Fall 1: âIm schönen Portugalâ
Schwerpunkte: Vertrag von Lissabon, Ăbertragung der Hoheitsgewalt auf die EuropĂ€ische Union, Verfassungsbeschwerde, Integrationsverantwortung, Prinzip der begrenzten EinzelermĂ€chtigung, ĂberprĂŒfbarkeit der Urteile des EuGH durch das BVerfG
Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU einigten sich im Oktober 2007 in Lissabon auf einen neuen Rahmenvertrag fĂŒr die EU. Dieser wird unterteilt in einen Vertrag ĂŒber die EuropĂ€ische Union (EUV) und einen Vertrag ĂŒber die Arbeitsweise der EuropĂ€ischen Union (AEUV). Durch Ratifizierung des Vertragswerks in allen seinerzeit 27 Mitgliedstaaten sollte die Integration in der EU weiter gestĂ€rkt werden.
Im Vertrag von Lissabon sind unter anderem enthalten:
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zahlreiche Kompetenzerweiterungen fĂŒr die EU gegenĂŒber den Mitgliedstaaten
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die Auflösung des SÀulenmodells mit der Folge der (begrenzten) Supranationalisierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit
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ein vereinfachtes VertragsÀnderungsverfahren gemÀà Art. 48 EUV
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ein dezidierter Kompetenzkatalog (Artt. 3 â 6 AEUV)
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in Art. 6 EUV Regelungen bezĂŒglich der Grundrechte der EuropĂ€ischen Union
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in Art. 5 EUV die Prinzipien der SubsidiaritÀt und der begrenzten EinzelermÀchtigung
DiesbezĂŒglich wird ein Zustimmungsgesetz von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht. Die Beteiligung des Bundestages wird zudem durch ein Begleitgesetz zum Zustimmungsgesetz gesichert. In diesem Begleitgesetz sind zahlreiche Informationspflichten der Bundesregierung und Vetorechte fĂŒr den Bundestag geregelt. In der Bundesrepublik Deutschland werden das Zustimmungsgesetz und das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon mit einer Mehrheit von zwei Dritteln im Bundestag und im Bundesrat verabschiedet.
G als wahlberechtigter deutscher StaatsbĂŒrger ist ĂŒber die bevorstehende Ratifizierung des Vertrags von Lissabon empört und wendet sich direkt an das Bundesverfassungsgericht. Er ist der Meinung, dass seine Stimme als Stimme eines demokratisch orientierten BĂŒrgers in einem demokratisch ausdifferenzierten Deutschland stetig weniger wert werde und er zugleich weniger Einfluss auf die stĂ€ndigen schlechten Nachrichten âaus BrĂŒsselâ nehmen könne. Zwar mag das Grundgesetz europarechtsfreundlich ausgestaltet sein, jedoch sieht G sich als Konservativer i.S.d. Grundgesetzes und meint, die VerfassungsidentitĂ€t innerhalb deutscher SouverĂ€nitĂ€t wĂŒrde schwinden. Deshalb sei das Zustimmungsgesetz verfassungswidrig.
AuĂerdem sei das Begleitgesetz hinsichtlich der Befugnisse des nationalen Parlaments nicht hinreichend weit ausgestaltet. Bei dem VertragsĂ€nderungsverfahren i.S.d. Art. 48 EUV mĂŒsse der Bundestag umfangreicher beteiligt werden. Die bisherige Regelung, nach der nach Zustimmung zum Vertrag von Lissabon ein Schweigen des Bundestages und des Bundesrates genĂŒge, reiche nicht aus. Es sei zumindest eine aktive Mitwirkung des Bundestages erforderlich. Deshalb sei auch das Begleitgesetz verfassungswidrig.
1. Komplex: Ausgangskonstellation
Wird G mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg haben?
2. Komplex: Zusatzfrage
G ist der Meinung, ein neues Urteil des EuGH sei von den Kompetenzen der
EU nicht mehr gedeckt. Unter welchen Voraussetzungen kann G vor dem Bundesverfassungsgericht ein Handeln der EU auĂerhalb ihrer Kompetenzen rĂŒgen?
3. Bearbeitungsvermerk
Im 2. Komplex sind verfassungsprozessuale Aspekte nicht zu prĂŒfen. Die KompetenzergĂ€nzungsklausel i.S.d. Art. 352 AEUV ist im Rahmen einer etwaigen Kompetenz-Kompetenz nicht zu berĂŒcksichtigen.
4. Vertiefung
BVerfGE 35, 1; 4, 157; BVerfGE 123, 267; vgl. BVerfGE 47, 253, 269; 89, 155, 171; BVerfGE 112, 50/60; BVerfGE 114, 258, 279; vgl. BVerfGE 102, 147: Bananenmarkt nach Solange II; BVerfG, Beschluss vom 6. 7. 2010 â 2 BvR 2661/06; Honeywell; vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn 51.
