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Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert
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Dieser Band ist ein Beitrag zu einer historisch orientierten Konfessionskunde. Inhaltliche Kristallisationspunkte bilden die Manifestation politisch motivierter Toleranz am Ende des 18. Jahrhunderts, das Anwachsen des protestantischen Selbstbewusstseins um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Etablierung neuer Nationalstaaten und -kirchen am Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs und die Entwicklungen um das Jahr 1989. Insgesamt werden die Weite und PluralitÀt des protestantischen Spektrums im 19. Jahrhundert und die unterschiedlichen Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen im 20. Jahrhundert besonders betont.
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Information
Kapitel 1 Der Protestantismus unter der Dominanz der katholischen Staatskirchen Westeuropas
Die VerhĂ€ltnisse in den hier vorgestellten LĂ€ndern waren sehr unterschiedlich, hatten aber eines gemeinsam: Die protestantischen Kirchen â so klein oder groĂ sie auch waren â lebten im 19., teils noch im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen eines katholischen Staatskirchentums oder wenigstens einer kulturellen und demographischen Dominanz des Katholizismus. Dies gilt fĂŒr die Staaten, die unter dem Begriff âItalienâ zu subsumieren sind, ebenso fĂŒr Spanien und Portugal. Hier blieben die Protestanten eine Marginalie, wenn auch die Waldenser fast wider Erwarten ĂŒberlebten und sich der italienische Protestantismus im 19. Jahrhundert in einem gewissen Rahmen vitalisierte. In Frankreich waren die VerhĂ€ltnisse andere, da der heftiger Verfolgung ausgesetzte reformierte Protestantismus durch das elsĂ€ssische Luthertum VerstĂ€rkung erfuhr und sich schon im 19. Jahrhundert die Rechtsstellung der Protestanten entscheidend verbesserte. Dies kann auch von Ăsterreich gesagt werden, wo das Josephinische Toleranzpatent von 1781 eines der Urdaten moderner Toleranzpolitik darstellt. EigentĂŒmlich waren die VerhĂ€ltnisse im von England beherrschten, genuin katholischen Irland, wo eine protestantische Staatskirche etabliert wurde. Ganz eigen sind die VerhĂ€ltnisse dann in den weiterhin in diesem Kapitel behandelten LĂ€ndern.
Schon hier sollte, nicht zuletzt an den Beispielen Frankreich und Italien, deutlich werden, dass die protestantischen Minderheitenkirchen weithin vernetzt waren, und dies natĂŒrlich vor allem mit den protestantischen Mehrheitskirchen in der Schweiz, England und Deutschland. Frömmigkeit und Theologie, Vorstellungen zum VerhĂ€ltnis von Staat und Kirche, Lieder und Traktate wurden ĂŒber LĂ€ndergrenzen hinweg vermittelt, und Prediger, Pfarrer und Nichttheologen schlugen durch ihre MobilitĂ€t BrĂŒcken fĂŒr den Transfer neuer Entwicklungen.
A. FRANKREICH
1. Von der UnterdrĂŒckung bis zur bĂŒrgerlichen Toleranz
Nach einer Phase der Ausbreitung und Duldung im 16. Jahrhundert hatten die französischen Protestanten nicht erst mit dem Widerruf des Toleranzedikts von Nantes im Jahre 1685 Verfolgung und UnterdrĂŒckung zu erdulden. Dennoch wurde die Reformierte Kirche in Frankreich nicht zerschlagen, denn die hĂ€usliche ReligiositĂ€t und Erziehung blieben ein wichtiger Sozialisationsfaktor. Gemeinden sammelten sich im Untergrund als âKirche der WĂŒsteâ. In Paris konnten sich Protestanten, darunter auch Lutheraner, den Botschaftsgemeinden protestantischer Staaten anschlieĂen. Nach dem Tod Ludwigs XIV. (1638â1715) im Jahre 1715 beruhigte sich die Lage etwas, doch machte Ludwig XV. (1710â1774) in einer Deklaration 1724 unmissverstĂ€ndlich klar, dass das Bekenntnis zum Protestantismus verboten blieb. Immerhin wurde in den folgenden Jahrzehnten die UnterdrĂŒckung der Protestanten weniger systematisch und brutal betrieben, und in unregelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden konnten auch Nationalsynoden abgehalten werden. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich eine pragmatische Toleranz durch, die durch aufgeklĂ€rte Vorstellungen gestĂŒtzt wurde. Nun wurden auch naturrechtlich begrĂŒndete Forderungen nach Gleichberechtigung laut. Dessen ungeachtet blieb der Rechtsstatus der Protestanten ungesichert, da ihre Existenz offiziell geleugnet wurde; so waren sie weiterhin Opfer von Benachteiligungen.
