1. Einleitung
Schwarzenberg, eine Provinzstadt im westlichen Erzgebirge, war der Verwaltungssitz des gleichnamigen Landkreises, der nach Ende des Krieges im Mai/Juni 1945 fĂŒr kurze Zeit von den alliierten Truppen aus bisher ungeklĂ€rten GrĂŒnden nicht besetzt wurde. Die Darstellung des politischen Geschehens in diesem kleinen, so genannten Niemandsland unterlag einem Wandel, der in seiner Gesamtheit betrachtet, eine Vielzahl an WidersprĂŒchen offenbart. Bereits in der DDR war eine Diskrepanz spĂŒrbar. Die so genannten Aktivisten der ersten Stunde, die im Mai 1945 in der Stadt Schwarzenberg putschartig die VerwaltungsgeschĂ€fte ĂŒbernahmen, wurden entsprechend dem Geschichtsbild der DDR als Helden der revolutionĂ€ren Arbeiterbewegung geehrt. Schulen und StraĂen trugen ihre Namen. Denkmale wurden ihnen gesetzt. Die Bewohner der Stadt, die diese Zeit erlebt hatten, erinnerten sich hingegen an Hunger, Ăngste, Beschlagnahmen, Verhaftungen und beginnende Repressalien seitens der neuen Machthaber. Erfahrene Wirklichkeit und gelehrte Theorie klafften weit auseinander.
Stefan Heym modifizierte in seinem 1984 erschienenen Roman Schwarzenberg die Geschehnisse, indem er seine Sozialismus-Theorie im Schwarzenberger Niemandsland des Jahres 1945 ansiedelte.
Erneut traten die VorgĂ€nge der Schwarzenberger Nachkriegszeit nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus an die Ăffentlichkeit. 1995 veranstaltete die PDS ein Kolloquium in Schwarzenberg und versuchte, Stefan Heyms Theorie nutzend, sich eine neue IdentitĂ€t zu verschaffen. Im Gedenken an die Tage im Mai 1945 wurden StraĂenspektakel organisiert, als böte allein der Umstand der fehlenden BesatzungsmĂ€chte Grund zum Feiern. Der fĂŒr diese sechs Wochen als Bezeichnung erfundene Begriff Freie Republik Schwarzenberg wurde zum Synonym fĂŒr das Geschehen in dem besatzungslosen Gebiet. Ein erneuertes Geschichtsbild war geschaffen. Fortan befragten die Medien das letzte noch lebende Mitglied des damaligen Schwarzenberger Aktionsausschusses wie einen exotischen Zeitzeugen. Die Aktivisten der ersten Stunde wurden wieder gefeiert, wĂ€hrend die StraĂenschilder, die ihre Namen trugen, bereits entfernt waren, die Schulen umbenannt und die Denkmale weitgehend verschwunden. Die kommunistischen Akteure wurden als Helden der Freien Republik Schwarzenberg wiedergeboren.
Die sich aus dem Wandel der Darstellungen und der offensichtlichen Vermischung von Legenden ergebende Frage nach dem tatsĂ€chlichen Geschehen, nach den Akteuren, den GrĂŒnden und Zielen ihres Handelns, war der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Es galt herauszufinden, ob und in welcher Diskrepanz die Geschichtsbilder zur Wirklichkeit stehen. Gab es Unterschiede zwischen der politischen Entwicklung im besatzungslosen Gebiet und der in der sowjetisch besetzten Zone? Wie konnte ein lokales Geschichtsereignis durch Kolportage eine ĂŒberregionale politische Bedeutung erlangen? Wem und welchem Interesse diente die jeweilige Interpretation?
Zur Beantwortung dieser Fragen und zur KlĂ€rung der komplexen ZusammenhĂ€nge wurde ein Untersuchungszeitraum von 1920 bis 1950 gewĂ€hlt. Die Untersuchung beschrĂ€nkt sich vorrangig auf die Stadt Schwarzenberg. Besondere Beachtung findet dabei das Schicksal des Dr. Ernst Rietzsch, der von 1921 bis 1945 als BĂŒrgermeister in Schwarzenberg tĂ€tig war.
