Gemeindeseelsorge
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Gemeindeseelsorge

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Gemeindeseelsorge

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Gemeindeseelsorge ist ein zentrales Thema kirchlicher Arbeit. Zugleich aber wird sie kaum wahrgenommen. Sowohl in der Seelsorgetheorie wie auch im Bewusstseins der konkreten Gemeindepraxis fristet sie eher eine Art Aschenbrödel-Dasein. Anliegen dieses Buches ist es, hier eine Lücke zu schließen und erstmals einen Gesamtentwurf zur Seelsorge in der Gemeinde im Blick auf Theorie und Praxis vorzulegen.Von der Frage nach den Gründen der bisherigen Nichtbeachtung her wird ein Verstehensmodell für die Gemeindeseelsorge entworfen und in seinen Konsequenzen für eine Praxis entfaltet, die so eine neue Würdigung erfahren kann. So ist dieses Buch nicht nur für die Seelsorgetheorie, sondern auch für alle Interessierten aus der Gemeindepraxis von besonderem Interesse.

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1 SEELSORGE IN DER GEMEINDE – EINE ANNÄHERUNG

Blicken wir also auf das, was im kirchlichen Sprachgebrauch unter »Gemeindeseelsorge« verstanden wird.1 Dazu kann vorab festgehalten werden: Es handelt sich hier um ein ausgesprochen breites Feld von vielfältigen Begegnungsformen. Diese sind nur schwer kompatibel mit dem, was man sich im Allgemeinen unter Seelsorge vorstellt, ja sie stellen sich dazu gewissermaßen quer. So sind z. B. die klassischen Formen einer im weitesten Sinne als »beratend« verstandenen Seelsorge mit einem klaren Kontrakt und strukturiertem Setting, bei dem der Seelsorgepartner etwas anschauen, bearbeiten, klären will, in der Gemeinde eher selten. Demgegenüber ist der größte Teil der faktischen Vollzüge durch das Gemeindeleben mitten im Alltag vorgegeben – im Blick auf sein (all-)tägliches Geschehen, aber auch im Blick auf die sich innerhalb derselben immer wieder zeigenden Irritationen und Grenzen dieses Alltäglichen. Grundsätzlich lässt sich dabei unterscheiden zwischen nicht geplanten seelsorglichen Begegnungen und solchen, in denen der Seelsorger, die Seelsorgerin bewusst Menschen in seiner Gemeinde sucht und aufsucht, und ihnen mit einer seelsorglichen Haltung begegnet. Das beinhaltet im Einzelnen:
1. Ein großer Teil dessen, was im gemeindlichen Kontext zur Seelsorge gerechnet wird, hat den grundlegenden Charakter des Zufälligen, wie er in den Begriffen »Seelsorge am Gartenzaun« oder »Seelsorge bei Gelegenheit« zum Ausdruck kommt. Dies lässt sich mit dem Zitat einer Pfarrerin zusammenfassen: »So richtige Seelsorge in meinem Amtszimmer, bei der jemand mit mir einen Termin ausgemacht hat, das kommt kaum vor. Meine Seelsorge findet vor allem auf der Straße oder am Rande von Veranstaltungen statt.« Bereits auf dieser Ebene können zwei Perspektiven unterschieden werden:
1.1 Als Erstes ist die unendliche Vielzahl an Möglichkeiten zu benennen, bei denen der Pfarrer oder die in ihrer seelsorglichen Funktion bekannte Ehrenamtliche auf jemanden zugeht, ihn grüßt und fragt, wie es ihm geht. Dabei kann die Frage nach der augenblicklichen Befindlichkeit allgemein gehalten sein oder sich auch auf spezifische Situationen beziehen, die aufgrund einer gemeinsamen Vorgeschichte schon bekannt sind. Dies kann am Rande von Veranstaltungen, auf der Straße oder auch in Situationen geschehen, in denen die Seelsorgerin quasi privat unterwegs ist, wie z. B. beim Einkaufen. Die mehr oder weniger zufällige Begegnung bestimmt den Ort des Gesprächsangebots bzw. Gesprächs. Inhaltlich können sich – wenn die Frage »Wie geht es Ihnen?« ernst gemeint ist und das Gegenüber das auch so wahrnimmt – sehr unterschiedliche Situationen ergeben. Der größte Teil solcher Gespräche dürfte auf einer allgemeinen und eher unverbindlichen Ebene bleiben, z. B. wie es so geht und was gerade ansteht. Ein wesentlicher Teil der übrigen Begegnung dürfte mit den alltäglichen Irritationen des Alltags zu tun haben, z. B. »mein Mann hat so viel zu tun, dass die ganzen Sorgen um die Kinder bei mir bleiben«, oder »seit unser Sohn in der Pubertät ist, bringt er richtig schlechte Noten mit heim«. Allerdings kann und muss immer auch damit gerechnet werden, dass auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« mitten im Alltag Gesprächssituationen entstehen, die die Seelsorgerin aus dem eigenen Alltag herausreißen und von ihr als »hammerhart« empfunden werden: »Ach, Sie wissen es noch nicht: Meine Frau und ich haben uns letzte Woche getrennt«, oder »meine Mutter ist ganz plötzlich gestorben«. Situationen, die dann, in der Wahrnehmung der realen und »zufälligen« Bedingungen des Settings (wie z. B. auf der Straße oder beim Verabschieden nach einer Sitzung) plötzlich eine hohe Anforderung an den Seelsorger bezüglich eigener Betroffenheit und einer entsprechenden Gesprächskompetenz stellen.
