Psyche und Soma
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Psyche und Soma

Erkenntnisse und Implikationen der Analytischen Psychologie

Renate Daniel, Ralf T. Vogel

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Psyche und Soma

Erkenntnisse und Implikationen der Analytischen Psychologie

Renate Daniel, Ralf T. Vogel

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The complex theory developed by C.G.Jung and his insights into emotion, imagination, and the creative power of the psyche prepared the way for current research on the effects of placebos and interactions between the psyche and the immune system. Jung=s conception of the body&mind relationship is helpful in overcoming inappropriate notions of causality and blame. According to the theory, prevention and treatment of physical diseases are not possible without taking the psyche into account. Numerous case studies from psychotherapeutic practice illustrate the explanations given here.

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Information

Year
2020
ISBN
9783170371842

1 Empirische Forschungen zum Zusammenspiel von Psyche und Körper

1.1 C.G. Jungs Wort-Assoziationsstudien – Emotion, Imagination und Körper

Im Jahr 1903 hat C.G. Jung während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erste Forschungen aufgenommen, die wichtige Hinweise zur Wechselwirkung von Körper und Psyche lieferten. Allerdings stand zu Beginn der Forschungen nicht das Leib-Seele-Problem im Zentrum seines Interesses, sondern die Frage nach psychischen Gesetzmäßigkeiten in gesunden Menschen. Um herauszufinden, was in gesunden Menschen seelisch vor sich geht, führten Jung und seine Kollegen zahlreiche Wort-Assoziationsstudien durch. Bei diesen empirischen Studien wurden gesunden Versuchspersonen nacheinander insgesamt einhundert einzelne Wörter zugerufen – eher neutrale wie Tisch, Monat oder Glas, aber auch Worte wie Tod, Stolz oder lügen. Die Versuchspersonen sollten dann so rasch wie möglich das erste Wort nennen, das ihnen in den Sinn kam. Die jeweilige Assoziation wurde notiert und zudem die Zeitspanne zwischen dem zugerufenen Wort und der Antwort gemessen. In der zweiten, sogenannten Reproduktionsphase des Tests wurde den Probanden nochmals alle einhundert Wörter einzeln vorgelesen, mit der Bitte, alle zuvor gegebenen Antworten zu wiederholen. Die richtige oder fehlerhafte Reproduktion wurde ebenfalls dokumentiert.
Dieser Wort-Assoziationstest war im Jahr 1903 nicht neu, doch Jung interessierte sich im Gegensatz zu früheren Forschern erstmals für sogenannte Störungen. Es fällt nämlich auf, dass die spontanen Antworten bei niemandem durchgehend glatt erfolgen. Manchmal antwortet ein Proband erst nach einigem Zögern, ein anderes Mal verspricht er sich, wiederholt das zugerufene Wort, antwortet mit mehreren Wörtern oder gestikuliert, um nur einige Auffälligkeiten zu nennen. Interessanterweise sind solche Störungen bei keiner Person chaotisch verteilt, sondern weisen einen Zusammenhang auf. Jung hat anhand zahlreicher Beispiele eine innere Logik dieser Störungen aufzeigen können. Als beispielsweise ein Proband auf die Begriffe Wasser, Schiff, See und schwimmen nur sehr zögerlich reagierte und zudem alle Antworten falsch erinnerte, stellte sich in der Nachbesprechung heraus, dass er in einer verzweifelten Lebensphase an Selbstmord durch Ertränken gedacht hatte (Jung, GW Bd. 2, § 743ff.). Vier Worte haben zu einem persönlich bedeutsamen und hochemotionalen Thema geführt. Und solche emotional relevanten Themenfelder hat Jung gefühlsbetonte Komplexe genannt.
