1 Warum ist der Thesenanschlag ĂŒberhaupt wichtig?
Mythos Luther
Der Thesenanschlag ist ein Mythos. Mit dieser Feststellung wird mancher die Frage, ob der Thesenanschlag tatsĂ€chlich stattfand oder nicht, wohl als erledigt betrachten. Allerdings wĂ€re das ein Fehler. Denn ob etwas ein Mythos ist, sagt noch nichts darĂŒber aus, ob es auch einen RealitĂ€tsgehalt hat, und wenn ja welchen.15 Religionswissenschaftlich betrachtet, ist ein Mythos eine »heilige Geschichte«16, die in illo tempore stattfindet, jener »Zeit vor der Zeit«, in der die Götter die entscheidenden Dinge vollbrachten, den Kosmos schufen, den Menschen, die Ordnung der Welt. Es gibt aber auch historische oder politische Mythen, die nicht ĂŒber die Götter, sondern ĂŒber die Vorfahren berichten, ĂŒber Taten der Vergangenheit, die das Gemeinwesen geprĂ€gt haben und die uns Aufschluss darĂŒber geben, wer wir sind und woher wir kommen. Normalerweise ist ein Mythos, egal ob religiös, politisch oder historisch, eine UrsprungserzĂ€hlung; er erklĂ€rt, warum etwas so ist, wie es ist. FĂŒr manche sind Mythen Verzerrungen oder gar bewusste Manipulationen der Wirklichkeit, andere sehen in ihnen eine bildhafte, erzĂ€hlerische Verdichtung der RealitĂ€t. In jedem Fall aber ist klar: Historische Mythen haben â wie lose, wie verzerrt auch immer â mit der historischen RealitĂ€t zu tun. Wenn also etwas ein Mythos ist, heiĂt das noch nicht, dass dahinter keine RealitĂ€t steht.
Im Falle Martin Luthers sind Mythos und historische RealitĂ€t besonders eng miteinander verwoben. Denn die Mythisierung Luthers begann schon zu seinen Lebzeiten und wurde von ihm selbst vorangetrieben. Am 1. November 1527, einen Tag nach dem zehnjĂ€hrigen JubilĂ€um des Thesenanschlags, schrieb Luther in einem Brief an den reformatorischen Theologen Nikolaus von Amsdorf, er trinke in Erinnerung daran, dass zehn Jahre zuvor die AblĂ€sse »vernichtet« beziehungsweise »zu Boden getreten«17 worden seien â Luther trank ĂŒbrigens nicht etwa einen Tag zu spĂ€t, denn der 31. Oktober galt ab zwölf Uhr mittags als »Vorabend« des Festes Allerheiligen und damit als liturgisch zu diesem Tag gehörend. 1537 bekam Luther mit Georg Rörer einen PrivatsekretĂ€r zur Seite, der helfen sollte, die wichtigen biografischen Daten und ZusammenhĂ€nge fĂŒr die Nachwelt zu ĂŒberliefern.18 Manche Forscher sehen in den entsprechenden BemĂŒhungen der 1540er Jahre das Streben nach einer »Monumentalisierung« Luthers, zu deren Ergebnissen auch die ErzĂ€hlung vom Thesenanschlag gehöre.19 Ob das stimmt oder nicht â in der Folge bildete sich ein Kanon »mythischer« Szenen aus Luthers Leben heraus, die bis heute den erzĂ€hlerischen Rahmen fĂŒr jede Luthergeschichte ausmachen.
Von Luthers Gewittererlebnis bei Stotternheim, das ihn 1505 ins Kloster trieb, ĂŒber das »Turmerlebnis«, bei dem er seine reformatorische Entdeckung vom gnĂ€digen Gott machte, bis zum Thesenanschlag 1517, dann weiter von der Verbrennung der Bannandrohungsbulle 1520 als endgĂŒltigem Bruch mit dem Papst ĂŒber Luthers Auftritt beim Reichstag in Worms 1521 als Akt des Widerstands aus GewissensgrĂŒnden und dem Aufenthalt auf der Wartburg mit der Ăbersetzung des Neuen Testaments bis zu Luthers Hochzeit 1525 â Luthers Leben, jedenfalls in den stĂŒrmischen Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung, lĂ€sst sich anhand solcher Szenen erzĂ€hlen, die die entscheidenden Lebensereignisse des werdenden Reformators bildhaft verdichten, narrativ eingĂ€ngig machen und fĂŒr aktualisierende Deutungen öffnen: Protestantische Ernsthaftigkeit kann man anhand des Stotternheim-Ereignisses veranschaulichen, welches einen jungen Mann zeigt, der sich bis in die letzte Konsequenz an sein in einer Notlage gegebenes Versprechen hĂ€lt; protestantische Innerlichkeit wird an der einsamen LektĂŒre und der daraus gewonnenen »reformatorischen Erkenntnis« im »Turmerlebnis« deutlich; der Thesenanschlag wird â allerdings erst im 19. Jahrhundert â zu dem Bild fĂŒr Luthers Reformstreben und Aufbegehren gegen die römische Kirche; vor dem 19. Jahrhundert wird die Konfrontation mit Rom in einer anderen Szene verdichtet, nĂ€mlich der Verbrennung der pĂ€pstlichen Bulle; Luthers Auftritt in Worms setzt die protestantische »Gewissensreligion«20 ins Bild; der Wartburgaufenthalt zeigt Luther als genialen Sprachschöpfer; und Luthers Hochzeit schlieĂlich symbolisiert das neue VerhĂ€ltnis, welches die Reformation dem Einzelnen gegenĂŒber der Welt ermöglicht, zeigt Luther als Stifter des evangelischen Pfarrhauses und als Familienvater.