1787 gewĂ€hrte König Ludwig XVI. (1754â1793) den Protestanten endlich bĂŒrgerliche Rechtsgleichheit. Die treibende Kraft dabei war der aus dem amerikanischen UnabhĂ€ngigkeitskrieg zurĂŒckgekehrte General Lafayette (1757â1834), der vom nord amerikanischen Vorbild konfessioneller Toleranz inspiriert war. Das Toleranzedikt von 17871 leugnete die bisherige brutale UnterdrĂŒckung und berief sich auf die GrundsĂ€tze der Vernunft, der Menschlichkeit und des Christentums, die Gewaltanwendung ausschlössen. Die Toleranz wurde ebenso mit dem Grundsatz der Gerechtigkeit, dem Naturrecht und nicht zuletzt mit dem Interesse des Königreiches begrĂŒndet, dem die vielen Scheinkonversionen und Emigrationen entgegenstĂ€nden. PersonenstandsfĂ€lle von Protestanten wie Geburt, EheschlieĂung und Tod sollten nun offiziell durch Beamte oder katholische Pfarrer, die auch sonst als Standesbeamte fungierten, registriert werden. Diese Regelung galt auch rĂŒckwirkend. Letztlich vergab sich der König nichts, denn die Katholische Kirche behielt ihre bevorrechtigte Stellung und das alleinige Recht auf öffentliche ReligionsausĂŒbung. Mit seiner Entscheidung lag Ludwig XVI. ungefĂ€hr auf der Linie des von Joseph II. in Ăsterreich erlassenen Toleranzpatents (s. u. Kap. 1K1). Auch in rechtlicher Hinsicht blieben die Protestanten immer noch benachteiligt, da sie nicht zum Staatsdienst zugelassen waren. Immerhin wurde nun sichtbar, dass es noch eine hohe Zahl, nĂ€mlich ungefĂ€hr eine halbe Million Reformierter in Frankreich gab.
Innerhalb des reformierten Protestantismus waren mit der AufklĂ€rung und dem Pietismus im 18. Jahrhundert zwei konkurrierende Strömungen wirksam geworden, die fĂŒr die Folgezeit von nachhaltiger Bedeutung sein sollten, da sie sich in neuer Form immer wieder zu Wort meldeten. Dabei war der Pietismus in der schwĂ€cheren Position; er sollte sich erst im 19. Jahrhundert, nun als Erweckungsbewegung, durchsetzen. Unterdessen reprĂ€sentierten die Reformierten nicht mehr allein den französischen Protestantismus, da sich die konfessionellen VerhĂ€ltnisse innerhalb des Protestantismus durch die Expansionspolitik Ludwigs XIV. geĂ€ndert hatten: Der König hatte im Zuge der âReunionenâ das Elsass Zug um Zug unter französische Herrschaft gebracht. Hier waren von den Protestanten, die etwa ein Drittel der elsĂ€ssischen Bevölkerung ausmachten, die meisten Lutheraner, allerdings gab es auch einen kleineren reformierten Bevölkerungsteil. Formell hatte der König den WestfĂ€lischen Frieden mit seinen konfessionellen Garantien akzeptiert. Die evangelischen Gemeinden blieben also erhalten, ebenso konnten die Pastoren weiterhin in StraĂburg studieren. Trotz der Rechtsgarantien wurde aber massiv die Rekatholisierung betrieben. Geeignete Mittel dazu waren die Ăbertragung von Kirchen an den katholischen Gottesdienst oder die Umwidmung zu Simultankirchen, in denen also evangelischer und katholischer Gottesdienst gehalten werden mussten. Damit war der Streit zwischen den Konfessionen vorprogrammiert, der zum Nachteil der evangelischen Seite und konkret zum Nachteil vor allem der Pfarrerschaft ausgehen musste. Trotz vieler Konversionen erwies sich das Elsass aber doch als ein Hort protestantischer Resistenz, was seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Entspannung der Lage bewirkte. Auch unter den elsĂ€ssischen Pastoren wuchs zu dieser Zeit der Einfluss der AufklĂ€rung wie auch des Pietismus.
