1 Stimmen zur Islamdebatte
Wenden wir uns nun zuerst den vielfältigen Stimmen zu, die politisch Schlagzeilen gemacht haben und immer noch machen und die völlig unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck bringen:
»Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.«15 (Christian Wulff am 3. 10. 2010, Grundsatzrede des damaligen Bundespräsidenten bei der zentralen Feier zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in Bremen)
»Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.«16 (Joachim Gauck am 26. 6. 2015, damaliger Bundespräsident)
»Es steht völlig außer Frage, dass die historische Prägung unseres Landes christlich und jüdisch ist. Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist.«17 (Angela Merkel am 1. 7. 2015, Bundeskanzlerin). Diese Aussage wurde verdichtet zu: »Es ist offenkundig, dass der Islam inzwischen unzweifelhaft zu Deutschland gehört.«18 (Angela Merkel am 1. 7. 2015 und 3. 9. 2017)
»Der Islam gehört zu Deutschland, Islamismus dagegen eindeutig nicht.«19 (Cem Özdemir am 27. 9. 2015, damals Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, mit türkischen Wurzeln)
»Der Islam gehört zu Deutschland!«20 (Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland [ZMD], im Januar 2015 unter dem Brandenburger Tor nach dem Attentat auf das Redaktionsteam des französischen Satireblattes Charlie Hebdo)
»Der Islam der großen Dachverbände gehört nicht zu Deutschland.«21 »Nur ein reformierter Islam gehört zu Deutschland.«22 (Abdel-Hakim Ourghi, Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie an der PH Freiburg und Mitbegründer der Ibn-Rushd-Goethe Moschee, mit algerischen Wurzeln)
Wir sehen: Der Satz »Der Islam gehört zu Deutschland« bietet breiten Raum für unterschiedliche Interpretationen, je nachdem, wer ihn ausspricht. Die Motivationen dahinter klaffen in eklatanter Weise auseinander, wie im Folgenden nachzuzeichnen ist. Dieser Satz ist zur politischen und religiösen Chiffre geworden, die zu bestimmten Anlässen durch Politiker, Journalisten, muslimische Funktionäre und einflussreiche Persönlichkeiten in der deutschen Gesellschaft genutzt wird.
Zur Versachlichung der Debatte seien hier zunächst einmal die Fakten genannt.
Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Muslime dürfte zurzeit bei knapp fünf Millionen Menschen liegen. Somit bilden Muslime in Deutschland ein gesellschaftliches Segment von ca. 6,2%. Dazu gehören Migranten aus hoch gebildeten Schichten wie Diplomaten, Studenten, Wissenschaftler und Facharbeiter wie auch bildungsferne Schichten; weiterhin Kinder aus bireligiösen Ehen und zum Islam übergetretene Deutsche.
Ein Drittel aller Muslime lebt in Nordrhein-Westfalen, wo sie 10% der Bevölkerung ausmachen. Auch Baden-Württemberg, Bayern und Hessen weisen große muslimische Bevölkerungsanteile auf. Muslime leben vor allem in Städten, weniger auf dem Land. In den neuen Bundesländern leben nur sehr wenige.23
Viele Muslime nichtdeutscher Herkunft befinden sich mittlerweile in der dritten oder vierten Generation in Deutschland. Durch die tragischen Ereignisse und Kriege in der arabischen Welt stieg die Anzahl der Muslime besonders ab dem Jahr 2015 an. Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gab es im Jahr 2015 441.899 Asylerstanträge und im Jahr 2016 722.370; diese gingen im Jahr 2017 drastisch zurück auf 109.317 Erstanträge. Im Jahr 2016 handelte es sich zu 75,9% um Muslime und zu 5,9% um Jesiden.24 Das Gros der Flüchtlinge stammt hauptsächlich aus der nahöstlichen Region des »Arabischen Frühlings«, aus Syrien und dem Irak; dazu kommen Kurden und Jesiden aus der Türkei, Iraner, Afghanen, Pakistani, Kaukasen, Afrikaner, vornehmlich Nigerianer, Gambier und Somalier.