2. Vorgeschichte â Der Landkreis und die Stadt Schwarzenberg
Im 19. Jahrhundert unterschied sich die Entwicklung Schwarzenbergs nicht wesentlich von der anderer sĂ€chsischer KleinstĂ€dte. Wie in ganz Sachsen gab es auch im Landkreis Schwarzenberg eine rasche industrielle Entwicklung. Der Bergbau hatte keine ĂŒberragende Bedeutung mehr, kam aber nie gĂ€nzlich zum Erliegen. Die dominierenden Industriezweige waren die Metall verarbeitende Produktion, Holzverarbeitung und die Papier- und Pappenindustrie. Handwerks- und Familienbetriebe, Heimarbeit und kleinere Fabriken existierten bis Mitte des 20. Jahrhunderts neben den zu GroĂbetrieben expandierenden Werken. Die Produktionsstandorte verteilten sich nicht nur auf die StĂ€dte, sondern selbst auf kleinere Dörfer, von denen einige zu beachtlichen Industriedörfern wuchsen. Diese Entwicklung brachte einen Anstieg der Einwohnerzahlen mit sich. In Schwarzenberg stieg die Zahl zwischen 1880 und 1910 von 3.462 auf 8.490 Einwohner und 1933 zĂ€hlte die Stadt bereits 12.104 Einwohner.1 1939 kamen in Sachsen 349 Einwohner auf einen Quadratkilometer und 1946 war Sachsen mit 327 Einwohnern pro Quadratkilometer das am dichtesten besiedelte Land der Sowjetischen Besat-zungszone (SBZ). Im stark industrialisierten Sachsen war der Arbeiteranteil unter der Bevölkerung schon immer hoch. 1924 erreichte dieser knapp 20 %. Dem gegenĂŒber lag der Anteil der Arbeiter in Bayern bei fast 10 % und im Deutschen Reich bei ca. 12 %.
Wirtschaftliche Krisen wirkten sich entsprechend hart aus. Die Zahl der HauptunterstĂŒtzungsempfĂ€nger unter den Erwerbslosen stieg in Sachsen innerhalb des Jahres 1923 von 18.025 auf 268.622 an.2 Im Dezember des Krisenjahres 1931 zĂ€hlte Sachsen 4,5 % anerkannte Wohlfahrtserwerbslose und lag damit deutlich ĂŒber dem Durchschnitt des Reiches von 2,7 %.3
Die Landwirtschaft spielte im Erzgebirge nie eine bedeutende Rolle. Der Landkreis Schwarzenberg umschloss eine FlÀche von etwa 560 km2. Schwarzenberg als alter Verwaltungssitz beherbergte bis 1946 die Amtshauptmannschaft beziehungsweise das Landratsamt Schwarzenberg.
Schwarzenberg, Nordansicht mit der ehemaligen Amtshauptmannschaft
Quelle: Fotoarchiv L. Lobeck
3. Von Jalta nach Schwarzenberg â Die Situation 1945
Einigkeit ĂŒber eine Teilung Deutschlands herrschte zwischen den drei alliierten MĂ€chten des Zweiten Weltkrieges, USA, GroĂbritannien und Sowjetunion, bereits auf der Konferenz in Teheran (28. November â 1. Dezember 1943). Auf der Alliierten- Konferenz in Jalta (4. â 11. Februar 1945) wurden die TeilungsplĂ€ne konkretisiert. Unter Einbeziehung Frankreichs als zusĂ€tzliche Besatzungsmacht wurde die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen mit einem gemeinsamen Kontrollrat vereinbart. Ăber die Notwendigkeit der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und die Entwaffnung Deutschlands als Grundlage der Besatzungspolitik bestand in Jalta weitgehende Ăbereinstimmung. Ungelöst blieben lediglich Details der Reparationsfrage.
Knapp einen Monat nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ĂŒbernahmen die militĂ€rischen Oberbefehlshaber der vier SiegermĂ€chte mit einer gemeinsamen ErklĂ€rung am 5. Juni 1945 die Regierungsgewalt. Dies geschah jeweils unabhĂ€ngig in den vier Besatzungszonen und mit der Konstituierung des Alliierten Kontrollrates in Deutschland. Berlin wurde in vier Sektoren geteilt.
Am 9. Juni 1945 gab die Sowjetische MilitĂ€radministration in Deutschland (SMAD) mit dem Befehl Nr. 1 ihre GrĂŒndung bekannt. Marschall Ćœukov wurde Chef der SMAD.
Entsprechend dem 1. Zonenabkommen vom 12. September 1944 erfolgte bis zum 5. Juli 1945 die Regulierung der Demarkationslinie. Zonengrenze zwischen der SBZ und dem von den West-Alliierten besetzten Teil war nun die Linie LĂŒbeck-Helmstedt-Eisenach-Hof.
Die Planungen fĂŒr ein Nachkriegsdeutschland erwiesen sich vor allem fĂŒr die Sowjetunion als kompliziert und zwiespĂ€ltig. Einerseits war sie, aus verschiedenen GrĂŒnden, auf das BĂŒndnis mit den WestmĂ€chten angewiesen. Andererseits wollte sie die eigenen politischen Vorstellungen in ihren Besatzungsgebieten geltend machen und spĂ€ter auf ganz Deutschland ausweiten. Unter diesen Gesichtspunkten sollten in der SBZ Angehörige des BĂŒrgertums in den politischen Prozess eingebunden und auf ein sozialrevolutionĂ€r akzentuiertes Programm vorerst verzichtet werden.
