B. DAS JESAJABUCH
ALS LITERARISCHE KOMPOSITION
Die geschichtlichen HintergrĂŒnde, die im ersten Teil skizziert worden sind, haben deutlich gemacht, dass das Jesajabuch alles andere als ein Opus aus einer Hand mit einer uniformen Herleitung ist, sondern eine komplexe, im Laufe von ca. 450 Jahren angewachsene literarische Komposition. Das neue Forschungsparadigma sieht die biblischen Schriften und so auch die prophetischen BĂŒcher nicht mehr als ungeordnete Worthalden an, in denen man nach den Ă€ltesten und authentischsten GottessprĂŒchen sucht, sondern als »literarische Kathedralen«, an denen die Literaten des Alten Israels ĂŒber Jahrhunderte gearbeitet haben. Wie jeder Stein im Bauwerk seine eigene Geschichte und Funktion besitzt, so auch jeder Spruch im Gesamtkunstwerk der prophetischen Schriften. Galt das Hauptaugenmerk frĂŒher den vermeintlich Ă€ltesten EinzelsprĂŒchen, steht heute der Gesamtaufbau der prophetischen BĂŒcher im Mittelpunkt der Forschung. Wer zum Propheten gelangen will, kommt am Buch nicht vorbei. Nur in ihm ist das Echo seiner Stimme zu vernehmen.
Das Zustandekommen dieser weitlĂ€ufigen und komplexen Schriften ist ohne Tradenten nicht denkbar. Entgegen frĂŒherer Auffassungen handelt es sich nicht um bloĂe Sammler oder gar um einfallslose Epigonen, sondern um geschulte Literaten, die Altes und Neues, Eigenes und Ăberkommenes auf kreative Weise miteinander ins GesprĂ€ch brachten und so die jeweilige prophetische Tradition fĂŒr ihre Zeit fortschrieben und aktualisierten. Aufs Ganze gesehen gibt das Jesajabuch in seiner Vielschichtigkeit einen Einblick in die theologische Auseinandersetzung um die Zukunft des Gottesvolkes in exilischer und nachexilischer Zeit. Darin spielt die Ăffnung der Jhwh-Religion auf Menschen aus den Völkern, die Zentrierung auf Zion/Jerusalem und auf die ethische Verantwortung des Einzelnen eine groĂe Rolle.
In einer an den literarischen Merkmalen orientierten Lesung ergibt sich folgender Aufbau dieses prophetischen Dramas:
| I. Akt: | Kap. 1â12 Zion und Jerusalem zwischen Gericht und Heil |
| II. Akt: | Kap. 13â27 Von Zions Feinden und Freunden und Jhwhs Königsherrschaft |
| III. Akt: | Kap. 28â35 Der göttliche König und die Zionsgemeinde |
| IV. Akt: | Kap. 36â39 Die Bedrohung und Errettung Zions und Jerusalems |
| V. Akt: | Kap. 40â48 Jakob/Israel in Babel und seine Befreiung durch Kyrus |
| VI. Akt: | Kap. 49â55 Die Restauration Zions und Jerusalems |
| VII. Akt: | Kap. 56â66 Die Trennung der Gemeinde in Frevler und Fromme |
Wenn hier von »Akten« die Rede ist, dann sind damit literarische Kompositionseinheiten gemeint, nicht aber theatermĂ€Ăige Strukturen, die eine tatsĂ€chliche AuffĂŒhrungspraxis im biblischen Israel voraussetzen wĂŒrden, fĂŒr die es keine Anzeichen gibt.31 Das Jesajabuch ist ein Zions-Drama, bei dem die Leser bzw. Hörer die Entwicklung Jerusalems vom Ort des Gerichts zum Ort des eschatologischen Heils fĂŒr das Gottesvolk und die Völker miterleben.32 Dabei nehmen sie eine privilegierte Position ein, denn schon ab Jes 2,1 ist ihnen der Heilswillen Jhwhs bekannt und sie können miterleben, wie sich der Plan Gottes an Israel und Völkern vollzieht. Sie haben Anteil an der »Vision Jesajas« (Jes 1,1) und eignen sich diese Schauung im Leseprozess an, falls sie dem Buch und seiner Botschaft gegenĂŒber nicht verstockt sind (Jes 29,9â14.18.24; 32,3).
