Der Meister pflügt die Mitte des Landes.
Hölderlin1
1EINLEITUNG
1.1DIE »UNBEQUEME MITTE«
»Das Wort Mitte ist weder in der Politik noch in der Theologie ein eindeutiger Begriff. Der Theologe Johann Baptist Metz hat vor Jahrzehnten eine bequeme Mitte kritisch als einen Ort bezeichnet, an dem die Wahrheit begraben ist. Die Mitte, von der ich spreche, ist aber kein bequemer Ort, kein Ort eines billigen Ausgleichs, sondern ein Ort immer neu versuchter und oft nicht gelingender Synthese der Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens inmitten der Kirche und inmitten der ganzen Zivilgesellschaft, die bezogen auf ihre Zukunft gerade auch heute in einer Suchbewegung unterwegs sind. Die Mitte, von der ich spreche, ist zuerst und zuletzt Jesus Christus selbst […].«2
Diese Beschreibung der kirchlichen Mitte stammt nicht von Johannes Hanselmann, sondern von dem 2014 emeritierten römisch-katholischen Bischof Egon Kapellari, seinerzeit Diözesanbischof von Graz-Seckau und stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bischofskonferenz. In seiner Abgrenzung von einem ruhigen, dem Konflikt aus dem Weg gehenden Abwarten zwischen den Konflikten und dem Verständnis der Mittelposition als ständig zwischen den verschiedenen widerstrebenden Meinungen und Tendenzen vermittelnder Instanz sowohl innerhalb der Kirche als auch zwischen Kirche und der sie umgebenden Gesellschaft kommt Kapellaris Verständnis aber demjenigen des bayerischen Landesbischofs Hanselmann sehr nahe.3
»Mann der unbequemen Mitte« – so bezeichnete sich Hanselmann im Zusammenhang seiner Wahl zum Landesbischof 1974/75.4 Er legte Wert darauf, dass er keiner »Gruppe« angehöre, dass er zwischen den Fronten stehe, dass er gesprächsbereit in alle Richtungen sei. Das war eine vorteilhafte Ausgangslage für die Wahl. Diese Mittelposition ist dem bayerischen Landesbischof aber auch immer wieder angelastet worden: Er sei als Vermittler immer wieder undeutlich geworden, in seiner Suche nach Kompromissen oftmals nicht mehr selbst positioniert gewesen, habe sich und seine Meinung selbst verleugnet oder habe keine eigene Position mehr vertreten oder gar besessen.
Bevor diese Selbstbezeichnung Hanselmanns auf ihre Angemessenheit untersucht und in ihren verschiedenen Dimensionen diskutiert werden kann, soll im Folgenden herausgearbeitet werden, woher der Begriff der »Mitte« stammt und welche Assoziationen er in den 70er Jahren weckte. Des Weiteren soll die Unterscheidung einer »bequemen« und einer »unbequemen Mitte« genauer ins Auge gefasst werden.
1.1.1»Mitte« als politischer Standpunkt
Der Begriff »Mitte« gehört zunächst in den Kontext der politischen Diskussion der 70er Jahre. Auf die selbsterklärte Verortung der CDU als Sammelbecken der »christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte«5 und »christliche, interkonfessionelle und klassenübergreifende«6 Partei reagierte die SPD 1959 mit dem Godesberger Programm, in welchem Teile der sozialistischen Programmatik aufgegeben wurden und sich die Partei zur Volkspartei entwickelte.7
Willy Brandt verwendete 1972 zum ersten Mal den Begriff »Neue Mitte« für die sozialliberale Koalition: »Im Bündnis miteinander haben die Sozialdemokraten und die modernen Liberalen begonnen, die neue politische Mitte unseres Volkes zu schaffen.«8 Dabei sollte auch die Studentenbewegung in die parlamentarische Demokratie integriert werden.9 Franz Josef Strauß versuchte daraufhin im Anschluss an diese Regierungserklärung, den Begriff der »Mitte« auch für sich und die CDU/CSU zu reklamieren. Der Spiegel kritisierte den Begriff daraufhin als »unverbindliche Modevokabel«: »Da kann sich jeder was reindenken.«10
Der Begriff der »Mitte« lag in den 70er Jahren in der Luft, war umworbene und attraktive Vokabel, mit der man sich gern assoziierte, vor deren Beliebigkeit aber gewarnt wurde. Der Begriff war im Politischen verortet: Rechts und Links waren Orte in der politischen Auseinandersetzung.
Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner schreibt:
»Einerseits assoziieren wir mit [der Mitte] politische wie gesellschaftliche Respektabilität. Denn zur Mitte drängt, wer sich als wählbar und mehrheitsfähig erweisen will. Andererseits haftet der Mitte etwas Abgeschmacktes an; man verbindet sie mit abgestandener Bürgerlichkeit, die sich mit Mittelmäßigem begnüge.«11
Diese beiden Pole der Wahrnehmung der Mitte – das Streben nach breiter Akzeptanz und der damit verbundene, als Profillosigkeit deutbare Verzicht auf klare Positionierung – spielen auch in der Bewertung Hanselmanns eine Rolle.