Den Komplex definierte er als eine Entität aus mehreren, ineinander verwobenen Komponenten. Zu ihm gehören alle im Gedächtnis gespeicherten Beziehungserfahrungen und Vorstellungen zu einem Thema. Beim Mutter-Komplex wären das persönliche Episoden, Bilder, Gedanken, Überzeugungen bzw. Wahrnehmungen des Mütterlichen. Das sind Erlebnisse mit unserer leiblichen Mutter, aber auch Erfahrungen mit anderen, als mütterlich empfundene Personen oder Lebenssituationen. Und all diese Komplexbilder und -erfahrungen sind untrennbar verknüpft mit Gefühlen, bzw. einer ganzen Gefühlspalette. Dabei sind unsere Komplexe grundsätzlich keine pathologischen, sondern normale Strukturen der Psyche, vergleichbar mit unseren körperlichen Organen. Und wie diese mehr oder weniger gesund bzw. krank sein können, so ist es auch bei unseren Komplexen.
Nach der Entdeckung der Komplexe wollte Jung den Zusammenhang zwischen Komplexreaktionen und Körper besser verstehen, weshalb er bei den Wort-Assoziationstests einige körperliche Parameter gemessen hat, nämlich Atmung, Puls sowie die elektrische Leitfähigkeit der Haut. Die elektrische Leitfähigkeit der Haut – der Hautwiderstand, der von der Schweißdrüsenaktivität abhängt und vom Sympathikusnerv des vegetativen Nervensystems gesteuert wird – stand wenige Monate zuvor bereits im Zentrum der Untersuchungen des Zürcher Neurologen Otto Veraguth. Er hatte Probanden etwas vorgelesen und dabei festgestellt, dass sich die Leitfähigkeit der Haut immer dann verändert, wenn man an gefühlsbetonte Textpassagen gelangt. Indifferente Wörter blieben dagegen ohne Einfluss. Nur Worte, die eine hinreichend intensive Gefühlsreaktion bewirkten, veränderten die Leitfähigkeit der Haut (Jung, GW Bd. 2, § 1043). Die Probanden schwitzten also, sobald sie emotional erregt waren.
Ausgehend von diesen sowie den eigenen empirischen Untersuchungen mit dem Wort-Assoziationstest hat Jung geschlussfolgert, dass alle emotionalen Vorgänge mehr oder weniger deutlich die Leitfähigkeit der Haut beeinflussen (Jung, GW Bd. 2, § 1080). Jedes Wort, das zu einem Komplex führt und eine Emotion hervorruft, verändert die elektrische Leitfähigkeit der Haut und zwar direkt proportional zur Lebhaftigkeit der Emotion (Jung, GW Bd. 2, § 1048). Komplexe sind somit nicht nur geistige und emotionale, sondern immer auch körperlich verankerte Phänomene; der Komplex ist eine psychosomatische Entität. Und mit der Messung der Leitfähigkeit der Haut gelang es, ein körperliches Pendant von Gefühlen objektiv zu erfassen. Der Kurvenanstieg des Messgerätes, des sogenannten Galvanometers, verdeutlichte das Ausmaß der Erregung des vegetativen Nervensystems.
Jung interessierte sich auch für die Wirkung der Emotionen auf die Atmung und stellte fest, dass emotionale Anspannung die Atmung eher verflacht und beschleunigt, während Entspannung die Atmung eher vertieft und verlangsamt (Jung, GW Bd. 2, § 1062). Angst, Wut, Trauer, Glück – jedes Gefühl verändert das Atmungsmuster, was vielen Menschen nicht bewusst ist. Zwischen der Atmungsfunktion und unseren Emotionen – so die Ergebnisse von Jung – scheint es allerdings keine so enge und tiefe Beziehung zu geben wie zwischen unseren Emotionen und dem Schweißdrüsensystem. Das verwundert nicht, denn die Atmung ist über das Bewusstsein relativ leicht zu beeinflussen, was man in der Atemtherapie nutzen kann. Die Schweißsekretion ist der bewussten Kontrolle hingegen nicht zugänglich (Jung, GW Bd. 2, § 1062). Diese Autonomie der Schweißreaktion mag der Grund gewesen sein, warum