II. KURZFASSUNGEN
DER 26 FALLANALYSEN
1. DIE DESINTEGRIERTHEIT VON PRIVATER RELIGION UND PROFESSIONELLEM UMGANG MIT RELIGION
PFARRER ALBERT ANDERS
Bernhard Dressler/Interview: Albrecht Schöll
Ich empfehle eine Ăffnung (.) hin, vom dogmatischen System weg/ ich rede jetzt aber Sachen, von denen ich weiĂ, dass sie nicht stattfinden werden.
In kontemplativen Ăbungen sitze ich, wie es in der Bibel heiĂt, wach und nĂŒchtern. âșLasst uns wach und nĂŒchtern sein und bereit fĂŒr deine Zukunftâč, so sitze ich in der Regel. Es ist ein klarer Kopf, (.) aber manchmal gibt es eine vertiefte Ruhe und ein vertieftes Empfinden und es gibt zwischendurch Erfahrungen, die mir eine Art von Glaubensgewissheit geschafft haben, Ă€h die mit dem Gottesbild der Dogmatik nur am Rande noch was zu tun hat.
Diese Kirchengemeinde ist, das kann man wirklich so sagen, Ă€hm im kommunalen Bereich wirklich sehr gut verankert. Das war eher meine Aufgabe hier. Wir haben uns nie hier zurĂŒckgezogen und haben unser Ding gemacht, sondern wir wa/ haben uns immer bemĂŒht in den kommunalen ZusammenhĂ€ngen Ă€h mit drin zu sein und Stimme zu haben und wir waren/ Ă€hm, sind bis heute einfach auch Ă€h nicht nur wahrgenommene Stimme und zwar nicht im moralischen Sinne, sondern im Sinne von praktischer diakonischer Arbeit.
1.1 Persönliche und berufliche Situation zur Zeit des Interviews
Albert Anders ist zum Zeitpunkt des Interviews 58 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Er arbeitet auf je einer halben Stelle in einer Vorstadtgemeinde und â aufgrund zurĂŒckliegender Unterrichtserfahrungen an einer allgemeinbildenden Schule und einer berufsbegleitend erworbenen Zusatzqualifikation â an einer Hochschule mit besonderen Aufgaben im Lehramtsstudium fĂŒr Ev. Religion. Die Arbeit in der Gemeinde teilt er sich mit einer Kollegin. Er fĂŒhlt sich arbeitsmĂ€Ăig nicht ĂŒberlastet, bilanziert aber kirchliche MaĂnahmen der QualitĂ€tssicherung kritisch als wachsende Arbeitsbelastung.
1.2 Wege des Berufszugangs
Herr Anders ist in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, die zugleich gut volkskirchlich orientiert war. Von einer intensiven religiösen Sozialisation und Erziehung berichtet er nicht. Er reprĂ€sentiert eine soziale Aufsteigerbiographie, wie sie fĂŒr die Generation, die in den 1970er Jahren studierte, nicht untypisch ist. FĂŒr das Theologiestudium scheint er nicht nur durch ein inhaltliches religiöses Interesse, sondern ebenso sehr durch ein eher abstrakt-allgemeines Aufstiegsinteresse motiviert zu sein. FĂŒr Theologie interessiert er sich aufgrund seiner Mitarbeit als Kindergottesdiensthelfer. Er ist froh, im sozialen und bildungspolitischen Aufbruchsklima der 1970er Jahre ein Studium ĂŒberhaupt beginnen zu können. Andere Berufsperspektiven, die keinen akademischen Zugang erfordert hĂ€tten und fĂŒr die sein Vater wirbt, verwirft er. Angetrieben wird er von einem nicht nĂ€her spezifizierten Wunsch nach Wissen. Die Alternative eines SozialpĂ€dagogik-Studiums hat A. kurz erwogen. Die BAföG-Förderung und eine frĂŒhe Beziehung zu einer berufstĂ€tigen Freundin ermöglichen ein von finanzieller Knappheit unbeeintrĂ€chtigtes Studium. Allerdings ist er hinsichtlich seiner mit dem Theologiestudium verbundenen Erkenntnis-, Einstellungs- und Haltungserwartungen recht frĂŒh enttĂ€uscht worden. Den Gedanken, zu einem SozialpĂ€dagogik-Studium zu wechseln, realisiert er aber nicht.