Gliederung
- 1.
-
Komplex: Ausgangskonstellation
- A.
-
ZulÀssigkeit
- I.
-
ZustÀndigkeit des Bundesverfassungsgerichts
- II.
-
VerfahrensabhÀngige ZulÀssigkeitsvoraussetzungen
- 1.
-
BeschwerdefÀhigkeit
- 2.
-
Beschwerdegegenstand
- 3.
-
Beschwerdebefugnis
- a)
-
Verfassungsrechtliches Recht des G
- aa)
-
Gefahr der Aushöhlung der Parlamentskompetenz
- bb)
-
Personelle Legitimation
- b)
-
Selbstbetroffenheit und gegenwÀrtige Betroffenheit
- c)
-
Unmittelbare Betroffenheit
- 4.
-
Besonderes RechtsschutzbedĂŒrfnis
- a)
-
Rechtswegerschöpfung
- b)
-
Keine SubsidiaritÀt
- 5.
-
Form, Antrag und Frist
- III.
-
Zwischenergebnis
- B.
-
BegrĂŒndetheit
- I.
-
Schutzbereichseingriff
- II.
-
Rechtfertigung (+/â)
- 1.
-
Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon
- a)
-
Formelle VerfassungsmĂ€Ăigkeit
- aa)
-
ZustÀndigkeit
- (1)
-
Völkerrechtlicher Vertrag (â)
- (2)
-
Unionsrecht
- bb)
-
Verfahren
- cc)
-
Form
- dd)
-
Zwischenergebnis
- b)
-
Materielle VerfassungsmĂ€Ăigkeit (â)
- aa)
-
Strukturvorgaben i.S.d. Art. 23 GG
- bb)
-
VerfassungsidentitÀt gemÀà Art. 79 Abs. 3 GG
- (1)
-
Demokratieprinzip i.S.d. Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG (â)
- (a)
-
Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
- (b)
-
Begrenzte EinzelermÀchtigung
- (c)
-
Anspruch des BĂŒrgers auf Teilhabe an der öffentlichen Gewalt
- (d)
-
Grenze in der Ăbertragung
- (e)
-
Zwischenergebnis (+/â)
- (2)
-
Rechtsstaatsprinzip (â)
- c)
-
Zwischenergebnis (â)
- 2.
-
Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon (â)
- a)
-
Formelle VerfassungsmĂ€Ăigkeit
- b)
-
Materielle VerfassungsmĂ€Ăigkeit (â)
- C.
-
Annahme
- D.
-
Ergebnis (+/â)
- 2.
-
Komplex: Zusatzfrage
Lösungsvorschlag
Die folgende Lösung ist als Lösungsvorschlag zu verstehen und ausfĂŒhrlicher, als es in der Klausurbearbeitung verlangt werden kann. Aufgrund der wissenschaftlichen Freiheit können andere Lösungswege vertreten werden, soweit sie dogmatisch begrĂŒndbar sind. Die Nachweise aus Rechtsprechung und Literatur sowie die das VerstĂ€ndnis fördernden Randbemerkungen sind in der Examensklausur auszusparen. Die AbkĂŒrzung âAlt.â steht fĂŒr Alternativfall, nicht fĂŒr Alternative.
1. Komplex: Ausgangskonstellation
Die Verfassungsbeschwerde des G hat Erfolg, soweit sie zulĂ€ssig und begrĂŒndet ist.
Anders als im Verwaltungsrecht muss nicht der Terminus Sachurteils- bzw. Sachentscheidungsvoraussetzungen verwendet werden, weil das BVerfG nur bei enumerativ zugewiesenen Verfahren zustÀndig und weder eine § 65 Abs. 2 VwGO noch eine § 17a Abs. 2 GVG vergleichbare Norm ersichtlich ist. § 17a Abs. 2 GVG ist in verfassungsrechtlichen Verfahren nicht anwendbar.
A. ZulÀssigkeit (+)
Die Verfassungsbeschwerde kann zulÀssig sein.
I. ZustÀndigkeit des Bundesverfassungsgerichts (+)
Das Bundesverfassungsgericht muss fĂŒr die Verfassungsbeschwerde zustĂ€ndig sein. Das Bundesverfassungsgericht ist fĂŒr ein Verfahren zustĂ€ndig, wenn eine ausdrĂŒckliche Zuweisung besteht. Verfassungsbeschwerden sind dem Bundesverfassungsgericht gemÀà Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG zugewiesen. Das Bundesverfassungsgericht ist fĂŒr die Verfassungsbeschwerde des G zustĂ€ndig.