1.2 Eine Steigerung erfährt dieses Überraschungsmoment in Alltagsbegegnungen, in welchen der (haupt- oder ehrenamtliche) Seelsorger über seine gemeindliche Funktion (sein Amt) identifiziert und in dieser Funktion angesprochen, ja manchmal richtiggehend überfallen wird – ohne Rücksicht auf die augenblickliche Befindlichkeit und das konkrete persönliche Interesse. Sei es beim privaten Spaziergang, sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Freibad oder über den Gartenzaun: Immer können eher »banale« Bedürfnisse nach Kommunikation und Plaudern eine Rolle spielen, nicht selten steht aber auch das Interesse im Vordergrund, etwas Ungeklärtes oder Belastendes endlich einmal zum Thema zu machen, »an den Mann zu bringen«, häufig in einer eher diffusen Form (»Haben Sie mal fünf Minuten Zeit für mich?«). Gerade bei solchen Gelegenheiten können wirklich gravierende und heftige Lebensthemen derart plötzlich präsent sein (»unser Sohn hat sich gestern das Leben genommen«), dass sie den Alltag des Seelsorgers zerbrechen, ihm zuerst einmal die Luft nehmen, und ihm dann eine ausgesprochen hohe situative und seelsorgliche Kompetenz abverlangen.
All diese seelsorglichen Begegnungen (seien sie auf der Ebene alltäglicher Unterhaltung angesiedelt, seien sie Irritationen oder als gewaltsam erfahrene Einbrüche in dieses Alltägliche) müssen als Elemente des Alltags des Gemeindeseelsorgers, der Gemeindeseelsorgerin angesehen werden: Sie sind nicht planbar, sie sind keine expliziten Elemente der Organisierbarkeit des Pfarramtes, wie sie in Form eines Terminkalenders ihren exemplarischen Ausdruck findet. Sie müssen als Ausdruck der ganz normalen »Zwischensituationen« angesehen werden, als Ausdruck der Gleichzeitigkeit von Leben und Arbeiten in der Gemeinde. »Seelsorge bei Gelegenheit« geschieht im Alltäglich-Gewohnten; sie ist eine Form der Widerfahrnis auf Grund von Präsenz, Offenheit und Interesse, sowie der Erkennbarkeit als Pfarrer, Seelsorgerin. In ihrer Bedeutung lassen sie sich aber nicht auf die kurze Begegnung reduzieren. Es ist immer damit zu rechnen, dass man sich im Kontext der Gemeinde wiedertrifft. Und dieses Wiedertreffen wird durch das geprägt sein, was in der »Seelsorge bei Gelegenheit« geschehen ist.
Gerade die Nicht-Kompatibilität dieser Form der Seelsorge mit den üblichen Organisationsmodi der Gemeindearbeit – verbunden mit einer gewissermaßen selbstverständlichen »Normalität« – dürfte ein nicht zu unterschätzendes Element ihrer Nicht-Beachtung sein.2 Im Sinne der kaum thematisierten Selbstverständlichkeiten des pastoralen Alltags unterfüttert sie die im nächsten Abschnitt noch genauer zu betrachtende Grundsatzfrage, ob es sich hier im Blick auf die Situationsbezogenheit wie auch auf die größtenteils alltäglichen Inhalte eigentlich um »richtige Seelsorge« handelt.
Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Im Kontext seiner kleinstädtischen Gemeinde begegnet Pfarrer N. beim Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt regelmäßig einem Mann aus der Nachbarschaft. Zu diesem bestehen sonst keine kirchlichen Kontakte. Meist plaudern sie ein wenig. Eines Tages fällt dem Pfarrer auf, dass die selbstverständliche Kontinuität dieser Begegnungen unterbrochen ist. Mehrfach hat er besagten Mann nicht mehr getroffen. Er will sich gerade aufmachen, einmal nachzufragen, was denn sei, da erreicht ihn ein Anruf der Ehefrau dieses Mannes, dass dieser ganz plötzlich verstorben sei. Die Frau bittet Pfarrer N. eindringlich, die Beerdigung doch persönlich zu übernehmen: »Wissen Sie, das war ein besonderer Wunsch meines Mannes, das hat er ein paar Mal gesagt: Wenn ich mal sterbe, dann möchte ich von Pfarrer N. beerdigt werden, denn das ist einer, mit dem hab ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.« Und erst aus der Perspektive dieses Satzes wird Pfarrer N. im Rückblick bewusst, dass sich in ihren Begegnungen und in der Kontinuität ihrer Gespräche beim Einkaufen anscheinend mehr ereignet hat, als er selbst wahrgenommen hatte. Etwas, das für diesen Mann anscheinend so wichtig war, dass es für ihn selbst über seinen Tod hinaus Bedeutung hatte: »Mit dem habe ich immer über alles reden können, was mir wichtig war.«
2. Gegenüber all diesen unendlich vielfältigen, ungeplanten Begegnungen im Kontext der unmittelbaren Gemeindepraxis (mit der Bandbreite von alltäglich-banal bis höchstdramatisch) gibt es natürlich auch Formen der Seelsorge, die als geplante und bewusst initiierte Elemente der Gemeindepraxis durchaus im offiziellen Terminkalender ihren Ort haben können. Sieht man dabei einmal von den bereits benannten, sicher nicht den Normalfall des Gemeindelebens repräsentierenden, terminlich fixierten Besuchen in der Sprechstunde des Pfarrers, der Pfarrerin ab,3 so handelt es sich hier vor allem um seelsorgliche Begegnungen in der Geh-Struktur, die ihren exemplarischen Ausdruck in den verschiedenen Formen des Hausbesuchs finden. Diese können nach den Anlässen unterschieden werden, denen sie geschuldet sind: Von einem allgemeinen Hausbesuch im Sinne von »Ich möchte Sie einmal (näher) kennenlernen«, über die Besuche »aus Anlass einer spezifischen persönlichen oder familiären Situation« (wie z. B. Krankenbesuch, Besuch in Krisensituationen, Kasualbesuch) bis hin zum Geburtstagsbesuch, bei dem es zuerst einmal um Gratulation und Überbringen der Segenswünsche der Gemeinde geht.
Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass auch diese bewusst initiierten Seelsorgebesuche nicht selten mit einer gewissen Ambivalenz behaftet sind: Aus der Perspektive des gemeindebezogenen Terminkalenders wirken solche Besuche nicht selten als Hemmnis, wenn nicht gar als kontraindiziert. Sofern es sich nicht um Kasualbesuche handelt, die ihre Fortsetzung in gottesdienstlichen Handlungen finden, kosten solche Besuche relativ viel Zeit, ohne dass von vornherein ein öffentlich sichtbares und effektives Ergebnis erwartet werden kann. Nicht zufällig stehen im Kontext eines begrenzten Zeitbudgets solche Besuche ganz oben auf einer möglichen Streichliste bzw. finden, wenn nicht feste Besuchszeiten von vornherein eingeplant sind, gar nicht erst Eingang in die Organisierbarkeit der Gemeindearbeit und verbleiben so häufig auf der Ebene des »Zwischendrin«, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.
