| Ein Gelehrter in seinem Laboratorium ist nicht nur ein Techniker; er steht auch vor den Naturgesetzen wie ein Kind vor der MĂ€rchenwelt. |
Unser Universum weist bemerkenswerte RegelmĂ€Ăigkeiten auf. Wir finden zahlreiche stabile Strukturen und regelhaft miteinander interagierende Systeme vor, die von Mikroobjekten wie Atomen, ĂŒber die GegenstĂ€nde unserer alltĂ€glichen Erfahrungswelt bis hin zu Makrostrukturen wie Sonnensystemen und Galaxien reichen. Diese StabilitĂ€t und Regelhaftigkeit erfĂ€hrt ihren deutlichsten Ausdruck in den Naturgesetzen. Prominente historische Beispiele fĂŒr physikalische Gesetze sind Keplers Gesetze und Newtons Bewegungsgleichungen. Bis in die PopulĂ€rkultur vorgedrungen ist die einsteinsche Masse-Energie-Ăquivalenz E=mc2 aus der speziellen RelativitĂ€tstheorie. Der gesetzmĂ€Ăige Charakter unserer Welt (oft auch als ânomischerâ oder ânomologischer Charakterâ bezeichnet; von griechisch nĂłmos fĂŒr âGesetzâ) macht NaturvorgĂ€nge vorhersagbar und erlaubt uns, natĂŒrliche Systeme auf spezifische Weise zu manipulieren. Dies wiederum bildet die Grundlage fĂŒr alle Formen der Technologie wie wir sie heute kennen. Naturgesetze spielen ĂŒberdies eine wichtige Rolle in wissenschaftlichen ErklĂ€rungen und sind somit unverzichtbar fĂŒr unser VerstĂ€ndnis der Natur. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Entdeckung der Naturgesetze im Mittelpunkt (naturâ)wissenschaftlicher Untersuchungen steht.
Neben Marie Curie wĂŒrdigen andere berĂŒhmte Physikerinnen und Physiker die zentrale Bedeutung der Naturgesetze. So tragen Richard Feynmans berĂŒhmte populĂ€rwissenschaftliche Messenger Lectures aus dem Jahre 1967 den Titel The Character of Physical Law und in der Einleitung zu seinem dreibĂ€ndigen monumentalen Standardwerk Feynman Vorlesungen ĂŒber Physik urteilt er ĂŒber das in den vorhergegangenen zwei Jahrhunderten massiv angewachsene physikalische Wissen:
Ăberraschenderweise ist es trotz der gewaltigen Arbeit, die in dieser Zeit geleistet wurde, möglich, die enorme Menge von Ergebnissen weitgehend zu verdichten â das heiĂt, Gesetze zu finden, die all unser Wissen zusammenfassen (Feynman 1963: 1 â 1, unsere Ăbersetzung).
In dem 1982 unter anderem von Paul Dirac und Piotr Kapitza verfassten Erice Statement, einem auch heute wieder brandaktuellen PlĂ€doyer fĂŒr die Freiheit der Forschung und fĂŒr nukleare AbrĂŒstung, das von ĂŒber 10.000 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und zahlreichen Regierungschefs unterzeichnet wurde, heiĂt es: âIn der Tat ist die Wissenschaft das Studium der fundamentalen Naturgesetzeâ. Deshalb sollten
Wissenschaftler, die all ihre Zeit dem theoretischen oder experimentellen Studium der grundlegenden Naturgesetze widmen möchten, auf keinen Fall fĂŒr diese freie Wahl, ausschlieĂlich reine Wissenschaft zu betreiben, leiden. (Dirac, Kapitza, Zichichi 1982, unsere Ăbersetzung)
Roger Penrose schlieĂlich eröffnet sein Werk The Road to Reality â A Complete Guide to the Laws of the Universe mit den folgenden Worten:
Der Zweck dieses Buches ist es, den Lesern ein GefĂŒhl dafĂŒr zu vermitteln, was zweifelsohne eine der wichtigsten und aufregendsten Entdeckungsreisen ist, die die Menschheit je unternommen hat: Die Suche nach den grundlegenden Prinzipien, die das Verhalten unseres Universums bestimmen. (Penrose 2004: xv, unsere Ăbersetzung)
Angesicht der groĂen Bedeutung der Naturgesetze fĂŒr die (Naturâ) Wissenschaften ist es unumgĂ€nglich, âdass die Natur eines Naturgesetzes ein zentrales ontologisches Anliegen der Wissenschaftsphilosophie sein mussâ (Armstrong 1983: 4, unsere Ăbersetzung).
