1. Entstehung des reformierten Protestantismus
Zum Ende des Spätmittelalters waren die Menschen unzufrieden und erbittert über die Veräußerlichung der Religion, über den Umgang mit Ablass, Beichte und Buße, mit denen die Menschen ihr Seelenheil zu erreichen suchten, über die Prachtentfaltung der Kirche, über Ämterkauf, über Missachtung des Armuts- und Keuschheitsgebots durch die Geistlichen, über deren mangelhafte Amtsführung und Bildung. Hinzu kamen amtliche Beschwerden gegenüber dem Papsttum bezüglich der Besetzung geistlicher Stellen, der geistlichen Gerichtsbarkeit und finanzieller Belastung. Obwohl es schon früher Versuche gab, die römische Kirche zu reformieren (Waldenser, Katharer, Lollarden; Petrus Waldes, Wiclif, Hus, Savonarola), wurde erst das 16. Jahrhundert zum Zeitalter der Reformationen. In ihrem Ergebnis kam es zum Aufbau mehrerer protestantischer Kirchen. Als solche (oder auch als evangelisch) gelten alle christlichen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften, die in der Tradition der Reformationen des 16. Jahrhunderts stehen. Gleich zu Anfang entstanden die lutherische, die reformierte, die täuferische und die anglikanische Kirche. Die Reformation in Deutschland war zeitweise gefährdet durch die Verschiedenheit der reformatorischen Theologien und der entstehenden Kirchenwesen sowie durch den Widerstand der katholischen Kirche, des Kaisers und vieler Reichsstände.
Bedeutender Vorbereiter der Reformationen war die humanistische Bewegung. Sie kritisierte den geistigen und sittlichen Verfall, den Machtmissbrauch der Kirche und rief zur Rückkehr zu den Ursprüngen des Christentums auf. Das Betreiben klassischer Sprachstudien, auch des Hebräischen, ermöglichte das Lesen der Bibel in den Ursprachen. Führender Kopf der Humanisten war Erasmus von Rotterdam. 1516 veröffentlichte er den griechischen Urtext des NT und dazu seine lateinische Übersetzung. Ein Vergleich mit der von der Kirche benutzten Übersetzung – der Vulgata – ergab bei ihr an vielen Stellen große Ungenauigkeiten. Große Verbreitung fand sein Erbauungsbuch Enchiridion militis Christiani (Handbüchlein eines christlichen Streiters).
1.1 Reformatorische Aufbrüche
Da es nicht gelang, die Kirche auf die ursprüngliche Form und die biblischen Grundlagen zurückzuführen, bauten die Reformatoren unter unterschiedlichen Bedingungen an verschiedenen Orten ein neues, aber vielfältiges evangelisches Kirchenwesen auf.
Martin Luther (1483 – 1546) gehörte 1505/24 den mönchischen Augustiner-Eremiten an, die in Wissenschaft und Ausbildung tätig waren. Seit 1512 war er im ernestinischen Sachsen Theologieprofessor an der 1502 gegründeten Universität der Stadt Wittenberg mit ihren 2 000 Einwohnern. 1517 stieß er mit 95 Thesen gegen den Ablass die Reformation im Deutschen Reich erfolgreich an. 1520 verfasste er drei Schriften, in denen er sein Reformprogramm für die römische Kirche beschrieb. Mit dem Augsburger Bekenntnis von 1530 begann die Eigenständigkeit des lutherischen Protestantismus. Mitte des 16. Jahrhunderts war der Aufbau des lutherischen Staatskirchenwesens vollendet – und Deutschland konfessionell gespalten. Nach Luthers Tod kam es zu Lehrstreitigkeiten im eigenen Lager. Konkordienformel (1577) und Konkordienbuch (1580) wurden zur Grundlage der lutherischen Orthodoxie. Damit war die Bekenntnisbildung im Luthertum abgeschlossen. Luthers Reformation setzte sich vorwiegend im Ostseeraum durch.
Luthers Schrifttum besteht weitgehend aus situationsbezogenen Aufrufen, Appellen an die Obrigkeit und Antworten auf einzelne Fragen und auf aktuelle Probleme. Eine systematische Darstellung seiner Theologie lieferte er nicht. Sein theologischer Schwerpunkt ist, dass der Mensch trotz seiner Sünden allein durch seinen Glauben in Gnade von Gott angenommen wird (Rechtfertigungslehre). Er verfasste einen Kleinen und Großen Katechismus (1529), eine kleinere Bekenntnisschrift (1537 Schmalkaldische Artikel) und etliche Kirchenlieder. Mit seiner Bibelübersetzung (1522 NT, 1534 AT) förderte er das Entstehen der deutschen Schriftsprache. Er kämpfte nicht nur gegen das Papsttum, sondern grenzte sich auch schroff ab gegen andere Reformer bzw. Humanisten (Karlstadt, Müntzer, Zwingli, Oekolampad, Erasmus). Seine Trennung zwischen Welt und Gottesreich bewirkte eine weitgehende kirchliche Abkehr von politischen und sozialen Anliegen. Widerstand gegen Obrigkeit war ihm unzulässig. 1525 verurteilte er die Aufstände der Ritter und Bauern, die sich auf ihn beriefen. Damit endete seine Reformation als Volksbewegung. Um sie zu verwirklichen, überließ er dem Landesherrn die kirchliche Gesetzgebungs- und Verwaltungsgewalt (landesherrliches Kirchenregiment). Gegen Türken [den Islam] (Heerpredigt wider die Türken, 1529) und Juden (Von den Jüden und ihren Lügen; Vom Schem Hamephoras [Gottesnamen] und vom Geschlechte Christi; Von den letzten Worten Davids; alle 1543) bezog er radikale Positionen. Seine religiös begründete Judenfeindschaft wirkte in späterer Zeit nach. Er verstand seine Zeit als apokalyptische Endzeit. Einen ebenbürtigen Nachfolger hatte er nicht.
Philipp Melanchthon (1497 – 1560) war Philologe, Pädagoge und der Theologe und der Systematiker der Wittenberger Reformation. Humanistisch geprägt, gestaltete er das Bildungswesen als Basis für eine Veränderung des Menschen neu. Für fast alle Wissensgebiete schrieb er Lehrbücher. Er betonte den freien Willen im irdischen Bereich und den gesellschaftlichen Gebrauch von Gottes Gesetz. Auf unnötige Polemik verzichtete er. Außerhalb der Mitte des Evangeliums war er kompromissbereit und flexibel, er stritt für die Überwindung allzu enger konfessioneller Schranken. Das brachte ihm zahlreiche Gegner auch im lutherischen Lager ein. Seine Anhänger wurden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vom orthodoxen Luthertum als Philippisten bekämpft.
1521 schrieb er die erste lutherische Dogmatik Loci communes rerum theologicarum (Grundbegriffe der Theologie), endgültige Fassung 1544. 1530 skizzierte er, mit Betonung der Gemeinsamkeiten mit der römischen Kirche, die lutherische Lehre im Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana). Seine verbesserte Confessio Augustana variata (1540) – der Luther, Kurfürst Johann Friedrich I. und auch Calvin zustimmten –, mit größerer Offenheit gegenüber den Schweizer Reformatoren und schärfer gegen die römische Kirche gerichtet als 1530, wurde später von der lutherischen Orthodoxie verworfen. Seine Sammlung eigener theologischer Texte (zusammen mit den drei altkirchl...