In einer Ă€hnlichen Situation wie die Protestanten im Elsass waren die in der Grafschaft MontbĂ©liard, die als Mömpelgard seit dem Mittelalter zu WĂŒrttemberg gehörte und von Angehörigen des dortigen Herrscherhauses regiert wurde. Ludwig XIV. hatte auch dieses Territorium unter seine Herrschaft zu bringen versucht, doch mussten die französischen Truppen wieder abziehen. Erst mit dem VorstoĂ der revolutionĂ€ren französischen Armeen an den Rhein seit dem Jahr 1790 wurde das Gebiet von Frankreich vereinnahmt und gehörte dann zur Tauschmasse, die WĂŒrttemberg einbrachte, um sich dafĂŒr im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses rechts des Rheines schadlos zu halten.
2. Der Protestantismus in der Französischen Revolution und unter Napoleon
Die Katholische Kirche konnte in der Anfangsphase der Französischen Revolution ihre Stellung weithin behaupten. Auch wehrte man sich von katholischer Seite aus weiterhin gegen eine volle Gleichberechtigung des Protestantismus. In den StĂ€ndeversammlungen im Vorfeld der Revolution, deren Ergebnis die âCahiers de dolĂ©ancesâ waren, erhob der Klerus immer wieder Protest gegen die 1787 gewĂ€hrte Toleranz und forderte ihre Aufhebung im nationalen Interesse. Im Laufe der Revolution kam es auch noch zu Gewaltakten zwischen den Konfessionen, wobei Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren. Der französische Protestantismus konnte sich von den in Aussicht genommenen Reformen, die in die Revolution umschlugen, in jedem Falle eine Besserung seiner Lage erwarten. âFreiheit, Gleichheit, BrĂŒderlichkeitâ war insofern eine groĂe VerheiĂung, nicht nur auf eine Tolerierung hin, sondern auch auf die Ausbreitung des Protestantismus in der französischen Gesellschaft. Seither zĂ€hlten republikanische, antiklerikale, liberale und (meist gemĂ€Ăigt) linke Anschauungen zum Erbe protestantischer IdentitĂ€t in Frankreich, und dementsprechend fiel es protestantischen Vertretern in der Revolution nicht schwer, Toleranz auch fĂŒr das Judentum zu fordern. So engagierten sich Protestanten fĂŒr die Revolution und waren ĂŒberproportional in ihren Entscheidungs- und Vollzugsorganen vertreten, gaben sich dabei allerdings meistens nicht als Protestanten zu erkennen.
Auf protestantischer Seite stand zu Beginn der Revolution Jean-Paul Rabaut (1743â1793), genannt Rabaut Saint-Ătienne, in der ersten Reihe. Er war Abgeordneter fĂŒr NĂźmes, wo sein Vater Paul Rabaut (1718â1794) seit 1744 als Pastor gewirkt hatte und wo auch er seit 1764 als Pastor tĂ€tig war. Lafayette hatte ihn 1785 ĂŒberredet, nach Paris ĂŒberzusiedeln, um dort den Protestantismus gegenĂŒber dem Hof zu reprĂ€sentieren. Daraus ergab sich die gemeinsame Vorbereitung des Toleranzedikts von 1787. Er und andere politisch aktive Protestanten wie Antoine Barnave (1761â1793) traten dann also an die Spitze der revolutionĂ€ren Bewegung. Rabaut Saint-Ătienne gehörte zu denjenigen, die davon ĂŒberzeugt waren, dass die protestantischen Ideale sich in den revolutionĂ€ren verwirklichten. Er â noch im MĂ€rz 1790 zum PrĂ€sidenten der Verfassunggebenden Versammlung gewĂ€hlt â starb unter der Guillotine, sein Vater im GefĂ€ngnis. Auch Barnave und andere wurden Opfer des revolutionĂ€ren Terrors.