Diese Grundsituation wird normativ unterfüttert, indem sich auch hier die im Kontext der »Seelsorge bei Gelegenheit« schon angedeuteten inhaltlichen Fragen nach der seelsorglichen Qualität stellen. Bei allen Besuchen ist der Seelsorger, die Seelsorgerin zuerst einmal Gast, was nicht nur dem gängigen Erleben, in der eigenen Gemeinde der Gastgeber zu sein, zuwiderläuft, sondern auch in seelsorglicher Perspektive nicht folgenlos bleibt: Im Gegensatz zur Vorstellung einer Seelsorge im Amtszimmer, bei der ein Gemeindeglied kommt und etwas erzählen, klären, bearbeiten will, bedeutet dies zuerst einmal eine Abhängigkeit von alledem, was der oder die Gastgeber anbieten, auch auf der Ebene der Inhalte bzw. der Themen, über die geredet wird. Auch hier ist zuerst einmal mit einem »Sich-Unterhalten« im Kontext des Alltäglichen zu rechnen. Insofern stehen im allgemeinen kirchlichen Bewusstsein vor allem diejenigen Besuche »als Seelsorge« im Vordergrund, bei denen allein vom Anlass her mit einem »seelsorglichen Gespräch« gerechnet werden kann, wie z. B. Trauerbesuche nach der Beerdigung, Krankenbesuche oder Besuche in Krisensituationen. Demgegenüber treten »allgemeine Hausbesuche«, bei denen der Gaststatus des Seelsorgers offensichtlich ist, und bei denen nicht selten gänzlich offen bleibt, ob überhaupt ein »Gespräch« geführt werden kann, oft in den Hintergrund des pfarrerlichen Interesses. Zugleich kann auch damit gerechnet werden, dass speziell der Geburtstagsbesuch, mit seiner Reduktion der seelsorglichen Rolle auf die des gratulierenden kirchlichen Repräsentanten, und zumeist verbunden mit wenig Möglichkeiten zum Einzelgespräch inmitten einer Festgesellschaft, zu den weniger beliebten Besuchsformen gehören dürfte.4
Sind damit, im Sinne einer ersten eher beschreibenden Einführung, die wesentlichen Elemente benannt, die im kirchlichen Sprachgebrauch zur Seelsorge in der Gemeinde gerechnet werden, so lässt sich festhalten: Entlang der von Christoph Schneider-Harpprecht im Seelsorgekontext eingeführten Kategorien »des Reinen und des Vermischten«, zeigt sich an diesen Formen der Seelsorge exemplarisch, dass in der Gemeinde aus seelsorglicher Perspektive das »Vermischte« im Vordergrund steht, während die »Reinheit« der Vorstellung, was Seelsorge sei, deutlich in den Hintergrund tritt. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, sich im Folgenden zuerst genauer der Vorstellung zuzuwenden, was im Allgemeinen als »reine Seelsorge« gilt, und inwiefern diese Vorstellung in der eingangs benannten Skotomisierung »Seelsorge in der Gemeinde« zum Ausdruck kommt.
1Im folgenden Abschnitt gilt das Interesse zuerst einmal einer annähernden Beschreibung verschiedener Seelsorgefelder in der Gemeindepraxis, verbunden mit einigen eher praxisorientierten Fragestellungen. Die spezifisch seelsorgebezogenen Hintergründe sollen dann im nächsten Abschnitt genauer diskutiert werden, während auf die einzelnen seelsorglichen Begegnungsformen im Detail in Kapitel 6 eingegangen wird.
2Dieser Aspekt dürfte auch in unserem Eingangsbeispiel eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen.
3Selbstverständlich gibt es auch hier individuelle Ausnahmen, vor allem wenn die Pfarrerin, der Pfarrer sich in dieser Hinsicht einen »seelsorglichen Ruf« erarbeitet haben, auf Grund dessen die festgelegten Sprechstunden voll sind. Auch in solchen Fällen steht allerdings nicht selten zuerst einmal ein eher unverfängliches Thema im Vordergrund, das dann im Sinne einer persönlichen Fragestellung modifiziert wird: Ein Pfarrer hat mit einer Ehrenamtlichen einen Termin ausgemacht, die mit der ehrenamtlichen Arbeit aufhören will. Mitten im Gespräch verändert sich die Atmosphäre und die Frau beginnt von ihren Eheschwierigkeiten zu erzählen, die den »eigentlichen« Grund beinhalten für ihren Rückzug aus dem Gemeindeleben.