Eine Besonderheit des Jesajabuches besteht in der zentralen Stellung der Kap. 36â39, die mit kleinen, aber wichtigen Differenzen auch in 2 Kön 18â20 ĂŒberliefert sind. Die ErzĂ€hlung von der assyrischen Bedrohung Jerusalems durch Sanherib ist kein »biographischer« Appendix aus den KönigsbĂŒchern, weil man etwa in der Jesajarolle alle Begebenheiten dieses Propheten gesammelt wissen wollte, sondern stellt die textweltliche Mitte der gesamten Buchrolle dar. Die Errettung Zions ist die weltweit sichtbare Garantie dafĂŒr, dass Jhwh und niemand sonst seinen Geschichtsplan fĂŒr Israel und die Völker durchsetzt. Alle Völker, die gegen Jerusalem anstĂŒrmen, werden am Gott Israels, der auf dem Zion wohnt, klĂ€glich scheitern. Aber alle Völker, die sich dem Weltenkönig in Jerusalem zuwenden, werden am Zion ihr Heil finden.
I. AKT: KAP. 1â12
ZION UND JERUSALEM ZWISCHEN GERICHT
UND HEIL
Nach der Ăberschrift, die den gesamten Textbestand dem Propheten und VisionĂ€r Jesaja ben Amoz als AutoritĂ€t, als DiskursgrĂŒnder, zuschreibt, folgt der erste Akt, der Zion und Jerusalem in der Spannung zwischen Gericht und Heil, zwischen sĂŒndiger Gegenwart und gottgefĂ€lliger Zukunft prĂ€sentiert.
Wie so oft im Ersten/Alten Testament sind bei der Suche nach kompositorischen Strukturen die AuĂen- und Innenglieder von groĂer Bedeutung, die sich um eine zentrale Mitte legen. Dieses Zentrum liegt bei Jes 1â12 in 5,1â8,18 vor, an das sich mit 8,19â9,9 ein Epilog anschlieĂt. WĂ€hrend in der Exegese hĂ€ufig von »jesajanischer Denkschrift« die Rede ist, was die Grundlegung durch den Propheten betont, bietet die Bezeichnung »Immanuelschrift« eine wichtige inhaltliche Ausrichtung. Angefangen von der Zeit des Königs Ahas beim syrisch-ephraimitischen Konflikt bis zur nachexilischen Erwartung eines endzeitlichen davidischen Thronnachfolgers bleibt das Thema des Immanuel in der literarischen und theologischen Entwicklung des Jesajabuches ĂŒber Jahrhunderte hinweg virulent.33 Diese Immanuelschrift besteht aus zwei Ich-ErzĂ€hlungen (6,1â13; 8,1â18) und einem Er-Bericht im Zentrum (7,1â25), wobei dieser Wechsel in der Perspektive auf die Arbeit von SchĂŒlerkreisen hindeutet. BestĂ€tigt wird dies durch den Schlussakzent in 8,16â18, der von der Versiegelung der Weisung in den JĂŒngern des Propheten berichtet. Als Prolog und Epilog umgeben das Zentrum das Weinberglied (5,1â7) und die AnkĂŒndigung eines erneuten Davidsohnes (8,19â9,6). Nach dem Weinberglied folgt eine Serie von Wehe-Rufen (5,8â30), welche die fehlende Gerechtigkeit, auf die das Lied vom Weinberg hinauslief, exemplifiziert. Dazu wurde der letzte Teil (9,7â10,4) mit dem Refraingedicht von der »ausgestreckten Hand« (9,7â20) und dem Wehe-Ruf (10,1â4) hinter die erweiterte Immanuelschrift gestellt.
Vor diese mehrfach gerahmte Immanuelschrift ist eine doppelte OuvertĂŒre platziert (1,2â2,5; 2,6â4,6), die nicht den davidisch-messianischen Herrscher zum Thema hat, sondern Zion/Jerusalem als Bestimmungsort, an dem sich das endzeitliche Heil zeichenhaft fĂŒr Israel und die Völker ereignen soll. Damit diese Vision Wirklichkeit werden kann, muss das Jerusalemer Gemeinwesen von kultischer SĂŒnde und sozialen Vergehen gereinigt werden. Dann erst kann es zum Ort werden, von dem die göttliche Weisung ausgeht und zu dem sich die Völker auf den Weg machen. Die Abfolge von Völkerwallfahrt (2,1â5) und Reinigung Zions mit dem Ziel der Heiligung (4,2â6) hat sein Pendant am Ende des Buches in 66,18â23 (Völkerwallfahrt) und 66,15â17 (Gericht an allem Fleisch).