Die Erforschung der Naturgesetze ist jedoch nicht nur ein zentraler Bestandteil der (naturâ)wissenschaftlichen Praxis und unseres (philosophischen) VerstĂ€ndnisses derselben. Der Begriff des Naturgesetzes ist aufs Engste mit den ĂŒbrigen sogenannten ânatĂŒrlichen ModalitĂ€tenâ verbunden, zu denen die natĂŒrliche oder physikalische Notwendigkeit, die objektive Wahrscheinlichkeit, der Determinismus, kontrafaktische Konditionale, die KausalitĂ€t und die DispositionalitĂ€t oder PotenzialitĂ€t zĂ€hlen.
Veranschaulichen wir uns einige dieser Verbindungen anhand der folgenden Aussagen: Der Stift in meiner Hand wird nicht nur herunterfallen, wenn ich ihn loslasse, sondern in einem gewissen Sinne muss er dies auch (natĂŒrliche Notwendigkeit). Es ist ĂŒberdies wahr, dass, wenn ich ihn loslieĂe, er auch herunterfallen wĂŒrde (kontrafaktisches Konditional) und dass er auf folgende Weise disponiert ist: zu fallen, wenn er losgelassen wird; und schlieĂlich hat mein Loslassen verursacht, dass er heruntergefallen ist. Es ist schwer zu sehen, wie diese Aussagen ohne die Annahme entsprechender naturgesetzlicher RegularitĂ€ten wahr sein könnten (vgl. Carroll 2012). Dementsprechend spielen Naturgesetze auch eine zentrale Rolle in den wichtigsten philosophischen Analysen von natĂŒrlicher Möglichkeit und Notwendigkeit (Lewis 1973a: 5, Maudlin 2007: 21), objektiver Wahrscheinlichkeit (Lewis 1994),1 kontrafaktischen Konditionalen (Chisholm 1946, Goodman 1947, 1955/1983, Lewis 1973a, Maudlin 2007: 21), KausalitĂ€t (Mackie 1974, Armstrong 1997: Kap. 14, Paul & Hall 2013),2 und Dispositionen (Hochberg 1967).3 Es ist jedoch zu beachten, dass die engen Verbindungen zwischen dem Begriff des Gesetzes, des kontrafaktischen Konditionals, der Verursachung und so weiter per se noch nichts ĂŒber die Richtung und Art der zugrundeliegenden metaphysischen AbhĂ€ngigkeiten implizieren (siehe Kap. 2 fĂŒr unterschiedliche Positionen bezĂŒglich dieser AbhĂ€ngigkeiten).
NatĂŒrliche ModalitĂ€ten wiederum spielen in zahlreichen Debatten aus allen Bereichen der Philosophie bis hin zur praktischen Philosophie eine zentrale Rolle. In der Debatte um den freien Willen beispielsweise steht die folgende Frage im Mittelpunkt: Wenn unsere Handlungen kausal oder naturgesetzlich vollstĂ€ndig determiniert sind, hĂ€tte dann eine Person anders handeln können, wenn sie dies gewollt hĂ€tte? Diese Frage wiederum hat direkte Implikationen fĂŒr die Moralphilosophie, da Freiheit eine notwendige Bedingung fĂŒr moralische Verantwortung zu sein scheint.4 Indem die Philosophie die Verbindung zwischen Naturgesetzen und den ĂŒbrigen natĂŒrlichen ModalitĂ€ten erhellt, vermittelt sie also auch zwischen der wissenschaftlichen Konzeption der RealitĂ€t und dem vortheoretischen Weltbild unserer alltĂ€glichen Erfahrung: Kurzum, Naturgesetze bilden einen integralen Bestandteil unserer wissenschaftlichen, philosophischen und alltĂ€glichen Konzeption der RealitĂ€t.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Behauptung einiger Philosophen sehr ĂŒberraschend, dass es sich beim Naturgesetzesbegriff um ein ĂŒberholtes Konzept aus dem 17. und 18. Jahrhundert handelt, welches in den aktuellen Wissenschaften keine substanzielle Rolle mehr spielt und deshalb eliminiert werden sollte (vgl. Schramm 1981, van Fraassen 1993: 432, Giere 1995).
