
Autobiographisches Schreiben nach 1989
Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren
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Autobiographisches Schreiben nach 1989
Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren
About this book
Wird ĂŒber die Reaktion auf die, Wende' diskutiert, werden oft die ehemaligen DDR-BĂŒrgerInnen als ein Kollektiv betrachtet, dem eine gemeinsame Art des Denkens, FĂŒhlens und Handelns zugeschrieben wird. Das Geschehen wird aber von den einzelnen Akteuren in der eigenen LebenserzĂ€hlung jeweils individuell verortet. FĂŒr jeden ist es ein "anderes Zeitalter seiner selbst" (W. Pinder). Das Denken an die DDR und an das Jahr 1989 mĂŒssen polyphon verstanden werden.
In diesem mehrstimmigen Chor lassen sich gewisse gleichklingende Einheiten unterscheiden, die von SoziologInnen als generationsspezifisch wahrgenommen werden. Generationsspezifische Selbstverortung kann auch in zahlreich erschienenen autobiographischen Schriften ostdeutscher SchriftstellerInnen beobachtet werden. Diese Texte können als Medium der Darstellung und Reflexion der individuellen Erinnerung und der konstruierten IdentitĂ€t angesehen werden. Mit der Publikation der eigenen Lebensgeschichte beanspruchen die AutorInnen soziale Relevanz fĂŒr die im literarischen Text vollzogene IdentitĂ€tskonstruktion. Individuelle Vergangenheitsversionen dienen sozialen Gruppen schlussendlich auch dazu, kollektive IdentitĂ€ten zu entwerfen und dadurch ihre Wertesysteme zu legitimieren.
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Information
1 Politische UmwÀlzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen
1.1 Die âWendeâ als Störerfahrung der IdentitĂ€t
Der Sieg der demokratischen Opposition in Polen bedeutet die Wiedergewinnung der vollen nationalen und staatlichen SouverĂ€nitĂ€t. Der Abriss der Berliner Mauer hat die Ostdeutschen aus ihrer Isolation befreit; die spezifische Transformation mit der Wiedervereinigung, die praktisch eine Einverleibung in die Bundesrepublik gewesen ist, hat jedoch den Verlust der eigenen SubjektivitĂ€t und eine tiefe ReprĂ€sentationskrise mit sich gebracht. Den Deutschen zwischen Elbe und Oder ist die lange Phase des Ăbergangs erspart geblieben. Sie sind sozusagen als BĂŒrger des SED-Staates abends zu Bett gegangen und am nĂ€chsten Morgen als BĂŒrger der Berliner Republik aufgestanden.3
Ein Jahr Deutsche Einheit. Ich lebe in Freiheit. Sehnlichste WĂŒnsche â jedenfalls solche, die ich dafĂŒr hielt â haben sich erfĂŒllt: Ich reise frei herum, ich sage unzensiert meine Meinung, ich finde Zugang zu allen Informationen, die ich brauche, ich darf Menschen treffen und sprechen, wie ich will, ich verdiene mehr Geld, ich renoviere ein altes Haus, um endlich (48jĂ€hrig!) aus einer 30-qm-Neubauwohnung zu entkommen, und ich habe einen wunderbaren neuen Gebrauchtwagen aus dem Westen. Endlich ein richtiges Auto!6
Der IdentitĂ€tsbruch ist auch der Grund, weshalb keine Freude aufkommen will. So viel gewonnen und doch nicht zufrieden? Ich lebe in zwei Welten und bin in keiner wirklich zu Hause. [âŠ] Ich stecke mitten in einem Verlust-Syndrom, das ich nicht annehmen wollte, solange ich es als DDR-Verlust-Syndrom diagnostizierte. Da hatte ich meinen Stolz: Das konnte doch nicht wahr sein, daĂ der Untergang dieses verachteten Systems, wenn ich es auch lĂ€ngst als ambivalent besetztes, gehasst-geliebtes Objekt angenommen hatte, mich so zu irritieren vermochte. Erst die persönlichere Perspektive, der ich bei meiner Arbeit als Psychotherapeut nicht entgehen konnte, konfrontierte mich mit den Begriffen âTrennungâ und âOrientierungsverlustâ.8