Rabaut Saint-Ătienne und Lafayette verdankte sich die Aufnahme der Glaubens- und Gewissensfreiheit in die ErklĂ€rung der Menschenrechte vom 26. August 1789. Diese betraf aber nur das Individuum, stellte doch die gleiche ErklĂ€rung die Menschenrechte unter den Vorbehalt, sie dĂŒrften die öffentliche Ordnung nicht stören. Die Religionsfreiheit blieb also weiterhin auf die private ReligionsausĂŒbung beschrĂ€nkt. Am 24. Dezember 1789 wurde den Protestanten die volle bĂŒrgerliche Gleichberechtigung und der Zugang zu allen Ămtern zugesagt. Am 10. Juli 1790 beschloss die Nationalversammlung, den Nachfahren protestantischer Auswanderer, die nach Frankreich zurĂŒckkehren wollten, den einstmals beschlagnahmten Familienbesitz rĂŒckzuĂŒbertragen, und am 15. Dezember 1790 wurde beschlossen, den RĂŒckkehrern die französische NationalitĂ€t wieder zuzuerkennen. Erst 1791 aber erhielten die Protestanten das Recht auf öffentliche ReligionsausĂŒbung. Nun konnten offiziell Gottesdienste gefeiert und auch Kirchen gebaut werden. Zwar war schon am 7. Juni 1789 der erste evangelische Gottesdienst in Paris abgehalten worden, doch war die öffentliche ReligionsausĂŒbung erst mit der Ăbertragung der Kirche Saint-Louis-du-Louvre an die Protestanten institutionalisiert. In dieser Kirche wurden dann nicht nur die Zehn Gebote, sondern auch die ErklĂ€rung der Menschenrechte angebracht. Die sich rapide verstĂ€rkende antiklerikale, antikirchliche und antichristliche Entwicklung der Revolution stellte bald darauf die evangelischen Geistlichen vor die gleiche Herausforderung wie die katholischen. Einer Integration der Katholischen Kirche in den revolutionĂ€ren Staat durch die âZivilkonstitution des Klerusâ vom Juli 1790 hatten die Protestanten zugestimmt und sich teilweise auch wohl an der Volkswahl von Bischöfen beteiligt, doch waren dann auch sie in das RĂ€derwerk der sich radikalisierenden Kirchenpolitik geraten. Pfarrer beider Konfessionen hatten zu wĂ€hlen zwischen Anpassung â sei es aus Not oder aufgeklĂ€rter Ăberzeugung â und Widerstand. Etliche evangelische Pastoren lieĂen ihr Leben unter der Guillotine; von den 215 reformierten Pastoren legten aber auch 98 ihr Amt nieder und taten es hierin vielen katholischen Pfarrern und Bischöfen gleich. Manche vollzogen diesen Schritt aus der Ăberzeugung heraus, der Revolution so besser dienen zu können. Einige Ă€uĂerten auch Genugtuung ĂŒber die BekĂ€mpfung des katholischen âFanatismusâ.2 Von den 98 traten nach dem Ende der antichristlichen Schreckenszeit 65 ihren Dienst wieder an. Das protestantische kirchliche Leben kam fĂŒr eine Weile zum Erliegen; allerdings waren die Pastoren und Gemeinden es noch gewohnt, sich zu verbergen. Anders als die katholischen Kirchen hatten die protestantischen, âTempleâ genannt, auch keine Ausstattung, die sie der Revolution als WeihestĂ€tte opfern oder von Fanatikern zerstören lassen mussten. Mit der prinzipiellen Distanzierung des Staates von der Kirche â also zunĂ€chst einmal der Katholischen â waren die Protestanten weithin einverstanden.