1.1.2»Mitte« als kirchenpolitische Position
Als Hanselmann sich selbst als »Mann der unbequemen Mitte« bezeichnete, hatte er die Erfahrungen erbitterter Auseinandersetzungen in der Westberliner Kirche im Kopf: Ausgelöst durch die Proteste der Studierenden hatte sich dort eine Kluft aufgetan zwischen den zu Positionen der Studentenbewegung tendierenden Persönlichkeiten aus Kirchlicher Hochschule (Helmut Gollwitzer12) und Kirchenleitung (Bischof Kurt Scharf13) auf der einen Seite und sich auf traditionell-kirchliche Werte stützende »Kreise« um den Generalsuperintendenten Hans-Martin Helbich14 und die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf der anderen. Während die einen auf Emanzipation und politische Partizipation setzten, widersetzten sich die anderen dem Einfluss von politischen Agenden auf kirchliche Entscheidungsprozesse, z. T. unter Berufung auf ein Bekenntnis, das unabhängig von Politik sein müsse. Gleichzeitig war diese Auseinandersetzung ein Konflikt zwischen den bürgerlich-konservativen Kreisen (verkörpert durch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche) mit Verbindungen zu Axel Springer und dem studentisch linken Aufbruch, der kirchlicherseits in den Studentengemeinden zu Hause war.
Hanselmann kam schon deswegen in die Vermittlerposition, weil er in Westberlin beiden Kirchenführern, Scharf und Helbich, gleichermaßen verantwortlich war. Die Aufgabe des Hauses der Kirche, ein Podium zu bieten für inhaltliche Auseinandersetzung, hatte er in den Jahren 1967–1973 angenommen und ausgestaltet.15
Auch in der Bayerischen Landeskirche hatten sich kirchenpolitische Gruppierungen gebildet, die in Übertragung aus dem politischen Raum als »links« und »rechts« wahrgenommen wurden: die Arbeitsgemeinschaft Evangelische Erneuerung (AEE), die Arbeitsgemeinschaft Kirchliche Erneuerung (AKE) und die Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis (KSBB).
Hanselmann stellte sich im Korrespondenzblatt 1974 als von den konkurrierenden Richtungen unabhängiger Bischofskandidat vor und betonte, er habe sich
»bewußt keiner der Gruppierungen angeschlossen, nicht weil ich Entscheidungen vermeiden möchte, sondern um für alle dasein zu können – ohne im Vorhinein etikettiert zu werden. […] Ich habe unlängst nach einer Podiumsdiskussion mit verschiedenen Gruppen den Satz gesagt: ›Mit Bibel und Bekenntnis für evangelische Erneuerung!‹. Das sollte kein Gag sein, sondern ein Programm.«16
1.1.3Dimensionen der Mittelposition Hanselmanns
Die kirchenpolitische Verortung in der Mitte war aber bei Hanselmann nur äußeres Zeichen einer in viel umfänglicherer Weise und in vielen Dimensionen festzustellenden Mittelposition.
Wenn es um die theologische Charakterisierung ging, so bezeichnete er sich als überzeugten Lutheraner und war sich dieser Identität sehr bewusst. Gleichzeitig war er aber offen gegenüber moderner Theologie bis hin zu Aspekten der Befreiungstheologie.
Dies spiegelte sich in seiner Haltung zur Rolle der Kirche in politischen Fragen: Obgleich er die lutherische Denkstruktur der Zwei-Reiche-Lehre für sinnvoll und angemessen hielt, konnte er doch gleichzeitig davon sprechen, wie politisches Handeln der Christen Teil von Gottes Handeln an der Welt sein könne.
In Fragen der christlichen Lebensführung versuchte Hanselmann, ein traditionelles Familienbild mit den berechtigten Ansprüchen der Frau in Einklang zu bringen und sprach sich sowohl für die Frauenordination aus als auch für den Gewissensschutz derer, die diese für falsch hielten.
Vom Vater her konservativ-lutherisch, von der Mutter her pietistisch geprägt, sowie aus den Erfahrungen in Amerika und Berlin mit den modernen Herausforderungen der Welt konfrontiert, versuchte er die verschiedenen Frömmigkeiten, die sich landeskirchlich entwickelt hatten, zusammenzuhalten und beim Nürnberger Kirchentag 1979 zur produktiven Kooperation zu bewegen.
Im Kontext der ökumenischen Gespräche seiner Amtszeit (und darüber hinaus) verstand er die lutherische Position als offen zur reformierten wie der römisch-katholischen Seite hin und profilierte sich als Mittler für die Ökumene.
Aber auch in seinem Selbstverständnis als Theologe bewegte er sich in Zwischenbereichen: Als wissenschaftlich arbeitender Pfarrer verband er die praktische Gemeindearbeit mit konsequenter Reflexion derselben und beteiligte sich immer wieder am praktisch-theologischen Diskurs.
Schließlich wirkte Hanselmann auch als Landesbischof gleichzeitig als Seelsorger und Autor erbaulicher geistlicher Schriften.
Diese Dimensionen von Hanselmanns Mittelposition werden im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlich beschrieben.
1.1.4Die »Unbequemlichkeit« der ...