1EINLEITUNG
HĂ€tte die vorliegende Arbeit ein Titelbild, wĂŒrde es Folgendes zeigen: Eine Gruppe von Pfarrerinnen/Pfarrern1 sitzt um einen groĂen Tisch. Er ist reich gedeckt, das Foto wurde bei einem gemeinsamen Essen aufgenommen. An den Gesten ist zu erkennen, dass die MĂ€nner und Frauen miteinander diskutieren, eine Pfarrerin lacht. Im Hintergrund sieht man einen Pfarrer, der gerade zur TĂŒr hereinkommt. Er scheint sich verspĂ€tet zu haben. Bei dieser Gruppe â so wĂŒrde es der Leser in einer ErklĂ€rung erfahren â handelt es sich um eine selbstorganisierte kollegiale Gruppe von Pfarrerinnen/Pfarrern, die sich seit vielen Jahren regelmĂ€Ăig reihum in den PfarrhĂ€usern trifft. Sie kommen zusammen, um miteinander ein Thema zu bearbeiten oder einen Text zu lesen, um sich auszutauschen und gemeinsam zu essen.
Was zeigen andere pastoraltheologische BĂŒcher auf ihren Titelbildern â sofern sie welche haben? Auf dem BĂ€ndchen von Christian Grethlein aus dem Jahr 2009 ist ein KleiderstĂ€nder zu sehen.2 An ihm hĂ€ngen sowohl ein Talar als auch ein Anzug fĂŒr einen Mann. Stefan Bölts und Wolfgang Nethöfel zeigen auf ihrem Sammelband zu empirischen Studien zum Pfarrberuf eine als Pfarrer verkleidete mĂ€nnliche Puppe.3 Die Zeichnung auf Anke Wiedekinds Dissertation »Wertewandel im Pfarramt« lĂ€sst eine mĂ€nnliche Person im âșBĂŒrooutfitâč erkennen.4 Die Figur wirft einen Schatten an die Wand, die die vermeintliche Pfarrperson mit Heiligenschein und FlĂŒgeln zeigt.
Alle drei BĂŒcher haben eines gemeinsam: Sie zeigen eine einzelne mĂ€nnliche Pfarrperson.5 Diese Bilder decken sich auch mit dem Inhalt dieser und vieler weiterer pastoraltheologischer EntwĂŒrfe (vgl. Kap. 2). Sie haben die einzelne Pfarrperson und ihre individuelle Praxis zum Gegenstand, die primĂ€r in der parochialen Kirchengemeinde verortet wird. Diese Tendenzen scheinen u. a. durch das methodische Vorgehen der empirischen Forschung bedingt zu sein, die primĂ€r Einzelne hinsichtlich ihrer individuellen Praxis befragt (vgl. 2.2).
Wie verhĂ€lt es sich mit der kollegialen Gruppe, die sich zu Beginn dieser Einleitung im Pfarrhaus trifft und deren Bild das Cover der vorliegenden Arbeit schmĂŒcken könnte? Inwiefern wird sie in der pastoraltheologischen Forschung berĂŒcksichtigt? Kollegiale Gruppen bzw. die Bedeutung anderer Pfarrerinnen/Pfarrer fĂŒr die BerufsausĂŒbung werden zwar in der Forschung thematisiert, aber entweder auf direkte Kooperation von Pfarrerinnen/Pfarrern bezogen, etwa im Teampfarramt; oder ihre Bedeutung wird lediglich fĂŒr die Selbstleitung6 bedacht und fĂŒr die davon abgeleitete BerufsbewĂ€ltigung des Einzelnen.
Die vorliegende Arbeit geht hingegen einen anderen Weg. Sie entwickelt die These, dass dem Pfarrberuf eine kollektive Dimension innewohnt: Der Pfarrberuf wird zu einem betrĂ€chtlichen Anteil von TĂ€tigkeiten bestimmt, die mit anderen Kolleginnen/Kollegen ausgefĂŒhrt werden, etwa in Form direkter Zusammenarbeit in Kirchengemeinden oder Projektgruppen. DarĂŒber hinaus gibt es aber auch Begegnungen in Fortbildungsgruppen oder Pfarrkonferenzen,7 also in kollegialen ZusammenkĂŒnften, die der Fortbildung, der Informationsweitergabe und dem kollegialen Austausch dienen.8 Die Arbeit in kollegialen Gruppen ist im Pfarrberuf nicht nur quantitativ wichtig. Auch berufstheoretisch kommt ihnen eine elementare Bedeutung zu: Hier wird nicht nur der Einzelne in seiner Selbstleitung gestĂ€rkt, sondern auch â sozial fassbar in der kollegialen Gruppe â die Berufsgruppe als eigenstĂ€ndige GröĂe.