Abb. 1: Luther als Gewissensheld: Hermann Freihold PlĂŒddemann, Luther vor dem Reichstag zu Worms, Ăl auf Leinwand, 1864.
Die mythischen, geschichtspolitischen Deutungen, mit denen Luther im Laufe von fast 500 Jahren öffentlich prĂ€sentiert wurde, schlieĂen direkt an diese Szenen an: »Luther, der Freiheitsheld«, das ist der Luther, der die Thesen gegen den unterdrĂŒckerischen Ablasshandel veröffentlicht, das ist der Luther, der in Worms vor Kaiser und Reich standhĂ€lt und sich von keiner Macht der Welt einschĂŒchtern lĂ€sst. »Luther, der deutsche Nationalheld«, das ist der Luther, der auf der Wartburg die Bibel in verstĂ€ndliches Deutsch ĂŒbersetzt und der mit einer einheitlichen Sprache auch ein Bewusstsein fĂŒr die nationale Zusammengehörigkeit der Deutschen schafft; das ist auĂerdem der Luther, der 1517 gegen den römischen Papst und 1521 gegen den spanischen Kaiser im Namen nicht nur seines Gewissens, sondern auch seiner »lieben Deutschen«21 auftritt und der schlieĂlich mit seiner ganz auf die persönliche Gottesbeziehung ausgerichteten Theologie die »deutsche Innerlichkeit«22 nachhaltig prĂ€gt â um nur zwei der zahlreichen historisch-politischen Lutherdeutungen zu nennen.
Abb. 2: Luther als Streiter gegen Rom: Manasse Unger, Luther verbrennt die Bannandrohungsbulle, Ăl auf Leinwand, um 1834.
Die EingĂ€ngigkeit der Luthergeschichte und die Vieldeutigkeit von Luthers reformatorischen Leistungen fĂŒhrten dazu, dass seit dem 19. Jahrhundert kein deutscher Staat darauf verzichtete, sich des historischen und politischen Mythos Luther zu bedienen: nicht das 1871 gegrĂŒndete Kaiserreich, das den Nationalhelden Luther in den Vordergrund rĂŒckte, nicht die Weimarer Republik, die Luther als Befreier aus UnterdrĂŒckung feierte, nicht die Nationalsozialisten, die den »deutschen« Luther propagierten, ohne allerdings dessen christlich-theologische BezĂŒge allzu stark zu machen, nicht die Deutsche Demokratische Republik, die in einem allmĂ€hlichen Prozess bis 1983 dazu kam, Luther zum VorkĂ€mpfer des Fortschritts und einem »der gröĂten Söhne unseres Volkes«23 zu erklĂ€ren, und auch nicht die Bundesrepublik Deutschland, die bei Luther wie bei den meisten historischen Traditionen der deutschen Nationalgeschichte groĂe ZurĂŒckhaltung an den Tag legte, 1983 aber der DDR eine eigene LutherwĂŒrdigung entgegensetzen wollte.