Mit dem Ende der revolutionĂ€ren Verfolgung nicht staatskonformer Geistlicher stellte sich wie auf katholischer Seite die Frage, wie diejenigen, die ins Exil gegangen waren oder Widerstand geleistet hatten, mit den anderen, die geblieben waren, wieder eine Kirche bilden sollten. Zum Politikum wurde diese Frage unter Napoleon, der mit dem Beginn seiner Herrschaft 1799 mit der politischen Reorganisation Frankreichs auch eine kirchliche ins Werk setzen wollte. Napoleons Interesse an der Integration der Kirche in den Staat â im Blick auf die Katholiken dokumentiert durch das Konkordat von 1801 und die Organischen Artikel von 1802 â richtete sich auch auf die Protestanten, die in ganz Frankreich ungefĂ€hr 500.000 Menschen ausmachten. Folglich wurden auch sie durch âOrganische Artikelâ von Staats wegen reglementiert. Die Kontrolle erstreckte sich, anders als gegenĂŒber dem Katholizismus, bis in die Lehre und Ordnung der Kirche hinein. Die Zielrichtung war aber die gleiche, nĂ€mlich die Schaffung eines staatskonformen Protestantismus. Angesprochen waren die âprotestantischen Kirchenâ bzw. die âverschiedenen protestantischen Gemeinschaftenâ. AusdrĂŒcklich unterschieden wurden die Reformierte und die Lutherische Kirche (Augsburgischer Konfession). Die wichtigste Organisationseinheit fĂŒr die Reformierte Kirche waren kĂŒnstliche Gemeinden, die aus 6.000 Mitgliedern bestehen sollten. Diese sollten von einem Vorstand, Konsistorium genannt, geleitet werden, der aus sechs bis zwölf Ăltesten und dem Ortspastor bestand. Solche Konsistorien â es gab derer 81 â sollten jeweils zu fĂŒnft regionale Synoden bilden dĂŒrfen, doch wurde die dafĂŒr nötige Genehmigung regelmĂ€Ăig vom Staat verweigert und somit wurde auch eine kirchliche Reorganisation von unten durch Synoden, gar durch eine Nationalsynode, unterbunden, und die bisherigen Presbyterien der Gemeinden wurden zerschlagen. Es gab dadurch auch keine ĂŒbergreifende kirchliche Institution, die den Protestantismus gegenĂŒber dem Staat hĂ€tte reprĂ€sentieren können. Das System der Konsistorien war kĂŒnstlich und vereinigte ursprĂŒnglich selbstĂ€ndige Gemeinden mit eigenen Traditionen. Die Ăltesten, die in den Konsistorien saĂen, waren wohlhabende oder durch eine öffentliche Stellung hochrangige Notabeln aus dem protestantischen BĂŒrgertum. Die Pastoren waren nun Staatsbeamte und mussten nach ihrer Wahl von Napoleon bestĂ€tigt werden.