Kollegiale Gruppen, die der Fortbildung und der gemeinsamen Reflexion im Pfarrberuf dienen, sind der Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.9 An ihrem Beispiel wird die Forschungsfrage untersucht (vgl. 3.3.3): Welche Funktionen haben kollegiale Gruppen10 fĂŒr den Pfarrberuf?11
Im Verlauf des Forschungsprojektes hat es sich als sinnvoll erwiesen, unterschiedliche Formen kollegialer Gruppen zu differenzieren (vgl. 3.3.3): Erstens Gruppen, die von Pfarrerinnen/Pfarrern selbst initiiert und organisiert werden, etwa Predigtvorbereitungsgruppen. Zweitens Gruppen, die von anderen, meist der Kirchenleitung organisiert werden, z. B. die Pfarrkonferenz. Drittens institutionalisierte Gruppen auf Zeit, etwa Fortbildungsgruppen, die fĂŒr eine Woche in einer Fortbildungseinrichtung zusammenkommen und anschlieĂend wieder auseinandergehen. Und viertens kooperative Formen, z. B. das Pfarrteam in einer gröĂeren Kirchengemeinde.
Im Zentrum der folgenden Ausarbeitung steht eine umfassende qualitativ-empirische Erhebung in Form von Gruppendiskussionen mit selbst- und fremdorganisierten kollegialen Gruppen von Pfarrerinnen/Pfarrern (vgl. Kap. 5).12 Die Interviews wurden methodisch mithilfe des Gruppendiskussionsverfahrens gefĂŒhrt, ein offenes Konzept, das den Interviewten die Möglichkeit gibt, ihr Relevanzsystem zu entfalten (vgl. Kap. 4). Durch dieses Vorgehen orientiert sich die Studie bereits auf methodischer Ebene am Kollektiv und nicht am Individuum. Thematisch stand in den Interviews die Handlungspraxis der jeweiligen Gruppe im Mittelpunkt. Die Auswertung der Gruppendiskussionen erfolgt anhand der dokumentarischen Methode, die eng an das Gruppendiskussionsverfahren gekoppelt ist und sich vor allem fĂŒr die Erforschung kollektiver WissensbestĂ€nde eignet. Der methodologische Hintergrund dieses Erhebungs- und Auswertungsverfahrens wird in Kapitel 4 entfaltet. AnschlieĂend stellt Kapitel 5 die Ergebnisse der Auswertung dar. Es handelt sich bei diesem umfangreichen Kapitel um das HerzstĂŒck der Arbeit: Die gesamte Ausarbeitung grĂŒndet im empirischen Material.
Die Auswertung der Gruppendiskussionen mĂŒndet in die Ausarbeitung der âșStruktur des autonomen Wechselsâč (vgl. 5.8): Sie besagt u. a., dass Pfarrerinnen/Pfarrer in ihrer BerufsausĂŒbung nach Autonomie streben, die sich in den GesprĂ€chen in einer strukturellen und thematischen Wechselstruktur zeigt. Die Befragten legen sich in den Gruppendiskussionen sprachlich nicht fest, wechseln sprachlich hin und her und erzĂ€hlen gleichzeitig von Wechselsituationen in ihrer Berufspraxis, etwa dem Ăbergang von einem Raum in den anderen. Genau in diesen Wechseln zeigt sich in den Gruppendiskussionen das Streben nach Autonomie und wird eine Praxis der Autonomiewahrung dokumentiert, die in den âșWechselzonenâč der Berufspraxis verortet ist.13
Die Ergebnisse der Auswertung des empirischen Materials werden in Kapitel 6 mit grundlegenden Gedanken professionssoziologischer AnsĂ€tze (vgl. Kap. 3) verbunden. Der Grundgedanke dabei: Der Berufsgruppe kommt im berufstheoretischen Sinn eine eigene Funktion zu. In institutionalisierten Formen, z. B. in kollegialen Gruppen, legt die Berufsgruppe Handlungsregeln fest und sichert dadurch ihre Autonomie â sowohl die der Berufsgruppe, als auch die jeder Einzelnen. Durch die BerĂŒcksichtigung der Ebene der Berufsgruppe kann der professionstheoretische Entwurf von Isolde Karle14 erweitert werden, die den Pfarrberuf als Profession lediglich auf der Ebene individueller Handlungspraxis bedenkt (vgl. 3.3.2 und Kap. 6). Kapitel 6 differenziert die unterschiedlichen Funktionen kollegialer Gruppen im Pfarrberuf in professionssoziologischer Perspektive und kann als ein in sich geschlossenes Forschungsergebnis gelesen werden.