man beim sogenannten Lügendetektor den Hautwiderstand als Beweismittel für Wahrheit oder Lüge gelten ließ. Doch die Ergebnisse von Veraguth und Jung belegen m. E., dass ein Lügendetektor lediglich zeigen kann, dass eine emotionale Erregung vorhanden ist, wenn man schwitzt, aber nicht welches Thema bzw. welcher Komplex diese emotionale Erregung auslöst. Nur durch eine sorgfältige Befragung können die Komplexe und somit die psychischen Hintergründe einer solchen vegetativen Reaktion herausgefunden werden. Nicht nur eine Lüge kann uns schwitzen lassen sondern auch Komplexthemen, die mit Gefühlen wie Scham, Angst oder Ohnmacht verknüpft sind. Umgekehrt werden Personen, die beim Lügen nicht emotional erregt sind, etwa weil sie kein schlechtes Gewissen haben, keine vegetative Reaktion und somit keinen Messausschlag zeigen.
Vor Jung und Veraguth hatte 1890 bereits der russische Physiologie Iwan R. Tarchanoff gemessen, dass sich der Hautwiderstand seiner Probanden ändert, wenn er sie im Gesicht oder an den Fußsohlen mit einer Feder kitzelte. Er kam dann auf die Idee, eine solche Berührung nur anzukündigen und stellte fest, dass es bereits dabei zu Messausschlägen kam. Neugierig geworden, forderte er Probanden nun auf, sich an Gefühle der Angst, Furcht oder Freude zu erinnern. Auch da gab es Ausschläge des Messinstrumentes. Wenn seine Probanden abstrakte Arbeiten erledigten, etwa Rechenaufgaben lösten, gab es keine Messausschläge. Auch Tarchanoffs Ergebnisse deuteten somit auf eine Verbindung zwischen inneren Vorstellungen, Emotionen und Körperphänomenen hin (Jung, GW Bd. 2, § 1040).
Angeregt durch Tarchanoffs Studiendesigns erforschte Jung, ob es einen Unterschied macht, jemanden mit einer Nadel zu stechen oder einen solchen Stich nur anzukündigen. Sticht man eine Versuchsperson mit einer Nadel, fügt man ihr also einen Schmerz zu, ändert sich ihr Hautwiderstand und sie beginnt zu schwitzen. Der Hautwiderstand ändert sich nun ähnlich intensiv, wenn der Reiz nur angekündigt wird. Der Körper muss also gar nicht berührt werden, sondern reagiert auf emotional erregende Erwartungen, Vorstellungen und Phantasien. Die, durch eine Imagination ausgelöste, Emotion wirkt auf den Körper. Diese relativ simplen technischen Messungen aus dem 20. Jahrhundert machen plausibel wie leicht man Menschen retraumatisieren kann. Sobald ein Wort oder ein unwillkürlich auftauchendes inneres Bild Emotionen weckt, wird das vegetative Nervensystem erregt und es laufen ziemlich autonome körperliche Erregungsprozesse ab – nichts anderes als Stressreaktionen. Doch nicht nur für traumatische Erinnerungen sind diese Ergebnisse wichtig, sondern für alle (psychotherapeutischen) Gespräche, die Emotionen wecken. Jedes Wort, das in der Lage ist, eine Emotion auszulösen, berührt den Körper über das vegetative Nervensystem. Und bei emotional leicht erregbaren Menschen springt das vegetative Nervensystem besonders schnell an. Wenn wir den Wort-Assoziationstest als standardisiertes telegrammartiges Zwiegespräch verstehen, wird klar, dass wir auch im Alltag in unseren Gesprächen ständig auf gefühlsbetonte Komplexe stoßen. Sobald wir etwas Unangenehmes gefragt werden oder im Gespräch eine heikle bzw. peinliche Thematik berührt wird, ereignen sich ähnliche Störungen wie beim Wort-Assoziationstest. Aus Erfahrung wissen wir, dass mitunter ein einziges Reizwort uns gnadenlos an einen Komplex ausliefern kann. Alles Weitere geschieht dann ziemlich autonom: Wir reagieren nicht mehr frei und souverän, sondern blockiert, verlegen, gereizt, vielleicht auch verbal ausfällig oder sogar tätlich aggressiv – häufig auf übertriebene Art und Weise. Selbst wenn wir es schaffen, äußerlich gelassen zu bleiben, kann ein Augenzucken, Zittern, Gesichtsröte, Blasswerden oder eine veränderte Stimme anzeigen, dass ein Komplex berührt worden ist.