Die doppelte OuvertĂŒre (1,2â4,6) â
Jerusalems SĂŒnde, Reinigung und zukĂŒnftiges Heil
Nachdem die Leser das Portal der literarischen Kathedrale mit der Ăberschrift »Vision Jesajas, des Sohnes des Amoz, die er geschaut hat ĂŒber Juda und Jerusalem in den Tagen des Usija, Jotam, Ahas und Hiskija, der Könige von Juda« (1,1) durchschritten haben, hören sie die Stimme Jhwhs, der Himmel und Erde als Zeugen im Rechtsstreit gegen sein sĂŒndiges Volk aufruft (1,2f.). Was zur Verhandlung ansteht, ist nicht die Frage, ob Israel von ihm abgefallen sei â das ist unbestritten â, sondern ob Jhwh seine rebellischen Kinder so hart habe strafen dĂŒrfen, dass kein heiler Fleck mehr ĂŒbrig sei.34 Im Hintergrund dieser fĂŒr heutige Leser skandalösen Aussage steht das im Altertum gĂŒltige und bis in die Neuzeit reichende Recht der Eltern, ihre Kinder körperlich zu zĂŒchtigen. Wie Eltern, die ihre Kinder unter MĂŒhen groĂgezogen haben und von ihnen ein ehrendes Verhalten erwarten dĂŒrfen, so hat auch Jhwh als Vater seines Volkes (vgl. Jes 45,10; 63,16; 64,7) einen Anspruch auf LoyalitĂ€t von Seiten Israels. Dieser ist jedoch bitter enttĂ€uscht worden, so dass er mit SchlĂ€gen, d.h. mit militĂ€rischen Aktionen der feindlichen MĂ€chte sein Volk bestrafte. Im Vergleich mit der mosaischen Bestimmung ĂŒber den störrischen Sohn, der von der Dorfgemeinde gesteinigt werden sollte, wenn er sich der elterlichen Weisung dauerhaft verweigerte (Dtn 21,18â21), verhĂ€lt sich Jhwh noch zurĂŒckhaltend, denn seine Söhne werden nicht gĂ€nzlich weggerafft, sondern ein kleiner Rest bleibt bestehen. Es ist dieser Rest, von dem aus die Zukunft Gestalt gewinnt. Die Strafe an den rebellischen Kindern entspricht nicht nur göttlicher PĂ€dagogik, sondern kommt auch mit dem ĂŒberein, was Jhwh seinem Volk im Fall des Bundesbruchs am Ende der Mose-Tora, d.h. am Schluss des Pentateuchs, angedroht hatte: eine Zerstörung gleich der von Sodom und Gomorra (Dtn 29,22; vgl. Gen 19,24f.). BestĂ€tigt wird dieser Bezug durch den Höraufruf an Himmel und Erde (Jes 1,2), der sich in dieser Form nur noch zu Beginn des Moseliedes in Dtn 32,1 findet (mit Zeugenfunktion in Dtn 4,26; 30,19; 31,28). Wie am Ende der MosebĂŒcher (Dtn 32,28f.) so bedauert Jhwh auch zu Beginn des Jesajabuches die fehlende Einsicht auf Seiten seines Volkes (Jes 1,3). Es geht aber nicht etwa darum, die Strafen der BundesflĂŒche anzudrohen (vgl. auch Lev 26; Deut 28), denn diese hatten Israel ja bereits getroffen, sondern die bleibende GĂŒltigkeit des Gotteswortes zu unterstreichen (vgl. Jes 1,2.20). Wie Jesajas Gerichtsworte schmerzliche RealitĂ€t geworden waren, so werden auch seine Heilsworte tröstende ErfĂŒllung finden. Durch die Anbindung des Jesajabuches an die Fluch- und SegenssprĂŒche des Pentateuchs machen die Ăberlieferer Jesaja ben Amoz zum Propheten in der Nachfolge des Mose (Dtn 18,15.18) und die prophetische Schriftrolle zur Aktualisierung der mosaischen Tora!