Der Protestantismus erfuhr durch Napoleon also eine fĂŒr das 19. Jahrhundert nachhaltige Einbindung in ein âkonkordatĂ€resâ System und zugleich eine Befreiung, und so wurde die Kaiserkrönung Napoleons im Jahre 1804 von protestantischer Seite aus sehr positiv gewĂŒrdigt. AuĂerdem förderte Napoleon den Kirchenbau und lieĂ nicht mehr benötigte katholische Kirchen â hierfĂŒr boten sich seit der Revolution leerstehende Klosterkirchen besonders an â an evangelische Gemeinden ĂŒbertragen. Der Kaiser gestattete 1808 die GrĂŒndung einer lutherischen Gemeinde in Paris und ĂŒbertrug ihr eine Kirche. Evangelische Geistliche genossen jetzt wie katholische öffentliches Ansehen. Andererseits ging nun auch die Reformierte Kirche den Weg der Staatskirche, wodurch sie in ihren Wirkungsmöglichkeiten beschrĂ€nkt wurde, waren ihr doch AktivitĂ€ten auĂerhalb des gottesdienstlichen GebĂ€udes weitgehend untersagt. Mit der rechtlichen Anerkennung des Protestantismus konnten endlich Pastoren auf französischem Boden ausgebildet werden. 1729 war im schweizerischen Lausanne ein Predigerseminar gegrĂŒndet worden, an dem der gröĂte Teil der französischen Pastorenschaft ausgebildet wurde. Sie kamen durch die Ausbildung in Lausanne und Genf intensiv mit der AufklĂ€rung in BerĂŒhrung. 1808 wurde in Montauban dann auf Napoleons GeheiĂ als Konkurrenz auf französischem Boden eine Theologische FakultĂ€t gegrĂŒndet. Eine Ansiedlung in der protestantischen Hochburg NĂźmes hatte Napoleon verweigert. Die FakultĂ€t von Montauban stand bald in dem Ruf, eine Hochburg der AufklĂ€rung zu sein, was zu innerkirchlicher Kritik und 1813 zu einer ErklĂ€rung der Professoren fĂŒhrte, sie stĂ€nden in der rechtglĂ€ubigen Tradition der Reformierten Kirche. Schon 1816 aber geriet die FakultĂ€t unter den Einfluss der Erweckung. Weiterhin erhalten blieb die Theologenausbildung in StraĂburg, die vor allem fĂŒr angehende lutherische Pastoren gedacht war.
In der Französischen Revolution und unter Napoleon waren auch die Lutheraner der ĂŒblichen staatlichen Kirchenpolitik unterworfen. In den fĂŒr die Protestanten gedachten Organischen Artikeln waren die fĂŒr die Reformierten geltenden Regelungen fĂŒr sie teilweise abgewandelt worden. So hieĂen die Regionalsynoden fĂŒr jeweils fĂŒnf Konsistorien hier Inspektionen. FĂŒr die Lutheraner wurden drei Generalkonsistorien eingerichtet, die ihren Sitz in StraĂburg, Mainz und Köln haben sollten.
3. Der Protestantismus bis zu seiner inneren Spaltung im Jahre 1872
Institutionell profitierten die protestantischen Kirchen von den Organischen Artikeln, die bis zur Trennung von Staat und Kirche im Jahre 1905 in Kraft blieben. Die staatliche Alimentierung brachte eine rasche Erhöhung der Zahl der Pastoren mit sich: Waren es 1806 noch 170, so wurden daraus 214 im Jahre 1814 und 324 im Jahre 1830. Das Selbstrekrutierungspotential unter der Pastorenschaft war hoch, und so gab es geradezu Pastorendynastien. Die Zahl der Bewerber ĂŒberwog allerdings bei Weitem die Zahl der Stellen. Auch der Bau neuer Kirchen, gehalten im schlichten reformierten Stil, wurde weiterhin vom Staat mitfinanziert. Nicht ungewöhnlich war an Kirchen auch in nachnapoleonischer Zeit die Inschrift âLibertĂ©, ĂgalitĂ©, FraternitĂ©â. Es gab in Frankreich weiterhin ungefĂ€hr 500.000 Reformierte und ungefĂ€hr 220.000 Lutheraner.