Ein Anschlag macht Epoche
Heute ist der Thesenanschlag als Beginn der Reformation der wichtigste und bekannteste Bestandteil des Luthermythos. Allerdings wird immer wieder infrage gestellt, dass die Reformation wirklich mit dem 31. Oktober 1517 beginnt. Manche Reformationsforscher messen Luthers 95 Thesen gegen den Ablass gar keine groĂe inhaltliche Bedeutung zu: Die Thesen enthielten noch gar nichts von dem, was spĂ€ter zur reformatorischen Botschaft Luthers wurde; sie seien vielmehr ihrem Inhalt nach ganz und gar römisch und papsttreu. Seit ĂŒber hundert Jahren herrscht Streit in der Forschung darĂŒber, wann Luther eigentlich zum Reformator geworden ist, und nicht wenige schlagen ein Datum nach dem Thesenanschlag vor. Andere wiederum verweisen darauf, dass die Reformation gar nicht mit Luther beginnt, sondern Luthers Wirken eine sehr lange Vorgeschichte habe. TatsĂ€chlich entstanden Luthers Ideen keineswegs im luftleeren Raum, und er war bei weitem nicht der Erste, der sie entwickelte und Ă€uĂerte. Luther selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er nichts Neues lehre, sondern dass er lediglich dieselbe Wahrheit verkĂŒnde, die auch schon Paulus im Neuen Testament und nach ihm der Kirchenvater Augustinus verkĂŒndeten. Auch der Ruf nach grundsĂ€tzlichen Kirchenreformen war 1517 schon lange nicht mehr neu. Auf dem Konzil in Konstanz 1415 wurde Jan Hus als Ketzer verbrannt; als Luther sich nĂ€her mit Hus beschĂ€ftigte, meinte er, dass Hus auch nichts anderes gelehrt habe als er selbst. Jan Hus, dessen Nachname das tschechische Wort fĂŒr »Gans« ist, soll auf dem Scheiterhaufen gerufen haben: »Heute bratet ihr eine Gans, aber in hundert Jahren wird ein Schwan aufstehen!« Luther wurde oft auf Bildern mit einem Schwan dargestellt, weil er sein Auftreten als die ErfĂŒllung dieser Prophezeiung und sich selbst als den Vollender von Husâ Gedanken verstand.24 Luthers 95 Thesen waren aus dieser Perspektive nicht viel mehr als der Tropfen, der das Fass zum Ăberlaufen brachte, oder der Funke, der das lĂ€ngst schon Bereitliegende in Brand setzte.
Abb. 3: Luther mit dem Schwan: Kupferstich, um 1620, aus: Biblia ⊠Goslar: Johann Vogt, 1620.
Ein solcher Funke zu sein, reicht aber manchmal aus, um zu einem epochalen weltgeschichtlichen Ereignis zu werden. FĂŒr die Zeitgenossen Luthers war jedenfalls sehr bald klar, dass das Jahr 1517 den Beginn der Reformation markierte. Luther selbst hat, wie gesagt, bereits mit nur zehn Jahren Abstand den 31. Oktober 1517 als die entscheidende Wegmarke gefeiert. Auch danach hat Luther immer wieder auf den Ablassstreit von 1517 als dem Auslöser der Reformation Bezug genommen. Dasselbe gilt fĂŒr Luthers wichtigsten Mitstreiter Philipp Melanchthon. In dieser Frage herrschte im 16. Jahrhundert sogar seltene ĂŒberkonfessionelle Einigkeit. 1550 nennt der reformatorische Wittenberger Theologe Johannes Stoltz 1517 das »Annus restauratae religionis«25, das »Jahr der Erneuerung des Glaubens«. Und schon 1535 schreibt ein unbekannter katholischer Autor in einem Bericht ĂŒber die AnfĂ€nge der Reformation: »Von der Zwispaltung so sich des Glaubens und Religion halben im 1517. jar in Teutscher Nacion hat angefangen.«26
Die Auffassung, dass die Reformation 1517 begann, stand somit seit dem 16. Jahrhundert nahezu unerschĂŒtterlich fest. Seit dem 18. Jahrhundert kam die Ăberzeugung hinzu, dass 1517 nicht nur die Reformation, sondern mit ihr im Grunde die ganze Neuzeit beginne, dass 1517 ein echtes Epochenjahr sei, das Jahr nĂ€mlich, mit dem das Mittelalter endet und die Moderne anfĂ€ngt. Diese Auffassung gab es in mehreren Varianten: einer lutherischen, tendenziell antikatholischen, nach der Europa erst in der Reformation geistig zu sich selbst gekommen sei; einer katholischen, tendenziell antiprotestantischen, nach der Europa durch die Reformation seine Seele verloren habe; und einer aufklĂ€rerischen, tendenziell antikirchlichen, nach der erst die Reformation dem Kontinent Freiheit und Vernunft gebracht habe. Auch Kombinationen dieser Varianten waren denkbar, etwa wenn im 19. Jahrhundert Johann Wolfgang von Goethe in einer Mischung aus Luthertum und AufklĂ€rung schrieb: »Wir wissen gar nicht, (âŠ) was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fĂ€hig geworden, zur Quelle zurĂŒckzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wi...