Die Bestrafung des Nicht-Hören-Wollens fĂŒhrt in Jes 1,9 nicht zur vollstĂ€ndigen Vernichtung, sondern zum Rest derer, die sich in der Wir-Form den Lesern vorstellen: »HĂ€tte Jhwh Zebaot nicht einige wenige Entronnene fĂŒr uns ĂŒbrig gelassen, wir wĂ€ren wie Sodom geworden, wir wĂ€ren Gomorra gleich.« Dies ist ein wichtiges Detail, denn von Anfang an stehen die Leser vor der Frage, ob auch sie zu diesem Rest (vgl. 4,3; 7,22; 10,20â22; 11,11.16) gehören wollen, mit dem Gott die Geschichte seines Volkes fortsetzt. Nach der Vernichtung, die dem FĂ€llen einer Eiche gleicht, deren Stumpf auch noch abgeschlagen wird, bleibt ein Spross ĂŒbrig, der »heiliger Same« ist (6,13). So bekommt auch der Name des ersten Sohnes Jesajas, Schear-Jaschub, »Ein-Rest-Kehrt-Um« bzw. »Ein-Rest-Wird-ZurĂŒckkehren« (7,3) eine tiefere Bedeutung. Nur diejenigen, die von ihrer SĂŒnde um- und zu Gott zurĂŒckkehren (vgl. 59,20), haben teil an der Restgemeinde, gehören zum SchĂŒlerkreis Jesajas und zu den Hörern des Buches.
Der Symbolname des zukĂŒnftigen davidischen Thronnachfolgers Immanuel (7,14) fĂŒgt sich nahtlos in dieses Bild ein, denn »Mit-Uns-Gott« ist der einzige Personenname des AT, der ein kollektives Element enthĂ€lt! Es verweist auf die Wir-Gruppe, die sich im Laufe des Jesajabuches konstituiert und fĂŒr die Leser aller Jahrhunderte offen steht. Diese Wir-Gruppe hat nicht irgendwo in Juda oder in der Diaspora ihr Zuhause, sondern auf dem Zion, der religiösen Mitte des Gottesvolkes.
Die Kult- und Sozialkritik in Jes 1,10 ff. mit der RĂŒge an die Adresse kultischer Eiferer, die ihre Opfergaben dem ethischen Tun vorziehen, bleibt immer aktuell, nicht zuletzt fĂŒr die Zeit der nachexilischen Restauration. Die Weisung der Wir-Gruppe im Namen Jesajas besteht nicht in einer völligen Ablehnung von Opfern, sondern im Festhalten am Primat der Ethik vor jeder kultischen Handlung. WĂŒrde Jhwh Opfergaben aus den HĂ€nden von Frevlern annehmen, so verhielte er sich wie ein Richter, der sich der Bestechlichkeit schuldig macht!
Die »Zwei-Wege-Lehre« in 1,19â20, welche die Alternative von Hören und Nicht-Hören vor Augen stellt, verweist erneut auf die Segens- und Fluchformeln in der mosaischen Tora (vgl. Lev 26; Dtn 28; 30,15â18). Auch in nachexilischer Zeit hat sich an der Entscheidung, in die Jhwh die Hörer des Wortes stellt, nichts geĂ€ndert. Deutlicher als in vorexilischer Zeit, als Israel en bloc der prophetischen Kritik ausgesetzt war, ist nun jeder Einzelne angesprochen. Gibt es Bestrafung, dann wird sie nicht mehr das ganze Volk treffen, sondern nur die Frevler (Jes 1,29 f.). Wenn am Schluss des ersten Kapitels (V. 31) den AbtrĂŒnnigen das Feuer droht, das niemand löschen kann, dann ist das die groĂe BrĂŒcke zum letzten Vers des Buches (66,24).
Wie dringend eine Entscheidung zum Leben nach der Weisung Jhwhs geboten ist, zeigt das Leichenlied in Jes 1,21â26, das der korrupten Stadt Jerusalem und seinen FĂŒhrungskrĂ€ften gilt. Die Gegner kommen nicht von auĂen, sondern schĂ€digen das Gemeinwesen von innen her. Was Zukunft sichern kann, ist die Bekehrung zu Recht und Gerechtigkeit; nur so kommt es zur Erlösung, zum Loskauf Zions (1,27). Wer sich dem widersetzt und sich gegen Jhwh auflehnt, der wird umkommen (1,28). Die Trennung von Gerechten und Frevlern, welche die letzten beiden Kapitel des Jesajabuches (Jes 65f.) dominiert, ist am Ende des ersten Kapitels bereits angelegt.
Dem Gericht, das auf die Restauration Jerusalems als »Stadt der Gerechtigkeit« hinauslĂ€uft (1,26), schlieĂt sich das Bild der zukĂŒnftigen V...