Sobald ein problematischer Komplex angetippt wird, reagieren wir nicht nur unangemessen emotional, sondern verhalten uns des Öfteren wie früher, weil einstmals gemachte Erfahrungen an die Oberfläche drängen. Es scheint, als ob unsere Gedächtnisschatulle geöffnet und alte Denk- und Verhaltensmuster reaktiviert werden, ungeachtet dessen, ob sie in dieser Situation passend sind oder nicht. Wir projizieren ehemalige Erlebnismuster auf die aktuelle Situation, ohne uns zu vergewissern, ob das für diese Situation wirklich passt. Brian Broom geht davon aus, dass unsere Emotionsschemata – in der Sprache der Analytischen Psychologie unsere Komplexe – auf drei unterschiedlichen Ebenen im Unbewussten abgespeichert werden. Auf der ersten Gedächtnisebene sind Erfahrungen als subsymbolische Körperzustände gespeichert, also verkörpert. Darüber liegt die zweite symbolisch-nonverbale Bildebene und ganz oben die symbolische Sprachebene. Seiner Ansicht nach sind unsere Erfahrungen auf allen drei Ebenen: Körper – Bild – Sprache gleichwertig codiert (Broom, 2015, S. 372). Keine Ebene ist die Abwehr der anderen, sondern eine Facette des menschlichen Seins. Diese Sicht teilt Edward Whitmont und geht zudem davon aus, dass der therapeutische Zugang am ehesten gelingt, wenn die Ebene berührt wird, in der eine Komplexerfahrung gemacht wurde. Frühe, vorsprachliche emotionale Erfahrungen brauchen seines Erachtens deshalb körperorientierte Therapien, weil die Erfahrungen im Körpergedächtnis verankert sind – noch ohne Bilder (Whitmont, 1993, S. 94). Nach dem bisher Gesagten ist jedoch offensichtlich, dass eine verbale psychotherapeutische Arbeit mit Emotionen bzw. der Emotionsregulation bereits zu einer ersten »Berührung« des Körpers führt. Physischer sind Maltherapie oder Sandspieltherapie, indem sie Materialen zur Verfügung stellen, mit denen der Körper etwas Zwei- oder Dreidimensionales gestaltet. Noch intimer, noch physischer sind konkrete Berührungen in einer Körpertherapie.
Heute müssen Menschen für die oben beschriebenen Messungen ihrer Körperfunktionen nicht mehr zwingend in ein Labor. Dank moderner Technologie können Laien seit einigen Jahren unter Alltagsbedingungen die beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Körper, Geist und Emotion bei sich selbst untersuchen. Als der vierjährige Felix einen frühkindlichen Diabetes entwickelte, wurde er mit Messgeräten ausgestattet, die Blutzucker, Herzschlag, Hautwiderstand sowie seine Bewegungsaktivität messen. Parallel dazu wurde jede Mahlzeit aufgeschrieben sowie sein körperliches und psychisches Befinden. Als er in die Vorschule kam, fiel bei der Datenauswertung auf, dass der Blutzucker jeden Dienstagmorgen besonders steil anstieg, obwohl das Frühstück jeden Tag gleich war. Es stellte sich dann heraus, dass Felix Angst vor einem Lehrer hatte, der jeweils am Dienstagmorgen unterrichtete und diese belastende Emotion erhöhte seinen Blutzucker (Kucklick, 2014, S. 12). Ein Zusammenhang zwischen Angst und dem Stoffwechselprozess des Blutzuckers wurde nachweisbar. Emotionen und damit Komplexe – bei Felix könnte der Autoritätskomplex im Spiel gewesen sein – haben somit Auswirkungen auf viele körperliche Regelkreise, die heute immer differenzierter messbar und objektivierbar sind.

