« Ich fragte, wie es mit Gamal aussähe, Mubaraks Sohn und mutmaßlichem Nachfolger. »Nein«, antworteten die Männer einstimmig. »Nur Hosni Mubarak!«
Ihre Unterstützung für Mubarak bedeutete nicht, dass sie der Regierung und deren Partei kritiklos gegenüberstünden. Am stärksten treibe die Leute das Thema Privatisierung um, besonders der Verkauf des staatlichen Krankenhauses an einen Privatkonzern. »Die Leute hier haben kein Geld für medizinische Versorgung«, beschwerte sich Sayyed. »Die Imam-Shafei-Mädchenschule wurde auch verkauft. Die Leute sind verärgert.« Sayyed schlug mir vor, ich solle zu den Wahlkampfkundgebungen am Abend wiederkommen.
In der Abenddämmerung erwachte die Stadt der Toten zum Leben. Die Cafés waren randvoll mit Männern. Am Straßenrand werkelten Mechaniker an Automotoren und Motorrädern. Leute gingen spazieren, unbekümmert in der Gesellschaft ihrer Ahnen. Sayyed und Hag warteten im Café, in dem wir uns am Morgen getroffen hatten. In ihrem zerbeulten alten Auto machten wir uns auf die Suche nach dem Wahlkampfkonvoi von Nasser Shurbagi, einem unabhängigen Kandidaten. Wir fanden ihn schließlich in den brechend vollen, hell erleuchteten Straßen des pulsierenden Viertels unterhalb der gewaltigen Mauern der Zitadelle. Die Anlage war im 12. Jahrhundert unter Saladin verstärkt worden, jenem Sultan von Ägypten, der in der Schlacht bei Hattin in Palästina am 4. Juli 1187 die Kreuzfahrer geschlagen hatte.
»Nasser Shurbagi in die Volksversammlung, Nasser Shurbagi!«, verkündete ein Lautsprecher von der Ladefläche eines Lastwagens. Zwischen den Durchsagen schlugen auf dem Laster Trommler auf ihre Instrumente. Shurbagi, lächelnd, die glänzende Halbglatze von dunklem Haar umkränzt, hielt seinen Konvoi an, um einer Gruppe potenzieller Wähler die Hand zu schütteln. Er versprach, Straßen zu reparieren, sicherzustellen, dass die Lebenden die Stadt der Toten nicht verlassen müssten, und das Krankenhaus wieder in den öffentlichen Sektor zurückzuführen. Als er in seinem ramponierten orangefarbenen Auto davonfuhr, blaffte ein Jugendlicher: »Scheißlügen!«
Die meisten Lebenden in der Stadt der Toten waren nicht ins Wahlregister eingetragen und misstrauten den Polizeirevieren, in denen die Wahlscheine ausgestellt wurden. Sie gingen davon aus, dass Stimmzettel von Toten den Vorsprung der NDP noch weiter vergrößern würden.
Der Wahltag war bestimmt von einer niedrigen Wahlbeteiligung, gewaltsamen Zusammenstößen und Anschuldigungen von Wahlbetrug und Mehrfachstimmabgaben. In Wahlkreisen, in denen bei der Parlamentswahl 2005 die Opposition Erfolge erzielt hatte, verwehrte man Kandidaten, Beobachtern und Wählern den Zugang zu den Stimmlokalen. Um 508 Parlamentssitze bewarben sich 5200 Kandidaten, 1100 von ihnen von Parteien aufgestellt, davon 780 allein von der NDP. Auch die Mehrheit der 4100 unabhängigen Kandidaten gehörte zur NDP. Die Partei war entschlossen, sich bis zur Präsidentschaftswahl 2011 eine solide Mehrheit zu sichern. Mubarak war ihr einziger Kandidat. Von 40 Millionen ägyptischen Wahlberechtigten sollen bei dieser Parlamentswahl nur 10 Prozent ihre Stimme abgegeben haben. Es waren die letzten Wahlen unter Mubarak.
Kairo, Ägypten, Juli 1961
Ein Bediensteter in Kaftan und Kappe öffnete die Tür der großzügigen Villa in der Mohamed-Mazhar, einer Zamaleker Straße voller prächtiger Villen im italienischen Stil, gebaut von Politikern und Kaufleuten, die während des britischen Protektorats ein Vermögen gemacht hatten. Ich wurde durch geräumige Zimmer mit hohen Decken geführt, die Fensterläden waren gegen die Hitze und das gleißende Licht geschlossen, die Möbel mit Tüchern verhängt, als ob der Besitzer lange verreist wäre.
Sitt Leila Doss empfing mich auf der Veranda mit Blick auf das unruhige braune Wasser des Nils – sitt heißt Frau. Der Nachmittagstee wurde serviert und meine zarte Porzellantasse mit Untertasse einem fragilen Tischchen auf staksigen Beinen anvertraut. Constantine Vlachopoulos, ein griechischer Freund vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), hatte mir Leila Doss’ Telefonnummer gegeben und gesagt, sie könne mir etwas über die sich wandelnde Rolle der Frau in diesem zutiefst konservativen Land sagen. Leila Doss erzählt...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorab
  6. 1 Aufbruch
  7. 2 Ausbruch
  8. 3 Freiheit
  9. 4 Autonomie
  10. 5 Gewalt
  11. 6 Auswege
  12. 7 Grenzen
  13. 8 Abkehr
  14. 9 Glauben
  15. 10 Befreiung
  16. 11 Verlust
  17. 12 Schutz
  18. 13 Sturz
  19. 14 Abbruch
  20. 15 Aufbau
  21. 16 Werden
  22. Nachwort
  23. Dank
  24. Autorin