Was ist das Spanische? Jede Sprache ist in erster Linie eine „idea in the mind“, wie es Milroy (2001: 543) für Standardsprachen ausdrückt. Dies gilt nicht nur für die Repräsentation, die wir von festgelegten und weithin akzeptierten sprachlichen Normen einer Standardsprache haben, sondern es gilt auch für das Gesamtbild einer ‚Einzelsprache‘, selbst wenn diese nicht standardisiert oder kodifiziert ist. Was wir als eine Sprache wahrnehmen, basiert auf einer kollektiven Konstruktion dessen, was wir uns unter dieser Sprache vorstellen. Es ist die Oberfläche eines stets andauernden Prozesses von Language Making.5
Mit dem Konzept Language Making ist gemeint, dass bewusst oder unbewusst durch menschliches Handeln imaginierte bzw. konstruierte Einheiten entstehen, die wir als Einzelsprachen erfassen. Diese Sprachen werden als abgrenzbar konzeptualisiert, in der Regel erhalten sie Namen oder Labels und sie werden mit Normen belegt. Eine Rolle spielen dabei häufig strukturelle Normen wie Orthographie, eine präskriptive Grammatik oder ein kodifizierter Wortschatz, aber auch bei nicht formal kodifizierten Sprachen bestehen funktionale Normen wie bestimmte Gebrauchskonventionen oder -vorschriften, soziale Konnotationen des Sprachgebrauchs und weithin akzeptierte bzw. abgelehnte Verwendungsdomänen für Sprachformen, die als Teil der benannten Einheit ‚Einzelsprache‘ gesehen werden. Ausgeschlossen werden dabei Erscheinungsformen, die als nicht dem vermeintlich abgegrenzten Normsystem zugehörig angesehen werden. Makoni und Pennycook (2005) sprechen in diesem Zusammenhang von „disinventing“ und „(re)constitution“ von Sprachen. Language Making ist keineswegs gleichbedeutend mit Standardisierung oder gar Sprachplanung, denn Verwendungsnormen und -konventionen, Abgrenzungen und Labels können auch auf Sprachformen angewendet werden, die nicht strukturell standardisiert oder beispielsweise verschriftlicht sind.
Getragen wird das Language Making von Spracheinstellungen und sprachideologischen Grundlagen. Dragojevic (2017: 3) fasst den Begriff Spracheinstellung recht knapp als „evaluative reactions to different language varieties. “ Im vorliegenden Fall geht es also darum, wie Menschen das Spanische bewerten, insbesondere im Kontext ihrer eigenen Lernabsichten. Die wertenden Reaktionen lassen sich weiter aufgliedern, etwa als „sets of beliefs about language articulated by the users as a rationalization or justification of perceived language structure and use“ (Silverstein 1979: 193). Damit wird deutlicher, dass die Wertung an innersprachliche Eigenschaften geknüpft werden kann, etwa ästhetische Wahrnehmungen der Aussprache oder Konnotationen des Wortschatzes, aber auch an die Sprachnutzung an sich. Letzteres ist beispielsweise häufig der Fall, wenn die übermäßige Nutzung des Englischen in Domänen wie der Werbung oder der Wirtschaftskommunikation beklagt wird. Spracheinstellungen sind zunächst Haltungen der Einzelperson gegenüber einer sprachlichen Erscheinungsform:
Unter Spracheinstellungen verstehen wir zu Haltungen verfestigte Meinungen eines Individuums zu Sprache und Sprechern, die mit den jeweiligen individuellen sprachlichen und allgemeinen (tatsächlichen oder vermeintlichen, stabilen oder vagen) Wissensbeständen in Beziehung stehen; als psychische Dispositionen können sie entscheidungs- und handlungsleitend sein; sie können den Sprechern in weiten Teilen unbewusst sein; und sie sind individuell unterschiedlich scharf konturiert.
(Adler / Plewnia 2018: 63)
Die psychischen Dispositionen, die hier zunächst nur angedeutet werden, lassen sich nach Dragojevic (2017: 3) als eine „tripartite view of attitudes“ einteilen in kognitive, affektive und Verhaltenskomponenten.6 Die Einstellungen von einzelnen Personen fügen sich zusammen zu übergeordneten Ideologien, die von vielen Individuen geteilt werden. Man kann Sprachideologien deshalb als eine Art ‚shared subjectivity‘ sehen, als subjektive Blicke auf Sprache, die von vielen Individuen geteilt werden. Woolard (2007: 130) beschreibt die Wirkungsweise von Ideologien wie folgt: „La ideología no refleja sino que refracta las relaciones sociales que la generan y que a la vez son organizadas por ella.“ Die Existenz von Einzelsprachen wird demnach aus sozialen Verhältnissen generiert; sie ist damit in gewissem Sinne virtuell, aber dennoch in der Wahrnehmung der Sprachgemeinschaft und in ihrer Sprechpraxis sehr real. Auch Kroskrity (2004: 497, 505) hebt zu Recht hervor, dass man Spracheinstellungen und -ideologien nicht ohne Weiteres als bewusste Größen annehmen kann: Sie bleiben oft implizit und unhinterfragt. Ziel der Forschung ist es daher, sie an die Oberfläche zu holen. Da der Entscheidung für das Erlernen einer bestimmten Sprache zumeist ein Reflexionsprozess vorausgeht, kann man in diesem Zusammenhang davon ausgehen, dass die Spracheinstellungen relativ leicht zugänglich sind. Anders als in Situationen, in denen beispielsweise gesellschaftliche Tabus betroffen sind, dürfte im vorliegenden Fall also das Bewusstsein für die eigenen Haltungen zur Sprache und auch die Bereitschaft, darüber Auskunft zu geben, recht hoch sein.
Mit der Wahl des Spanischen als Fremdsprache schließen sich die Lernenden einer Gemeinschaft an, die mit ihren Praktiken, ihren Vorstellungen und Einstellungen das Spanische formt. Sie werden damit Teil einer Diskursgemeinschaft, die basierend auf ihren Sprachideologien mitentscheiden, was das Spanische ist und welche Bedeutung es für sie hat (Valle 2007a: 17, Paffey 2012: 80–103, Kroskrity 2004: 501). Während Irvine/Gal (2000: 77) in der Soziolinguistik einen „shift of attention from linguistic communities to linguistic boundaries“ beobachten, so hat das Konzept des Language Making das Potenzial, beides zusammenzuführen. Die in den späteren Kapiteln vorgestellten Befragungen testen kleine Diskurselemente, die auf Spracheinstellungen rückschließen lassen und damit ein Stück weit offenlegen, wie die Lernenden sich eine Vorstellung des Spanischen bilden.
Zentral für Language Making ist, dass der Prozess nie abgeschlossen ist, ebenso wie auch Spracheinstellungen und -ideologien wandelbar sind. Eine Sprache als Sprache wird stets wieder neu konstruiert bzw. ihr Status als Sprache bestätigt und gefestigt, und zwar durch das Sprechen bzw. Schreiben in der Sprache und über die Sprache, mit Bourdieu gesprochen: „[L]es ‚langues‘ n’existent qu’à l’état pratique, c’est-à-dire sous la forme d’habitus linguistiques au moins partiellement orchestrés et de productions orales de ces habitus“ (Bourdieu 2001 [1982]: 72). Auch wenn Bourdieu in erster Linie seinen linguistischen Markt innerhalb einer Sprachgemeinschaft ansiedelt und darin die Sanktionierung bzw. Legitimität bestimmter Formen in den Blick nimmt, lasse...