1.2 Placeboforschung – Erwartung, Hoffnung und Körper

Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Emotion, von mentaler Aktivität und Physiologie steht auch im Mittelpunkt der Placeboforschung. Sie untersucht was passiert, wenn Menschen »Medikamente« einnehmen, die keinen pharmakologischen Wirkstoff enthalten. Heute wissen wir: Ob ein Placeboeffekt eintritt und wie deutlich er ausfällt, hängt vor allem von den positiven Erwartungen ab, die ein Patient an eine Behandlung knüpft (Benedetti, 2014, S. 22). Grundvoraussetzung für den Placeboeffekt ist deshalb, dass der Behandelte weiß, welche Wirkungen das angebliche Medikament entfalten soll und er mit dieser hilfreichen Wirkung tatsächlich rechnet.
Die meisten Ergebnisse über die Wirkung von Placebos stammen aus der Schmerzforschung. Zahlreiche neurobiologische Studien haben gezeigt, dass Placebos gegen Schmerzen vor allem über das dopaminerge Belohnungssystem sowie das hirneigene Morphinsystem wirken. In etwa 35 % der Fälle wirken sie genauso wie Morphium, wobei die Aktivitäten im Gehirn vor allem das limbische System betreffen, also jene Region, die eine wichtige Rolle bei emotionalen Prozessen spielt (Benedetti, 2014, S. 109).
Im limbischen System werden sensorische Informationen, wozu auch Schmerzen gehören, emotional bewertet. Unbewusst gleichen wir Schmerzen, wie auch alle anderen Wahrnehmungen mit unserer momentanen Stimmungslage, früheren Erfahrungen und persönlichen Einstellungen ab. In der Sprache der Analytischen Psychologie erfolgt dieser unbewusste Abgleich also mit unseren Komplexen. Anschließend wird diese Information dem präfrontalen Kortex zugeleitet, jenem Areal der menschlichen Großhirnrinde, das für die bewusste Interpretation von Signalen zuständig ist. Im präfrontalen Kortex steigt die neuronale Aktivität umso deutlicher, je stärker die Probanden bei der Einnahme von Placebos an eine Linderung ihrer Schmerzen glauben. Der präfrontale Kortex ist somit maßgeblich an der Placebowirkung beteiligt. Während die heutige Forschung das Gehirn bei der Arbeit beobachten kann, war das vor 100 Jahren noch nicht möglich. Jung und andere Forscher konnten lediglich periphere körperliche Veränderungen messen wie Schweißsekretion, Atmung und Puls. Doch ihre Ergebnisse weisen bereits in die oben beschriebene Richtung: Imagination ist ein geistiges, emotionales und körperliches Phänomen. Die persische Sprache weiß bereits lange davon, denn das Wort »tajassom« heisst sowohl »verkörperlichen« und gleichzeitig »sich etwas vorstellen«.
Derzeit gilt als erwiesen, dass das Antidepressivum Fluoxetin in denselben Hirnregionen und auf ähnliche Art und Weise wirkt wie Placebos, die gegen Depressionen verabreicht werden. Auch Placebos gegen Schmerzen lösen ähnliche Veränderungen in Aktivitätsmuster des Gehirns aus, wie sie bei Behandlungen mit opioidhaltigen Schmerzmitteln zu beobachten sind. Deshalb verwundert es kaum, dass Naloxon als Opiatantagonist nicht nur die Wirkung von Schmerzmitteln, sondern auch die schmerzlindernde Wirkung von Placebos aufheben kann (Benedetti, 2014, S. 186).
