Die in dieser Publikation geĂ€uĂerten Meinungen sind die Meinungen der Autorinnen und Autoren und spiegeln nicht zwangslĂ€ufig die offizielle Position des Lutherischen Weltbundes wider.
BEFREIT DURCH GOTTES GNADE
HERAUSGEGEBEN VON
ANNE BURGHARDT
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© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Veröffentlicht von:
Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig, Deutschland, fĂŒr Lutherischer Weltbund
150, rte de Ferney, Postfach 2100
CH-1211 Genf 2, Schweiz
ISBN 978-3-374-04742-0
www.eva-leipzig.de
Parallelausgaben in Englisch und Spanisch
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Einleitung
Anne Burghardt
Befreit durch Gottes Gnade â von was, zu was?
Gottfried Brakemeier
Die Kirche und der öffentliche Raum â eine lutherische Interpretation
Kjell Nordstokke
Befreiendes Wort Gottes â zum lutherischen VerstĂ€ndnis der Heiligen Schrift
Hans-Peter GroĂhans
Gendergerechtigkeit verwirklichen â eine asiatische Perspektive
Au Sze Ngui
Bildung und Reformation
ElĆŒbieta Byrtek
Befreit durch Gottes Liebe zur VerĂ€nderung der Welt â eine Jugendperspektive
Monica M. Villarreal
Befreit durch Gottes Gnade: Gnade und Frieden â eine anglikanische Perspektive
Timothy J. Harris
Bibelarbeit: Jesaja 55,1-2
Zephania Kameeta
Autorinnen und Autoren
VORWORT
Martin Junge
Im Jahr 2017 feiern wir das 500-jĂ€hrige ReformationsjubilĂ€um. FĂŒr die in der lutherischen Tradition stehenden Kirchen markiert der 31. Oktober 1517 den Beginn der Reformation. An diesem Tag soll Martin Luther seine 95 Thesen an die TĂŒr der Schlosskirche in Wittenberg genagelt haben, in denen er sich gegen den Ablasshandel und die in seinen Augen damit einhergehenden kirchlichen MissbrĂ€uche wandte. Seitdem hat die Reformation eine beeindruckende Reise vollbracht. Heute finden wir lutherische Kirchen in allen vier Weltgegenden, wobei eine stetig wachsende Zahl von Lutheranern im globalen SĂŒden lebt. Der Lutherische Weltbund, eine weltweite Gemeinschaft mit 145 Mitgliedskirchen, reprĂ€sentiert heute ĂŒber 72 Millionen Lutheraner in 79 LĂ€ndern.
Aufgrund der unterschiedlichen prĂ€genden Erfahrungen der Kirchen sowie ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen HintergrĂŒnde ist es nahezu unmöglich, von âderâ lutherischen IdentitĂ€t zu sprechen. FĂŒr einige Kirchen ist das Jahr 1517 nicht unbedingt von besonderer Bedeutung, denn sie verknĂŒpfen andere Zeitpunkte mit dem Beginn der Reformation. FĂŒr einige Mitgliedskirchen des LWB ist z. B. der Zeitpunkt der EinfĂŒhrung des Christentums in ihren lokalen Kontext das konstitutive SchlĂŒsseldatum, das man als grundlegend fĂŒr das SelbstverstĂ€ndnis und die eigene IdentitĂ€t ansieht. Der 500. Jahrestag der Reformation bietet jedoch fĂŒr alle lutherischen Kirchen eine ausgezeichnete Gelegenheit, ĂŒber die bleibende Relevanz der die Reformation auslösenden Fragen und ihre gesellschaftliche Bedeutung nachzudenken.