Es ist sicherlich richtig, dass â[d]ie Rede von der GesetzmĂ€Ăigkeit der Natur zu Zeiten Descartes' und Newtons [âŠ] in einem theologischen Kontext statt[fand], der fĂŒr die Naturwissenschaft heute (zumindest offiziell) nicht mehr existiertâ (Hampe 2007: 16; siehe unser Kap. 1.5 fĂŒr eine sehr kurze Geschichte der Naturgesetze). Es scheint aber schlichtweg nicht zuzutreffen, dass er sich fĂŒr die zeitgenössischen Wissenschaften als obsolet erweist, zumindest nicht, wenn man den ĂuĂerungen namhafter Physiker nach urteilt. So stellt auch Stephen Hawking die Bedeutung der Naturgesetze heraus, wenn er in seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Zeit mutmaĂt, dass â[âŠ] wir Grund zu vorsichtigem Optimismus haben. Möglicherweise stehen wir jetzt wirklich kurz vor dem Abschluss der Suche nach den letzten Gesetzen der Naturâ (Hawking 1988: 196). Zwar mag Hawking, wie John Earman (1993: 418) bemerkt hat, hier etwas zu optimistisch gewesen sein. Allerdings sei es wenig plausibel, âeine [eliminativistische] Gesetzesauffassung zu vertreten, die impliziert, dass er [Hawking] falsch liegen mussâ (ebd., unsere Ăbersetzung). Dass die Elimination der Naturgesetze dem wissenschaftlichen SelbstverstĂ€ndnis fĂŒhrender Physiker widerspricht, lĂ€sst sich auch eindrĂŒcklich an einer Passage aus Steven Weinbergs Dreams of a Final Theory: The Search for the Fundamental Laws of Nature verdeutlichen. Hier entgegnet Weinberg Ludwig Wittgensteins Behauptung, dass â[d]er ganzen modernen Weltanschauung [âŠ] die TĂ€uschung zugrunde [liegt], dass die sogenannten Naturgesetze die ErklĂ€rungen der Naturerscheinungen seienâ (Wittgenstein 1921/2001: 6.371), mit den folgenden Worten: âSolche Warnungen lassen mich kalt. Einem Physiker mitzuteilen, dass die Naturgesetze keine ErklĂ€rungen fĂŒr natĂŒrliche PhĂ€nomene sind, ist wie einem Beute auflauernden Tiger mitzuteilen, dass alles Fleisch Gras istâ (Weinberg 1992: 28 f., unsere Ăbersetzung).
Man kann sich nur vorstellen, was Weinberg Philosophen entgegnen wĂŒrde, die die Bedeutung und Existenz von Naturgesetzen schlichtweg leugneten. Es scheint also, dass die Elimination der Naturgesetze einer rationalen Rekonstruktion des wissenschaftlichen Tuns im Wege steht. Deshalb stimmen wir entgegen einem Gesetzeseliminativismus mit Jonathan Cohen und Craig Callender ĂŒberein, âdass es sehr schwer wird, Sinn aus der tatsĂ€chlichen wissenschaftlichen Praxis und der Geschichte der Wissenschaften zu machen, ohne sich auf Naturgesetze zu berufenâ (Cohen & Callender 2009: 3, unsere Ăbersetzung).
Ăberdies ist ein Naturgesetzeseliminativismus aufgrund der eingangs erwĂ€hnten engen Verbindung zwischen Naturgesetzen und den ĂŒbrigen natĂŒrlichen ModalitĂ€ten problematisch: Es ist schwer zu sehen, wie Naturgesetze eliminiert werden können, ohne dabei Gefahr zu laufen, auch kontrafaktische Konditionale, KausalitĂ€t, DispositionalitĂ€t und die ĂŒbrigen natĂŒrlichen ModalitĂ€ten zu tilgen (vgl. Roberts 2008: 11, Carroll 2012).
Dementsprechend scheint die Elimination des Naturgesetzesbegriffs drastische Revisionen unserer wissenschaftlichen, philosophischen und alltĂ€glichen RealitĂ€tskonzeption zu erfordern. Dies bedeutet natĂŒrlich nicht, dass ein Gesetzeseliminativismus als theoretische Option ausgeschlossen ist (siehe unsere Klassifikation in Kap. 2.0). Da wir es jedoch vorziehen, von Annahmen auszugehen, die vortheoretisch plausibler und weniger revisionistisch sind, halten wir im Folgenden am Naturgesetzesbegriff fest und unterziehen ihn einer eingehenden Untersuchung.
Um uns mit unserem Untersuchungsgegenstand besser vertraut zu machen, wollen wir nun einige Beispiele fĂŒr Kandidaten fĂŒr Naturgesetze aus den Wissenschaften etwas genauer vorstellen.5