4Nach SIEGFRIED DREHER, Geburtstagsbesuche bei Jubilaren (1982), 158, kann die pfarrerliche Einschätzung des Geburtstagsbesuchs bis hin zu »starker innerer Ablehnung« gehen. Vgl. dazu auch DANIEL DETTLING, Der pastorale Geburtstagsbesuch (2012), 4: »Zwischen der Reflexion und der Wertschätzung des pastoralen Geburtstagsbesuchs bei den Seelsorgern auf der einen und den Jubilaren und Jubilarinnen auf der anderen Seite ist eine Divergenz zu verzeichnen. Während in den (wenigen) Aufsätzen, die sich pastoraltheologisch und poimenisch mit dem Geburtstagsbesuch als Anlass für einen Hausbesuch auseinandersetzen, der Tenor vorherrscht, dass er für den Seelsorger eine unliebsame Pflicht darstellt, ist der eigene Geburtstag für das betreffende Gemeindeglied von nicht zu unterschätzender Bedeutung.«

2 MONOPOLISIERTE ODER KONTEXTUELLE SEELSORGETHEORIE?

Die Ausblendung und die darin implizierte Abwertung der Gemeindeseelsorge aus der seelsorgetheoretischen wie auch, in ihrer Folge, der seelsorgepraktischen Wahrnehmung können als indirekter Ausdruck, gewissermaßen als Schattenseite der gängigen Sicht von dem gesehen werden, was Seelsorge sein soll. Zugleich deutet die Breite der realen Skotomisierung darauf hin, wie selbstverständlich hier eine spezifische Vorstellung von Seelsorge als Summa, Regel und Richtschnur zugrunde liegt, von der her gemessen wird, und die die Wahrnehmung auf den verschiedensten Ebenen von Theorie und Praxis gestaltet.
Es liegt nahe, das, was umgangssprachlich gerne als das »tiefgehende Gespräch« benannt wird, als direkten Ausdruck einer im weitesten Sinne auf Beratung und Entwicklungsförderung ausgerichteten Seelsorge zu sehen, in deren Hintergrund der Begriff der »Therapie« eine richtungsweisende Rolle spielt.1 Seit ihrem Ursprung im Kontext der empirischen Wende der Praktischen Theologie als Seelsorgebewegung – nicht zufällig wird dieselbe auch als »beratende Seelsorge« bezeichnet – hat sich diese damals grundlegend neue und in ihrer Praktikabilität und Gegenwartsgemäßheit ausgesprochen wichtige therapeutische Perspektive in Theorie und Praxis der Seelsorge etabliert. In ihrer Langzeitwirkung prägt sie – bei allen Modifikationen im Einzelnen – auch die Gegenwart im Sinne einer normativen Basisvorstellung.
Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der Seelsorgetheorie zeigt, dass im Kontext einer im weitesten Sinne auf Beratung ausgerichteten Seelsorge das alltäglich und manchmal auch banal anmutende dessen, was umgangssprachlich auch weiterhin als Gemeindeseelsorge bezeichnet wird, nicht selten als unangemessen wahrgenommen wird, als einer »wirklichen Seelsorge« nicht zugehörig oder im Sinne einer entsprechenden Seelsorgeintention gar als kontraindiziert. So konstatiert Thilo bereits 1970 in seinem Buch zur beratenden Seelsorge, das später in mehreren Auflagen große Verbreitung gefunden und ganze Generationen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern geprägt hat, mit Blick auf den Hausbesuch in der Gemeinde, dieser sei zwar unaufgebbar, aber es sei festzuhalten, »daß er seine sehr deutlichen Grenzen hat und die Motivationen bei Besucher und Besuchten beim Hausbesuch nur in seltenen Fällen einem beratenden Gespräch förderlich ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Über den
  4. Impressum
  5. VORWORT
  6. INHALT
  7. EINLEITUNG: GEMEINDESEELSORGE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT
  8. 1. SEELSORGE IN DER GEMEINDE – EINE ANNÄHERUNG
  9. 2. MONOPOLISIERTE ODER KONTEXTUELLE SEELSORGETHEORIE?
  10. 3. THEOLOGISCHE UND SEELSORGEBEZOGENE GRUNDUNTERSCHEIDUNGEN IM KONTEXT GEMEINDE
  11. 4. GRUNDLAGEN EINER SEELSORGE IM KONTEXT DES ALLTAGS
  12. 5. WAS IST SEELSORGE IN DER GEMEINDE? EINE ERSTE KLÄRUNG
  13. 6. SEELSORGLICHE BEGEGNUNGSFORMEN IN DER GEMEINDE
  14. 7. GRUNDPERSPEKTIVEN DER GEMEINDESEELSORGE IM BLICK AUF THEORIE UND PRAXIS
  15. SCHLUSSBEMERKUNG
  16. LITERATURVERZEICHNIS