In Vorbereitung dieser PlĂ€ne wurden seit 1944 emigrierte oder kriegsgefangene deutsche Kommunisten in verschiedenen sowjetischen Schulungsheimen fĂŒr ihre Arbeit im Nachkriegsdeutschland entsprechend vorbereitet und ab April 1945 zur ErfĂŒllung ihrer Aufgabe in die SBZ entsandt. Die deutschen Kommunisten mussten ihre eigene Politik den sowjetischen Interessen, der notwendigen Fortsetzung der alliierten BĂŒndnispolitik, unterordnen. Das fĂŒhrte zu Spannungen zwischen den Moskau-Heimkehrern und den Kommunisten, welche die NS-Zeit in ZuchthĂ€usern, Konzentrationslagern oder in der IllegalitĂ€t in Deutschland ĂŒberlebt hatten.
Mit dem von den Moskau-Kadern Anton Ackermann, Walter Ulbricht und Gustav Sobottka Anfang Juni 1945 entworfenen, mit Dimitroff abgestimmten und von Stalin gebilligten Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 19454 wurde die Grundlinie der kĂŒnftigen KPD-Politik festgelegt. Nun galt es, die in der SBZ bereits agierenden Kommunisten von der Richtigkeit des neuen Parteiprogramms zu ĂŒberzeugen. Vielerorts hatten nach Kriegsende Kommunisten, nicht selten gemeinsam mit Sozialdemokraten, AktionsausschĂŒsse oder Antifa-Komitees gebildet, deren Ziele unter anderem die Beseitigung des NS-Regimes, die Vorbereitung eines Machtwechsels im antifaschistischen Sinne und der Beginn des Wiederaufbaus waren. Mitunter galten ihre politischen PlĂ€ne der sofortigen Errichtung eines Sozialismus nach sowjetischem Vorbild. Sie konstituierten sich in Wohnbezirken oder Betrieben. Bisweilen ĂŒbernahmen sie auch gemeindliche Verwaltungsaufgaben oder ĂŒbten politischen Einfluss auf die noch bestehenden Verwaltungen aus. Wollten sich diese selbststĂ€ndig gegrĂŒndeten AusschĂŒsse der neuen Moskauer Parteilinie und den neuen FĂŒhrungskadern nicht kritiklos unterordnen, griff die Parteileitung mit restriktiven MaĂnahmen in deren Personalpolitik ein. In Sachsen ĂŒbernahm diese Aufgabe Anton Ackermann.5
Am 8. Mai 1945 waren einige kleine Territorien in Deutschland von den alliierten Truppen noch nicht besetzt worden. Eines dieser besatzungslos gebliebenen Gebiete lag im westlichen Erzgebirge. Die Amerikaner waren in Auerbach und Zwickau stationiert, die Kommandantur der Roten Armee befand sich in Annaberg. Ein dazwischenliegendes, etwa mit dem Gebiet des damaligen Landkreises Schwarzenberg ĂŒbereinstimmendes Territorium und die kreisfreie Stadt Aue waren vorerst ohne MilitĂ€rkommandanturen der BesatzungsmĂ€chte geblieben. Im Norden reichte das unbesetzte Gebiet kurzzeitig ĂŒber die Landkreisgrenzen hinaus und schloss als gröĂere Ortschaften die StĂ€dte Stollberg und Oelsnitz ein.
Die allmĂ€hliche Besetzung des Landkreises begann am 9. Juni 1945, also zum Zeitpunkt der Konstituierung der SMAD in Berlin. An diesem Tag hieĂ es in einem Artikel der Lokalzeitung Erzgebirgischer Volksfreund: »Der Einmarsch der russischen Besatzungstruppen in den Auer Bezirk, der sich in diesen Stunden in voller Ordnung vollzieht [âŠ]«6. Am 12. Juni 1945 wurde vom Antifaschistischen Bund in Schneeberg gemeldet, dass es, nach Ankunft der sowjetischen Besatzungsmacht, Aufgabe und Pflicht eines jeden Antifaschisten sei, seine Einstellung und Gesinnung durch das Hissen der roten Fahne zu bekunden.7 In der letzten Ausgabe des Erzgebirgischen Volksfreund vom 15. Juni 1945 wurden der RĂŒckzug der Amerikaner aus dem Chemnitzer Gebiet sowie das NachrĂŒcken und der momentane Standort der Roten Armee bekannt gegeben.8 Die Besetzung des Landkreises erfolgte also zeitgleich mit den Truppenbewegungen, die in den vereinbar...