Die vier Hefte dieses Sammelbandes möchten zu einer solchen in die Tiefe gehenden Reflexion beitragen. Die Diskussion wird gefĂŒhrt im Blick auf das ĂŒbergreifende Thema des 500-jĂ€hrigen ReformationsjubilĂ€ums und der Zwölften LWB-Vollversammlung âBefreit durch Gottes Gnadeâ, dessen drei Unterthemen, âErlösung â fĂŒr Geld nicht zu habenâ, âMenschen â fĂŒr Geld nicht zu habenâ und âSchöpfung â fĂŒr Geld nicht zu habenâ, zur Entfaltung unterschiedlicher Aspekte des Hauptthemas beitragen. Die Hefte enthalten AufsĂ€tze von Bischöfen, Pastoren, Theologen, Mitgliedern des Rates des LWB, Vertretern verschiedener LWB-Netzwerke und ökumenischen Partnern aus allen LWB-Regionen. Das breite Spektrum von Autoren und Themen gibt der und dem Lesenden einen Einblick in die groĂe Vielfalt innerhalb der Gemeinschaft und in verschiedene Aspekte der programmatischen Arbeit des LWB. Die drei Fragen am Ende jedes Aufsatzes wollen zu weiterer Reflexion und Diskussion anregen.
Wir hoffen, dass diese Hefte im bilateralen Dialog zwischen Partnerkirchen Verwendung finden, um einen Dialog ĂŒber die Botschaft und die Rolle der Kirchen in verschiedenen Kontexten anzustoĂen. DarĂŒber hinaus geben sie hoffentlich wichtige Impulse fĂŒr die Vorbereitung der Zwölften Vollversammlung, die 2017 in Windhuk, Namibia, stattfinden soll.
Zu guter Letzt möchte ich allen danken, die mit einem Aufsatz zu dieser Veröffentlichung und damit zu ihrer Reichhaltigkeit und Vielfalt beigetragen haben. Ich möchte die Leserinnen und Leser ermuntern, diese Hefte eingehend zu lesen, und hoffe, dass sie gehaltvolle und interessante Diskussionen nach sich ziehen.
EINLEITUNG
Anne Burghardt
âBefreit durch Gottes Gnadeâ â das Motto des Lutherischen Weltbundes fĂŒr das 500-jĂ€hrige ReformationsjubilĂ€um ist eng verbunden mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnaden durch den Glauben, die in der lutherischen Tradition auch als âder Artikel, mit dem die Kirche steht und fĂ€lltâ (articulus stantis et cadentis ecclesiae) bezeichnet worden ist. Die zentrale Erkenntnis dieser Lehre, dass nĂ€mlich in Christus Gottes Gnade uns als ein freies und bedingungsloses Geschenk gegeben ist, ruft Dankbarkeit hervor, die sich im liebenden und fĂŒrsorgenden Engagement fĂŒr die Menschen und die ganze Schöpfung Ă€uĂert. Das gilt heute genauso wie zu Luthers Zeiten und ist eine Erkenntnis, die weiterhin fĂŒr alle Aspekte der Theologie von Belang ist. Die AufsĂ€tze in diesem Heft beleuchten die AktualitĂ€t und den Einfluss dieser reformatorischen Erkenntnis aus verschiedenen Perspektiven.
In seinem Aufsatz âBefreit durch Gottes Gnade â von was, zu was?â weist Gottfried Brakemeier darauf hin, dass in der heutigen Welt Begriffe wie Gnade und Barmherzigkeit zunehmend suspekt werden. Eine Welt ohne Gnade aber wĂ€re am Ende eine unmenschliche Welt. Eine Theologie jedoch, in deren Zentrum die Rechtfertigung allein aus Gnaden durch den Glauben steht, hĂ€lt an dem Begriff der Gnade fest, denn die Rechtfertigung ist â in biblischer Begrifflichkeit â die Zusage von Gottes bedingungsloser Annahme der Menschen. Selbst Liebe zu schenken ist die Antwort auf Gottes ĂŒberreiche Liebe zu den Menschen und kein Versuch, sich Gottes Liebe durch âgute Werkeâ zu verdienen. Brakemeier zeigt, inwiefern die beiden SĂ€tze aus Luthers Schrift âVon der Freiheit eines Christenmenschenâ von 1520, âEin Christenmensch ist ein freier Herr ĂŒber alle Dinge und niemand untertanâ und âEin Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertanâ eng zusammengehören.