Bei allen Überschneidungen dürfen aber die Unterschiede nicht übersehen werden. Opioidhaltige Medikamente aktivieren auch Hirnregionen, auf die Placebos keinerlei Wirkung haben. Das erklärt für manche, warum die Wirkung von Placebos mit der Zeit nachlässt, während Schmerzmittel ihre Wirksamkeit behalten. Allerdings könnte dieser Wirkungsverlust zumindest teilweise auch psychische Gründe haben: Jung hatte in den Wort-Assoziationstests nämlich festgestellt, dass Wiederholung von Vorstellungsbildern in der Regel zu weniger intensiven körperlichen Reaktionen führt. Jung wertete das als Erschöpfung des Reizes (Jung, GW Bd. 2, § 1056). »Schwindende Erregung« als nachlassende emotionale Beteiligung, etwa Interesselosigkeit oder Langweile bewirken eine Abschwächung des Effekts. Wenn man ein Placebo verabreicht und die Tabletteneinnahme zur täglichen Routine wird, ist das meistens keine besonders aufregende Angelegenheit mehr. Und das könnte erklären, warum die Wirkkraft eines Placebos nachlässt, denn die Intensität der ausgelösten emotionalen Erregung ist maßgeblich an der Wirkung des Placebos beteiligt.
Je intensiver man also positiv emotional berührt ist, um so eher wird eine erhoffte körperliche Wirkung eintreten. Je mehr eine Umgebung, ein Ritual, ein Setting, ein Therapiemethode beeindruckt, je mehr Positives man darauf projizieren kann, um so höher die Wahrscheinlichkeit für eine Placebowirkung. Deshalb ist bei der Verabreichung von kleinen weißen Tabletten tendenziell mit einem geringeren Placeboeffekt zu rechnen als bei der Verordnung von bunten Kapseln, Spritzen oder beeindruckenden Prozeduren. Und wenn das Schmerzmittel vom Chefarzt gespritzt wird, kann es länger wirken als wenn es ein Assistenzarzt injiziert.
Nach bisherigen Erkenntnissen sind Erwartung und Glaube die Grundpfeiler für das Zustandekommen der Placebowirkung, die eben keine »Einbildung« ist, sondern ein reales, materielles Phänomen. Im Körper geschieht etwas Stoffliches, weshalb man Placebowirkung nicht als etwas Illusionäres oder Irreales abwerten kann. Je mehr Hoffnung ein Arzt, Therapeut, aber auch ein exotisch anmutendes Ritual oder Verfahren wecken kann, um so grösser wird die Wahrscheinlichkeit einer körperlichen Wirkung. Dieses Phänomen könnte auch eine wichtige Rolle bei der Nutzung von »fragwürdigen« Methoden spielen. Wenn ein Mensch seine Hoffnung und Zuversicht auf obskure oder absurd anmutende Methoden projizieren kann, oder sogenannten Quacksalbern, Scharlatanen oder Betrügern vertraut, kann eine stoffliche Reaktion eintreten.
In diesem Zusammenhang interessiert Jungs Hinweis auf den Reiz, den eine Neuheit mit sich bringt. Neuheit versteht er als eine emotional erregende Situation, die mit der Erwartung eines Wunders einhergehen kann. Der Reiz des Neuen und Unbekannten scheint besonders geeignet für positive Zukunftsprojektionen und durch die Placeboforschung wissen wir, dass diese Erwartungen etwas Materielles bewirken können, zumindest solange das Interesse bestehen bleibt. So auch im Fall eines Patienten, der angesichts eines sehr weit fortgeschrittenen, metastasierten Lymphosarkoms aus ärztlicher Sicht nur noch wenige Tage zu leben hatte. Im Gegensatz zu den Ärzten war der Patient voller Hoffnung, weil er von einem neuen Medikament erfahren hatte, das in den nächsten Tagen zu klinischen Studien auf den Markt kommen sollte. Sein E...

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