In der ehemaligen DDR hat sich die Erfahrung des politischen Umbruchs, wie er in Deutschland nach dem Krieg stattfand, mit ,Wendeâ und Wiedervereinigung wiederholt. Nach 1945 war nicht nur der Nationalsozialismus geschlagen; die MĂ€nner, die fĂŒr ihn in den Krieg gezogen waren, sofern sie ĂŒberlebten, waren es auch. In Ostdeutschland kam 1989 wiederum eine Entwertung der Machthaber zustande. Diese doppelte Umbruchsituation, bezogen auf die radikale Umbewertung von GrundĂŒberzeugungen innerhalb breiterer Schichten der Bevölkerung, prĂ€gt die Biografie nicht weniger Ostdeutscher. [âŠ] Mit der Wiedervereinigung verloren die Ostdeutschen ihre alten Existenzbedingungen. Es wiederholte sich eine Situation, die mit der Nachkriegszeit Ăhnlichkeit aufweist. Menschen wurden â wie damals die FlĂŒchtlinge â zu âFremden im eigenen Landâ (Simon und Faktor 2000). Eine Entwurzelung von ehemals gesicherten Arbeits-, Wohn-, und BeziehungsverhĂ€ltnissen fand statt, IdentitĂ€ten brachen zusammen. Biografien vor allem von ,Ă€lterenâ, d.h. ĂŒber 40-jĂ€hriger Menschen, verloren Sinn und Bedeutung.9
1.2 Die Erinnerung an die DDR
WirkungsmĂ€chtig ist schlieĂlich in unserer Zeit vor allem der Strom postkommunistischer BewĂ€ltigungsbiographien, der die nachtrĂ€gliche Auseinandersetzung mit dem Zeitalter des Kommunismus so eklatant vom beredten Schweigen der Ich-ErzĂ€hlungen nach dem Ende des Nationalsozialismus unterscheidet. Sie alle arbeiten sich an der autobiographischen Brucherfahrung ab, welche die Hinwendung zur Idee des Sozialismus und ihrem Staat nach 1945 ebenso mit sich brachte wie spĂ€ter die Ablösung von ihr â und nach 1989 das Verschwinden kommunistischer Systeme in Europa.10
Der sozialistische Traum lÀsst mehr Lesarten zu als der nationalsozialistische Zivilisationsbruch. Auch wer die DDR als totalen Unrechtsstaat begreift und die Aufarbeitung des Kommunismus nach 1945 umstandslos an der BewÀltigung des Nationalsozialismus nach 1945 misst, wird schwerlich bestreiten können, dass die wie immer pervertierte Weltanschauung der kommunistischen Bewegung humanitÀrere Ziele anstrebte als die Ideologie des Nationalsozialismus. Anders gesagt: Bertolt Brecht und Anna Seghers sind selbstverstÀndlicher Teil der literarischen Moderne; Artur Dinter oder Erich Edwin Dwinger sind es ebenso selbstverstÀndlich nicht.13
Table of contents
- Title Page
- Copyright
- Contents
- 1âPolitische UmwĂ€lzungen von 1989/1990 und ihre Konsequenzen
- 2âZum Problem der Generationen
- 3âZum Wesen des Autobiographischen aus literaturwissenschaftlicher Sicht
- 4âSelbstsakralisierung der Generation der Misstrauischen Patriarchen (1893â1916). Zum GrĂŒndungsmythos der DDR
- 5âIm Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925â1935)
- 6âGeneration mit stabiler Bindung? Die Funktionierende Generation (1936â1948)
- 7âDas Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen im DDR-GenerationsgefĂŒge â die Integrierte Generation (1949â1959)
- 8âGeneration Trabant, Generation â89, Zonenkinder? Die Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs
- 9âPhantomschmerz der Wende-Kinder (1973â1984)
- 10âZum Wert eines Idealtypus oder die Frage der Periodisierung. Ausblick
- Polyphonie ostdeutscher Erinnerung an die DDR. Zeittafel
- Siglenverzeichnis
- Personenregister