âEin Christ ist ein freier Herr ĂŒber alle Dinge und niemand untertan.â Das ist sein [Luthers] erster Satz. Jeder, der Gott als Herrn hat, kann keinem anderen Herrn dienen (vgl. Mt 6,24). Gott zu dienen befreit uns vom Dienst an den Menschen. Jeglicher Druck fĂ€llt ab, sobald der Mensch sich im Glauben Gottes Gnade anvertraut. Diese Freiheit wird jedoch grĂŒndlich missverstanden, wenn sie mit WillkĂŒr gleichgesetzt wird. Darum fĂŒgt Luther hinzu: âEin Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.â Das ist sein zweiter Satz. Die zwei SĂ€tze gehören zusammen. Freiheit zerstört sich selbst, wenn sie nicht in der Lage ist, Verpflichtungen zu ĂŒbernehmen. Vor allem aber ist dies ein Verrat an der Liebe. Denn die ist ja wesentlich ein âDienst am NĂ€chstenâ. Ohne Diakonie wird auch der Glaube falsch, denn es gilt den âGlauben zu haben, der in der Liebe wirksam istâ (Gal 5,6).
Die Wiederentdeckung der befreienden Botschaft des Evangeliums, die sich Luther durch sein grĂŒndliches Studium der Bibel erschloss, bildete das Zentrum der Reformation. Es ist notwendig, dass diese starke und befreiende Botschaft zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten aufs Neue gehört wird. In seinem Beitrag weist Hans-Peter GroĂhans, Mitglied des Hermeneutik-Netzwerks des LWB, auf die Vielfalt des menschlichen Lebens hin und auf die Tatsache, dass Gott sich durch das Medium der Bibel an die Menschen und Gemeinschaften in ihren konkreten LebensumstĂ€nden wendet.
Auf das Hören von Gottes Wort folgt nicht etwa eine Art herrschaftlicher Prozess der Anti-Individuation, sondern ein Lied, das die vielfĂ€ltige Gnade Gottes preist (1 Petr 4,10), wie sie sich in der Verschiedenheit und Vielfarbigkeit des Lebens der Christen und der Kirchen ausdrĂŒckt â in âder herrlichen Freiheit der Kinder Gottesâ (Röm 8,21).
Dass auf das Hören und Verstehen des Wortes Gottes seit Anbeginn der Reformation so viel Wert gelegt wurde, hat zur Entstehung zahlreicher neuer BibelĂŒbersetzungen gefĂŒhrt, die in verschiedenen FĂ€llen einen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Nationalsprachen gehabt haben. Ein VerstĂ€ndnis des tatsĂ€chlichen Sinngehalts eines Textes hĂ€ngt in groĂem MaĂe von dem verwendeten hermeneutischen SchlĂŒssel ab. ElĆŒbieta Byrtek beschreibt, welche Bedeutung durch die Jahrhunderte hindurch in den lutherischen Kirchen Bildung und Erziehung hatten. Grund dafĂŒr war das BedĂŒrfnis nach einem umfassenderen und tieferen VerstĂ€ndnis der biblischen Schriften. Eine ernsthafte und aufrichtige BeschĂ€ftigung mit der Bibel zieht es nach sich, dass man Fragen stellt, verschiedene Lesarten zur Kenntnis nimmt und seine eigenen Anliegen und Zweifel zur Sprache bringt.
Ein Glaube, der sich nicht scheut, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen und im Dialog zu bleiben mit denjenigen, die nicht derselben Meinung sind, ist ein lebendiger Glaube, eine der fĂ€hig sein wird, in der heutigen multilateralen und komplexen Welt zu ĂŒberleben. Einer Welt, wo ârichtigeâ Antworten von Seiten der Fachleute nicht unbedingt die Menschen erreichen, wo aber Christen, befreit durch Gottes Gnade, die Verantwortung haben, ĂŒber diese Gnade mit anderen zu sprechen, und bereit sein mĂŒssen, sich auf schwierige GesprĂ€che einzulassen.