Hingegen ist die Zahl der Flüchtlinge vom Balkan zwischenzeitlich stark zurückgegangen, da die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden. Für die maghrebinischen Staaten bahnt sich eine ähnliche politische Entscheidung an. Dennoch hat der Anstieg der muslimischen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren die emotionale und politische Debatte intensiviert. Auch diese Vielfalt erschwert die Islamdebatte und zeigt gleichzeitig die Notwendigkeit einer innerislamischen Klärung, wie Muslime und Islam sich in der Öffentlichkeit präsentieren sollen. Diese Heterogenität kann in ganz unterschiedlicher Weise betrachtet, aber auch instrumentalisiert werden, wie die Aussagen Aiman Mazyeks vom ZMD nahelegen:
»Als deutsche Religionsgemeinschaft ist es uns wichtig, dass die Bundesregierung endlich praktisch das Thema ›Deutsche Muslime‹ in den Mittelpunkt des Interesses setzt […] Bisher haben Teile der Politik sich eher an der Fragmentierung der Islamischen Community beteiligt, indem sie der Ethnisierung der Muslime das Wort geredet haben.«25 Zugleich problematisiert er: »Vertreter können also nicht für die Nicht-Organisierten sprechen, umgekehrt können aber auch Einzelpersonen, wie es zum Beispiel die sogenannten Islamkritiker gerne tun, auch nicht darüber schwadronieren, die angebliche schweigende Mehrheit per Zuruf vertreten zu können.«26
Selbst innerhalb der aus der Türkei gebürtigen Bevölkerung ist zu differenzieren, da wir es hier mit Kurden, Aleviten und Jesiden zu tun haben. Die Pluralität, Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft in der Türkei bildet sich genau so auch in Deutschland ab. Zu den religiösen und ethnischen Unterschieden kommen die politischen Blöcke, die Kerim Schamberger so beschreibt: Zuerst den großen Block der AKP-Anhänger, die gut organisiert sind; dann das Lager der Kemalisten, die laut eigener Aussage gegen die derzeitige Regierung sind und sich für die Fortsetzung der laizistischen, kemalistischen Politik einsetzen; zuletzt den Block von linken Jugendlichen, die grundlegende Veränderungen im Staatsapparat und in gesellschaftlichen Strukturen einfordern.27
In den letzten Jahren hat durch die Ankunft von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten eine Verschiebung des muslimischen »Migrantenspektrums« stattgefunden, vom türkisch dominierten Gastarbeiterislam hin zu einem mehr arabisch und persisch/afghanisch geprägten Islam.
Wohl keine Aussage hat in den letzten zehn Jahren in Deutschland eine solche öffentliche Debatte ausgelöst wie das Zugehörigkeitsdiktum von Christan Wulff.28 Während seine Worte bei den meisten Muslimen auf Zustimmung stießen, waren viele Christen wie auch säkular orientierte Menschen über die Aussage des damaligen Bundespräsidenten bestürzt. In der Politik löste Wulffs Satz sowohl Lob als auch Tadel aus. »Der Islam als neue, glaubensstarke und wachsende Religion irritiert das säkulare Europa«, heißt es in dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration.29
Allerdings hat der Satz von Wulff einen Vorläufer. 2006 war auf Initiative des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble erstmals die Islamkonferenz zusammengekommen. Schäuble sagte in seiner Eröffnungsrede: »Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas.«30 Mit dem Terminus »Teil Deutschlands« hat Schäuble objektiv und neutral die De-facto-Situation beschrieben, während sich viele an Wulffs wesentlich weitergehendem Terminus »Zugehörigkeit« stoßen.
Vier Jahre später beklagten sich deutsche Muslime bei Christian Wulff in einem offenen Brief über das Buch »Deutschland schafft sich ab« des ehemaligen Mitglieds des Vorstands der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin, in dem »sich allgemeine Bedenken gegen eine verfehlte Integrationspolitik mit biologistischen Annahmen über mindere Intelligenz« vermengten. Pauschalisierend würde in Nachrichtenmagazinen, Zeitungen und Sendern über »etwaige intellektuelle, charakterliche, soziale und professionelle Defizite des muslimischen Bevölkerungsanteils diskutiert«. Von Musliminnen und Muslimen würde, egal ob sie deutsche Staatsbürger und hier geboren seien, »generalisierend als ›Migranten‹ gesprochen« und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sei »die offizielle Rückkehr des Wortes ›Ausländer‹« zu erleben. Soweit der Protest der Unterzeichner, die mit Nachdruck betonten: »Auch wir deutsch...