1.3 PrÀgungen und zentrale Themen im Studium
Das Wissen, das A. als stĂ€rksten Antrieb fĂŒr die Aufnahme eines Studiums bezeichnet, erwies sich fĂŒr ihn recht bald im Blick auf das Theologiestudium â so sein starker, aber auch mehrdeutiger Begriff â als totes Wissen. Er beklagt die durch keinerlei curriculare Strukturen regulierte ZufĂ€lligkeit der Studienthemen. Die persönliche Ausstrahlung eines religionskritischen Barthianers unter seinen Professoren habe ihn von einer rechtzeitigeren fruchtbaren BeschĂ€ftigung mit der Theologie Paul Tillichs und dem Konzept der Korrelation abgehalten. Orientierung und Gewissheit kann ihm das tote Wissen der Theologie nicht bieten.
StĂ€rkeres Interesse entwickelt A. zunĂ€chst an der Theologie Eugen Drewermanns, wird dann aber durch dessen depressive Stimmlage abgeschreckt. Sein psychologisches Interesse verbindet sich hier mit einem psychologischen Urteil. Im Blick auf sein Studium und darauf, warum er es ĂŒberhaupt abschlieĂt, wird nicht recht erkennbar, wie er die Spannung zwischen seinem Wissensanspruch und dem dazu nicht ins VerhĂ€ltnis zu setzenden Anspruch auf Glaubensgewissheit bearbeitet.
1.4 Berufliche Entwicklungen
Anfang der 1980er Jahre wird A. auf einer lĂ€ndlichen Pfarrstelle, bei der er drei Gemeinden zu betreuen hat, gleichsam ins kalte Wasser gestoĂen. Trotz der bereits im Studium erfolgten ErnĂŒchterung lassen ihn erst die Schwierigkeiten des Berufsfeldes an seiner Berufswahl zweifeln. Auf seinem langen Weg stellt A. sich immer wieder die Frage: âșKann ich weiterhin Pfarrer sein, will ich das?âč Nun erst bedrĂ€ngt ihn neben den Ă€uĂeren Schwierigkeiten das innerliche Problem, dass nichts war mit dem Wissen. Es bleibt dabei offen, was er unter Wissen versteht: Glaubensgewissheit, theologisches Fachwissen oder berufliches Praxiswissen.
A. verdrĂ€ngt seine Probleme nicht. Er erwĂ€gt berufliche Alternativen und entscheidet sich dann fĂŒr eine berufsbegleitende Ausbildung als Psychagoge, die er gegen viele Schwierigkeiten fast zu Ende bringt. Zugleich arbeitet er auf der HĂ€lfte seiner Pfarrstelle als Religionslehrer. Ein Berufswechsel in eine therapeutische Praxis wird aber durch ein neues Therapiegesetz verhindert, durch das die Chancen auf eine Approbation unkalkulierbar werden. A. bemĂŒht sich nun, die mit der Zusatzausbildung erworbenen Kenntnisse und Qualifikationen mit dem Pfarrberuf zu verbinden. Er absolviert eine pastoral-psychologische Ausbildung als Gestaltseelsorger, bei der ihm ganz viele religiöse Fragestellungen auf einmal in ganz anderer Art und Weise prĂ€sent werden. Beruflich bleibt diese glĂŒckliche Verbindung von Sonderqualifizierung und starkem inhaltlichem Interesse zunĂ€chst folgenlos. Er kann sich aber mit der sich bald bietenden Gelegenheit einer eingeschrĂ€nkten Gemeindepfarrstelle und der Beauftragung an der nahegelegenen Hochschule â der beruflichen Konstellation, die bis zum Zeitpunkt des Interviews andauert â arrangieren.
A.s Berufsweg bleibt mit der Suche nach inhaltlicher Orientierung verbunden. Er gibt sich mit der Situation eines Landpfarrers unter prekĂ€ren Bedingungen nicht zufrieden. Mit einer BerufstĂ€tigkeit als Psychagoge wĂ€ren A.s Zweifel an seiner Berufswahl zum Zuge gekommen. Er hĂ€tte dabei auch persönliche Interessen und Neigungen einbringen können. Immerhin herrschen fĂŒr ihn in seiner Arbeit an der Hochschule weniger religiöse als psychologieaffine Themen vor. Vor allem plĂ€diert er fĂŒr eine Ăffnung hin zu den Naturwissenschaften und weg vom dogmatischen System. Andeutungsweise, wissenschaftstheoretisch kaum expliziert, wird ein naturalistischer Begriff von Wissen erkennbar, der mit dem spezifischen Modus theologischer Begriffsbildung schwer vereinbar erscheint.