Die Reformation wirkte als ein Katalysator fĂŒr ein erneuertes VerstĂ€ndnis der Rolle der Kirche in der Gesellschaft. FĂŒr Luther hatte die ganz normale Arbeit sowohl im Haus als auch auĂerhalb des Hauses einen hohen Wert. So erhielt die alltĂ€gliche Arbeit eine neue WĂŒrde, und er betrachtete sie ausdrĂŒcklich als einen wesentlichen Teil des Dienstes an Gott und dem NĂ€chsten. Diese Sichtweise war eine fruchtbare Grundlage fĂŒr spĂ€tere Konzepte einer aktiven BĂŒrgerschaft. In seinem Aufsatz ĂŒber die Rolle und die Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft, weist Kjell Nordstokke darauf hin, dass nach Luther die Kirche durch Gott dazu berufen ist, ein âlebendiges Wortâ in der Welt zu sein.
Die Aufforderung, ein âlebendiges Wortâ zu sein, ist eine Ermahnung zu aktiver BĂŒrgerschaft. Luther verĂ€nderte radikal das VerstĂ€ndnis von christlicher Berufung, er verlagerte den Schwerpunkt vom inneren Leben der Kirche auf den Dienst an der Welt â auf ein Dasein als christliche BĂŒrger, die ihren NĂ€chsten Liebe und FĂŒrsorge angedeihen lassen.
Mit Blick auf Norwegen nennt Nordstokke vier diakonische TĂ€tigkeitsfelder: NĂ€chstenliebe, die Schaffung inklusiver Gemeinschaften, sorgsamer Umgang mit der Schöpfung und Kampf fĂŒr Gerechtigkeit.
2013 verabschiedete der LWB ein Grundsatzpapier zur Verwirklichung von Gendergerechtigkeit im LWB (Gender Justice Policy â GJP), das zur Bewusstseinsbildung im Blick auf die Themen InklusivitĂ€t und Geschlechterrollen in den Kirchen beitragen soll. Am Beispiel des Volkes der Murut, die im malaysischen Bundesstaat Sabah leben, beschreibt Au Sze Ngui, wie die befreiende Kraft des Evangeliums die Wahrnehmung der Geschlechterrollen bei den Murut verĂ€ndert hat. Sie stĂŒtzt sich dabei auf die Argumentation und Methodik der GJP. Ngui legt dar, wie das christliche VerstĂ€ndnis der Gleichheit aller Menschen vor Gott Murut-Frauen befĂ€higt hat, in der Kirche Aufgaben zu ĂŒbernehmen, die traditionell den MĂ€nnern vorbehalten waren. Sie verweist auf die befreiende Kraft des Evangeliums, wenn es darum geht, bestimmte Traditionen in den Blick zu nehmen, die trotz aller manchmal vorgebrachten Argumente nicht mit der wirklichen Botschaft des Evangeliums ĂŒbereinstimmen.
Befreiung von der Knechtschaft der SĂŒnde ist der Anfang unseres Strebens nach Gerechtigkeit: wir sind frei; wir haben Vergebung erlangt; wir empfangen die Gnade Gottes. Wir sind frei, uns und die Welt zu verĂ€ndern. Es gibt viele Beispiele dafĂŒr, wie das Christentum durch seine UnterstĂŒtzung der Neubewertung âtraditionellerâ Praktiken als Kraft des Wandels gewirkt hat.
âBefreit durch Gottes Gnade, um die Welt zu verĂ€ndernâ ist das Motto des Globalen Netzwerks Junger Reformerinnen und Reformer des LWB, das im Rahmen der Vorbereitungen auf das 500. ReformationsjubilĂ€um gegrĂŒndet worden ist. Durch dieses Motto inspiriert, greift Monica Villarreal die Frage nach der befreienden Kraft des Glaubens von einer Jugendperspektive her auf. Befreit sein, durch Gott befreit sein, das fĂŒhrt auch immer zugleich zu der Frage, wovon wir denn nun befreit sind und wofĂŒr. Villarreal zit...