II. VerfahrensabhÀngige ZulÀssigkeitsvoraussetzungen (+)
Es ist sinnvoll, auf der ersten Gliederungsebene eine Ăberschrift âVerfahrensabhĂ€ngige ZulĂ€ssigkeitsvoraussetzungenâ zu bilden, um herauszustellen, dass jedes dem BVerfG enumerativ zugewiesene Verfahren von eigenstĂ€ndigen Voraussetzungen abhĂ€ngig ist. Zudem erfolgt eine Angleichung an verwaltungsrechtliche Verfahren, in denen auch besondere Sachurteils- oder Sachentscheidungsvoraussetzungen zu
Die verfahrensabhĂ€ngigen Voraussetzungen i.S.d. §§ 90 ff. BVerfGG i.V.m. Art. 94 Abs. 2 GG der dem Bundesverfassungsgericht enumerativ zugewiesenen Verfassungsbeschwerde mĂŒssen erfĂŒllt sein.
Ungeschickt wĂ€re es, die Ăberschrift âParteifĂ€higkeitâ anstelle der âBeschwerdefĂ€higkeitâ zu wĂ€hlen, weil der Begriff Partei hĂ€ufig mit einem Zwei-Parteien-Prozess assoziiert wird. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch kein kontradiktorisches Verfahren.
1. BeschwerdefÀhigkeit (+)
G kann beschwerdefĂ€hig sein. BeschwerdefĂ€hig ist, wer geeignet ist, an dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde beteiligt zu sein â gemÀà § 90 Abs. 1 BVerfGG ist dies âJedermannâ. Jedermann ist jeder, der TrĂ€ger von Grundrechten ist, also auch G als natĂŒrliche Person, der TrĂ€ger von Rechten â unter anderem der Freiheitsgrundrechte und des Wahlrechts â sein kann.
2. Beschwerdegegenstand (+)
Beschwerdegegenstand i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG kann jede MaĂnahme der öffentlichen Gewalt sein. Dass alle MaĂnahmen der öffentlichen Gewalt erfasst sind, ergibt sich unter anderem aus den §§ 93, 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG. GegenstĂ€nde der Verfassungsbeschwerde des G können das Zustimmungsgesetz und das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon als Akte der Legislative sein. Dazu mĂŒssten sie Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein können.
Problematisch ist, dass fĂŒr eine Verfassungsbeschwerde ein Akt erforderlich ist, welcher bereits abgeschlossen ist, weil anderenfalls seitens des Bundesverfassungsgerichts ungerechtfertigt in die Kompetenzen anderer Gewalten eingegriffen werden könnte. GemÀà Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG ist ein Gesetz erst wirksam, wenn es vom BundesprĂ€sidenten ausgefertigt, vom Bundeskanzler gemÀà Art. 58 S. 1 GG gegengezeichnet und im Bundesgesetzblatt verkĂŒndet ist. Insoweit könnte davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht vor der Ratifizierung ĂŒber die VerfassungsgemĂ€Ăheit eines Gesetzes entscheiden darf. Allerdings ist einerseits ein effektives Mitwirken der Bundesrepublik Deutschland im besonderen Völkerrecht gemÀà Art. 32 GG unter Mitwirkung der Organe im InnenverhĂ€ltnis i.S.d. Art. 59 GG erforderlich, andererseits eine effektive Mitwirkung an der EuropĂ€ischen Union. Eine solche Mitwirkung einerseits als Bundesstaat i.S.d. Art. 20 Abs. 1 GG im AuĂenverhĂ€ltnis, andererseits der Organe im Binnenrecht ist nur möglich, wenn das Bundesverfassungsgericht als Judikative und HĂŒter der Verfassung im Binnenrecht vor der Ratifizierung mit der Folge einer möglichen Bindung auch im AuĂenverhĂ€ltnis vor dem Eintritt der Bindungswirkung ĂŒber die VerfassungsmĂ€Ăigkeit von Gesetzen entscheiden kann.
Zudem gehört die Ratifizierung zwar zum Gesetzgebungsverfahren, jedoch erfolgt diese bei ânach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetzenâ, sodass auch ein nicht ratifiziertes Gesetz zumindest eine Vollendungsvorstufe erreicht hat. In praktischer Konkordanz zu dem sich unter anderem aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Rechtsstaatsprinzip ist § 90 Abs. 1 BVerfGG verfassungskonform auszulegen und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG derart zu beachten, dass eine Verfassungsbeschwerde vor der Ratifizierung möglich ist, wenn es um Zustimmungen auf völkerrechtlicher Ebene geht, damit eine verfassungswidrige völkerrechtliche Bindung durch das Bundesverfassungsgericht verhindert werden kann (BVerfGE 35, 1; 4, 157).
Somit sind das Zustimmungs- und das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon BeschwerdegegenstÀnde.
3. Beschwerdebefugnis (+)
G muss gemÀà § 90 Abs. 1 BVerfGG beschwerdebefugt sein. Beschwerdebefugt i.S.d. § 90...