1.5 Kirchenkritik
Dogmenkritik verbindet sich bei A. mit einer Kirchenkritik: [âŠ] ich glaube persönlich nicht, dass die Volkskirche das Ende des 21. Jahrhunderts in der Form erleben wird in Deutschland. [âŠ] Wir erreichen niemanden mehr, glaube ich. Der Kirche weht der Wind ins Gesicht. (.) Berechtigt und nicht berechtigt teilweise. Wo sie noch als Institution ernst genommen wird, wird sie als Verein unter Vereinen wahrgenommen. Bei kirchenleitenden Personen, die das nicht wahrnehmen, diagnostiziert er narzisstische Störungen. Sie bauen Potemkinsche Dörfer wie in der DDR. Sein Anspruch steht dazu im Kontrast: Ich kann Menschen so nehmen wie sie sind. Ăhm, wo ich glaube, gerade bei Kirche ist das oft nicht so einfach. A. nimmt kirchliche Programmformeln wie »Wachsen gegen den Trend« ĂŒberaus kritisch in den Blick.
Es hat den Anschein, als setzten sich die Motive, die A. aufgrund seiner persönlichen intellektuellen Entwicklung in Distanz zum Pfarrberuf bringen, in seiner Diagnose der Lage der Kirche und des Pfarrberufs generell fort, sodass bei ihm subjektive Motive und objektive Diagnosen bruchlos ineinander laufen. Von Religion, deren Bedeutung er schwinden sieht, spricht er dabei ohne nÀhere Differenzierung.
1.6 Das Bild vom Pfarrberuf
Auf die Frage nach der Zukunft des Pfarrberufs Ă€uĂert sich A. im Zusammenhang mit seinen AusfĂŒhrungen zur Vermittlung zwischen Naturwissenschaften und Hermeneutik: Ich glaube der Pfarrer heute muss im guten Sinne des Wortes ein guter Zeitgenosse sein. Und zwar verankert im Weltwissen und zwar das auf dem höchsten Niveau des Weltwissens, ob er das selber intellektuell abbilden kann, ist zweitrangig dabei. Aber er muss sich bemĂŒhen auf dem Niveau, wo/ auf dem heute gedacht wird, auf dem/ Ă€h die Wissenschaften, auf die es fĂŒr ihn mit ankommt, mitzudenken. Zu der dafĂŒr erforderlichen Bildung bleibe zu wenig Zeit.
VerĂ€nderungen des Berufsbildes spiegeln sich fĂŒr A. in dem Verlust der VertrauenswĂŒrdigkeit im Vergleich zu anderen Berufen. Die jungen Theologen, die er kennt, können an dieser Entwicklung nichts Ă€ndern: die kommen von der Uni, wo ich das GefĂŒhl habe, die haben etwas Pfarrherrliches im Hintergrund und glauben, sie könnten eine Art Pfarrer sein, wie es nicht mal mehr in den fĂŒnfziger Jahren möglich war. Er beobachtet bei ihnen eine dogmatische Enge und zugleich eine liturgische Orthodoxie, wo ich richtig Angst habe manchmal davor. Und die auf die Schnauze fallen werden.
A. konzediert, dass seine strengen AnsprĂŒche an die Gestaltung des Pfarramts im Regelfall kaum zu erfĂŒllen sind. Er sieht durchaus die religiöse Dimension des Pfarrberufs (ohne sie so zu bezeichnen), muss aber auch diese Dimension letztlich psychologisieren: Ihnen werden manchmal quasi priesterliche Funktionen zugeschrieben und manche mĂŒssen wir glaube ich auch annehmen. Ich glaube, es macht fĂŒr die Menschen einen Unterschied, ob der Pfarrer segnet und ob er sich/ wie er sich zum Segnen verhĂ€lt. [âŠ] Da wird einem was zugeschrieben und mit Ăbertragung und GegenĂŒbertragung lĂ€uft das auch.