Kapitel 7 geht noch einen Schritt darĂŒber hinaus und macht die Ergebnisse fĂŒr die Pastoraltheologie fruchtbar: Der Pfarrberuf hat eine kollektive Dimension. Wie kann sie pastoraltheologisch noch umfassender erforscht werden? Dazu bietet das abschlieĂende Kapitel Perspektiven fĂŒr die pastoraltheologische Forschung.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es ausdrĂŒcklich nicht, die strukturell in der Kirche benötigte bzw. erwartete Zunahme kollegialer Kooperation zu fordern.15 Dahingegen wird die pastorale Arbeit in kollegialen Gruppen als ein Beispiel kollegialer Zusammenarbeit beschrieben und als eigenstĂ€ndiger wertvoller TĂ€tigkeitsbereich pastoralen Handelns dargestellt.16 Diese berufliche Praxis, die vor allem von GesprĂ€chsaustausch, Reflexion sowie Fortbildung geprĂ€gt wird, gilt es von kooperativen Formen zu unterscheiden. Die Erarbeitung der Funktionen kollegialer Gruppen fĂŒr den Pfarrberuf kann darĂŒber hinaus den kollektiven Kern der BerufsausĂŒbung deutlich machen: die gemeinsame Wahrung von Autonomie.
Der Aufbau der vorliegenden Arbeit in KĂŒrze zusammengefasst: Kapitel 2 (âșAllein Pfarrer seinâč) arbeitet das gegenwĂ€rtig in der Pastoraltheologie vorherrschende âșParadigma des Einzelnenâč aus. Es schlieĂen sich in Kapitel 3 professionssoziologische Ăberlegungen zur Berufsgruppe an, die in die Darstellung des Forschungsgegenstandes sowie der Forschungsfrage mĂŒnden. Kapitel 2 und 3 bieten die theoretische Grundlage der Studie. Kapitel 4 bereitet auf die Darstellung der Gruppendiskussionen in Kapitel 5 vor, indem Erhebungs- und Auswertungsmethoden (Gruppendiskussionsverfahren und dokumentarische Methode) prĂ€sentiert werden. Die Ergebnisse der Auswertung der Gruppendiskussionen folgen in Kapitel 5, das dem Leser gedanklich ermöglichen will, anhand ausgewĂ€hlter Interviewausschnitte den sich zuspitzenden Weg bis zur âșStruktur des autonomen Wechselsâč (vgl. 5.8) mitzugehen. Kapitel 6 greift auf die Ergebnisse aus Kapitel 3 zurĂŒck und erarbeitet auf der Basis von Kapitel 5 die Funktionen kollegialer Gruppen im Pfarrberuf in professionssoziologischer Perspektive. Kapitel 2 und Kapitel 7 bilden den pastoraltheologischen Rahmen der Arbeit: Die Erarbeitung der kollektiven Dimension des Pfarrberufs âșGemeinsam Pfarrerinnen/Pfarrer seinâč in Kapitel 7 antwortet auf das âșParadigma des Einzelnenâč in Kapitel 2.
Es handelt sich um eine qualitativ-empirische Forschungsarbeit, die das PhÀnomen kollegialer Gruppen im Pfarrberuf aus professionssoziologischer Sicht betrachtet und damit einen Beitrag zur Theorie des Pfarrberufs leistet.
Gunther Schendel hat 2017 im Auftrag des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD eine Aufsatzsammlung herausgegeben, in der u. a. auf der Basis empirischer Ergebnisse die VerÀnderungen im Pfarrberuf beleuchtet werden.17 Auf dem Cover des Buches ist eine Karikatur von Sisam Ben abgebildet. S...