Das endgĂŒltige Ende der Herrschaft Napoleons stellte die Rechtsstellung der Protestanten noch einmal in Frage. Mit der âCharte constitutionnelleâ von 1814 wurde der Katholizismus wieder Staatsreligion, doch blieben die Glaubens- und Gewissensfreiheit und auch die Organischen Artikel Napoleons erhalten. Der Protestantismus geriet damit in die prekĂ€re Stellung einer Art Staatskirche minderen Rechtes, die vor allem den Nachteilen einer staatlichen Kontrolle ausgesetzt war. In SĂŒdfrankreich sahen Fanatiker mit dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons die Stunde gekommen, gegen die Protestanten vorzugehen, denen in der royalistischen Propaganda die Schuld an der Revolution gegeben wurde. Man hielt die wenigen, aber sehr aktiven RevolutionĂ€re evangelischer Konfession fĂŒr die RĂ€delsfĂŒhrer. Noch 1815 wurde NĂźmes vom bĂŒrgerkriegsĂ€hnlichen âWeiĂen Terrorâ erschĂŒttert. Nur mĂŒhsam gelang es, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und die bedrĂ€ngten Protestanten zu schĂŒtzen. In den folgenden Jahren war der Protestantismus vor solchen pogromartigen Ăbergriffen sicher, doch wurde durch die Könige Ludwig XVIII. (1755â1824) und Karl X. (1757â1836) der Katholizismus deutlich bevorzugt. Schon die RĂŒckkehr der Jesuiten war ein Affront. Untergeordnete Behörden konnten genehmigungspflichtige kirchliche Veranstaltungen unter Berufung auf das restriktive Versammlungsrecht untersagen. Das Zusammenleben der Konfessionen verlief zwar an vielen Orten reibungslos, doch kam es auch zu Konflikten, nicht zuletzt, wenn Protestanten katholischen Prozessionen nicht ehrerbietig begegneten. Katholische Intellektuelle sahen den Protestantismus immer noch als geistlosen Irrweg und Ausdruck individualistischen Vernunftdenkens an. Immerhin aber gab es protestantische Prominenz: Benjamin Constant (1767â1830) zum Beispiel war ein prominenter Liberaler. Germaine de StaĂ«l (1766â1817), in enger persönlicher Verbindung mit Benjamin Constant stehend, war die Tochter des unter Ludwig XVI. amtierenden und aus der Schweiz stammenden Finanzministers Jacques Necker (1732â1804). Sie war von unbeugsamer republikanischer Gesinnung und ertrug die Verbannung durch Napoleon, die sie zu Reisen nach Deutschland und in andere europĂ€ische LĂ€nder nutzte. Als Schriftstellerin trug sie zur Verbreitung der Romantik bei.
Mit der Neuorganisation der protestantischen Kirchen durch die Organischen Artikel bekamen diese einen Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen sie ihr inneres Leben gestalten mussten. Der Gottesdienst wurde nach einer neuen Ordnung gefeiert, bei der natĂŒrlich die Predigt im Mittelpunkt stand. Die Feier des Abendmahles blieb hohen Festen vorbehalten. Weiterhin spielte die hĂ€usliche, auf der LektĂŒre der Bibel basierende Frömmigkeit eine groĂe Rolle.
Die innere Entwicklung des Protestantismus war von zeittypischen Faktoren geprĂ€gt: Die Erweckungsbewegung in ihrer französischen Form des âRĂ©veilâ beeinflusste viele Pastoren und Gemeinden, die, wie sie meinten, einer aufklĂ€rerischen Verzeichnung des evangelischen Glaubens wehren mussten. Hinzu kamen die Abkehr von der âWeltâ und die Besinnung auf die Innerlichkeit. Dies war ein pietistisches Erbe, entsprach aber auch der Tendenz der Romantik und hatte einen Sachgrund in der Abgrenzung von der Selbstinszenierung eines neuen BesitzbĂŒrgertums. Der Konflikt zwischen den Erweckten auf der einen und den vom Geist der AufklĂ€rung geprĂ€gten Liberalen auf der anderen Seite war letztlich der um den Weg in die Moderne. W...
Table of contents
- Cover
- Titel
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Quellen- und Literaturverzeichnis
- EinfĂŒhrung
- Kapitel 1: Der Protestantismus unter der Dominanz der katholischen Staatskirchen Westeuropas
- Kapitel 2: Protestantische Minderheiten in Osteuropa unter katholischer Dominanz
- Kapitel 3: Protestantische Minderheiten in Osteuropa unter orthodoxer Dominanz
- Personenregister
- Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen (KGE)
- Endnoten