Entscheidender als die Wahrnehmung priesterlicher Funktionen scheint fĂŒr ihn indessen zu sein, ĂŒber die engfĂŒhrenden Kompetenzen auf Gottesdienst und die Kasualien und so weiter hinaus sich im politischen, sozialen und kulturellen Umfeld der Gemeinde zu bewegen. Auch in diesem Sinne mĂŒsse der Pfarrer Zeitgenosse im guten Sinn sein und sich verankern können an dem Ort, an dem er ist.
1.7 Religionskompetenz
Schon die in den Eingangssequenzen des Interviews erkennbare ZurĂŒckhaltung gegenĂŒber explizit religiösen Aspekten seiner Biographie und seines Studieninteresses als auch die Charakterisierung der mit dem Studium verbundenen ErnĂŒchterung lĂ€sst bei A. eine geringe AusprĂ€gung dessen erkennen, was man »Sinn und Geschmack« fĂŒr Religion nennen kann, noch weniger eine Berufsmotivation aus einem starken persönlichen Glauben. Es zeigt sich in dem von A. beschriebenen Berufsprofil, dass er seine Arbeit auf eine Weise gestaltet, bei der der fĂŒr den Pfarrberuf im Zentrum stehende Umgang mit Religion â der eigenen wie der in der Gemeinde begegnenden Religion der Leute â eine eher geringe, im Extremfall so gut wie keine Rolle spielt. Das scheint nicht zuletzt am ungeklĂ€rten VerhĂ€ltnis zu liegen, mit dem er seine AnsprĂŒche auf Wissen und Gewissheit verbindet.
Die von ihm als eine starke Strömung der 70er Jahre diagnostizierten Möglichkeiten, innerhalb des Pfarramts den von ihm fĂŒr ungeklĂ€rt gehaltenen Status theologischen Wissens zu kaschieren durch ethische Predigten, versagt er sich als eine Ausflucht, die ich eine Zeitlang nutzen konnte, aber die nicht gereicht hat fĂŒr mich innerlich. A. begibt sich auf eine Wanderschaft nicht im Sinne von Ă€uĂerem Wechsel, sondern von innerem Wechsel und Suchen. Glaubensgewissheiten, wie er sie im Studium vergeblich anstrebte, gewinnt er auf diesem Wege nicht. Aber er findet in einer bestimmten Art von Kontemplationspraxis eine Art von Gewissheit in einer Form, die ich nicht gedacht hĂ€tte und zwar nicht im fundamentalistischen Lager, und nicht die einfachen Antworten suchend, sondern ĂŒber den Weg der Kontemplation. A. beschreibt ausfĂŒhrlich die vom ihm besuchten Kontemplationskurse als Lernweg mit kognitiven und therapeutischen Dimensionen. Er entscheidet sich bewusst gegen einen östlichen Weg und gegen Esoterisches und verbindet Mystik mit Naturwissenschaft. So fĂŒgen sich bei ihm doch noch (aus theologischer Perspektive wird man sagen mĂŒssen: auf recht erstaunliche Weise) Wissen und Gewissheit zusammen, nĂ€mlich auf dem Weg der Naturalisierung von BewusstseinsphĂ€nomenen. Physik, vor allem Quantenphysik, ist fĂŒr ihn neben den Neurowissenschaften die moderne Leitwissenschaft, die ihm auch psychische und religiöse PhĂ€nomene erklĂ€rt. Er nimmt fĂŒr sich in Anspruch, auf diese Weise eben genau nicht das zu tun, was er im kirchlichen Bereich beobachtet, nĂ€mlich Sachen zu behaupten, wo jeder weiĂ, das ist Schwachsinn, was du sagst, jedenfalls auf wissenschaftlicher Ebene. Und dann sagen, naja Glaubensebene ist was ganz anderes. Ăber den Weg einer Dogmenkritik versucht A. den Bogen von naturwissenschaftlichen und durch KontemplationsĂŒbungen gewonnenen Einsichten zu einer Theologie zu schlagen, die sich nicht mehr in dogmatischen Topoi ausdrĂŒcken lĂ€sst, aber dennoch eine Ebene erreicht, zu der...