Nach der Reformation
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Nach der Reformation

Deutsch-polnische BeitrÀge im europÀischen Kontext

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Nach der Reformation

Deutsch-polnische BeitrÀge im europÀischen Kontext

About this book

Was bleibt vom Gehalt der Reformation nach dem JubilĂ€umsjahr 2017? Was bedeuten die reformatorischen Grundunterscheidungen zwischen "geistlichem" und "weltlichem" Regiment, zwischen dem Menschen als "Christperson" und als "Weltperson" fĂŒr das Zusammenleben in der spĂ€tmodernen, pluralistischen Gesellschaft Europas? Diese Fragen, die insbesondere fĂŒr das Konzept einer selbstkritischen Bildung zentral sind, diskutieren Theologen und Kulturwissenschaftler aus Warschau und Bonn, um den Geist des zusammenwachsenden, aber auch immer wieder herausgeforderten und gefĂ€hrdeten Europa nĂ€her zu bestimmen. Im Mittelpunkt steht dabei die Vorstellung eines aufgeklĂ€rten europĂ€ischen BĂŒrgertums.After the Reformation. German-Polish Contributions in an European ContextWhat remains of the content of the Reformation after the Jubilee Year 2017? What do the fundamental Reformation distinctions between "spiritual" and "worldly" government, between man as "Christ person" and as "world person" mean for living together in the late modern, pluralistic society of Europe? Theologians and cultural scientists from Warsaw and Bonn discuss these questions, which are particularly central for the concept of a self-critical education, in order to determine more closely the spirit of a Europe that is growing together, but also repeatedly challenged and endangered. The focus is on the idea of an informed European citizenship.

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Information

II VORTRÄGE UND RESPONSES

Religion, AufklĂ€rung und BĂŒrgertum in der GrĂŒndungszeit der UniversitĂ€t Bonn

Martina Kumlehn
Die Themenstellungen dieser Tagung sind in ihrer KomplexitĂ€t – vielleicht sogar ÜberkomplexitĂ€t – »gewagt« und fordern das mutige Ausziehen großer Linien. Es geht um deutungsmĂ€chtige Konstellationen und begriffliche Konstruktionen, die Europa im Kontext verschiedener religionskultureller Transformationsprozesse immer noch prĂ€gen: nach der Reformation, nach der SĂ€kularisation! Dieser Beitrag könnte entsprechend unter dem Stichwort »nach der AufklĂ€rung« zusammengefasst werden. Denn in der GrĂŒndungszeit der UniversitĂ€t Bonn 1818 befinden wir uns mit Blick auf die BlĂŒtezeit der Epoche im spĂ€ten 17. und 18. Jahrhundert in England, Frankreich und »Deutschland« bereits »nach der AufklĂ€rung«,1 auch wenn die Vorgeschichte der Bonner UniversitĂ€t unmittelbar mit der AufklĂ€rung zusammenhing. Denn Bonner BĂŒrger wĂŒnschten sich schon im 18. Jahrhundert eine moderne, und das hieß, eine dem Geist der AufklĂ€rung verpflichtete UniversitĂ€t. So kam es zur GrĂŒndung einer kurfĂŒrstlichen Akademie, der sogenannten »maxischen Akademie«, die 1786 zur UniversitĂ€t aufgewertet wurde. Dieser UniversitĂ€t war jedoch keine lange Wirkungszeit beschieden, weil sie nach dem Einzug der französischen Revolutionstruppen 1798 aufgehoben werden musste.2
Nach den napoleonischen Kriegen und der Niederlage Preußens 1806 gab es unter Friedrich Wilhelm III., der selbst einen eher bĂŒrgerlichen Lebensstil pflegte,3 die Aufbruchs- und Erneuerungsbewegung der sogenannten preußischen Reformen,4 die in spezifischer Weise Ideen der europĂ€ischen AufklĂ€rung verfolgten und sich neben Verwaltung und MilitĂ€r auch in besonderer Weise auf den Bildungsbereich bezogen. So waren Wilhelm von Humboldt5 und Friedrich Schleiermacher6 wesentlich an der Profilierung der Gymnasien und vor allem an der gedanklichen Vorbereitung der GrĂŒndung der Berliner UniversitĂ€t beteiligt. Schleiermacher weist in seiner Schrift »Gelegentliche Gedanken ĂŒber UniversitĂ€ten in deutschem Sinn« nachdrĂŒcklich auf den zum Ausgleich zu bringenden Gegensatz der Interessen des Staates und der freien Wissenschaft hin, der uns heute wieder in besonderer Weise beschĂ€ftigen muss:
»Der Staat ist alsdann natĂŒrlich nur von dem unmittelbaren Nuzen der Kenntnisse ĂŒberzeugt und ergriffen. Ausgebreitete Bekanntschaft mit Thatsachen Erscheinungen und Erfolgen aller Art sucht er zu begĂŒnstigen, und wenn er sich der wissenschaftlichen Anstalten annimmt, sie vorzĂŒglich darauf zu lenken. Denjenigen hingegen, welche sich zum Behuf der Wissenschaft freiwillig vereinigen, kommt es auf ganz etwas anderes an, als allein auf die Masse der Kenntnisse. Was sie vereinigt ist das Bewußtsein von der nothwendigen Einheit alles Wissens, von den Gesezen und Bedingungen seines Entstehens, von der Form und dem GeprĂ€ge wodurch eigentlich jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, ein eigentliches Wissen ist.«7
Die Philosophische FakultĂ€t steht fĂŒr diese grundsĂ€tzliche Suche nach der Systematik und Einheit des Wissens einschließlich des Bezugs auf das reale Wissen in Natur und Geschichte.8 Sie ist fĂŒr Schleiermacher die »eigentliche UniversitĂ€t«9 oder die LeitfakultĂ€t. Ihr sind die sogenannten positiven Wissenschaften und entsprechenden FakultĂ€ten Theologie, Medizin und Jura, die einem bestimmten praktischen Zweck bzw. »einem Ă€ußeren GeschĂ€ft«10 verpflichtet sind, in spezifischer Weise zugeordnet. Nach diesem Modell ist 1810 die Berliner UniversitĂ€t gegrĂŒndet worden und nach ihrem Vorbild dann auch die Bonner UniversitĂ€t 1818, als Friedrich Wilhelm III. nach den Befreiungskriegen und dem Wiener Kongress 1815 die Rheinprovinz erhalten hatte.
Allerdings ist der politische Geist der europĂ€ischen AufklĂ€rung 1818 durch die Bestrebungen der Restauration bereits erheblich in Frage gestellt. Nach den Karlsbader BeschlĂŒssen 1819 beginnt entsprechend die BekĂ€mpfung liberaler und nationalstaatlich orientierter Interessen einschließlich der Überwachung der UniversitĂ€ten und neuer Zensurauflagen.
So war 1819 in Bonn auch Ernst Moritz Arndt, Schwager Schleiermachers und einer der GrĂŒndungsprofessoren der UniversitĂ€t, von der Demagogenverfolgung betroffen und wurde 1820 vom Dienst suspendiert.11
Die GrĂŒndungszeit der UniversitĂ€t Bonn, der Beginn des 19. Jahrhunderts, ist demnach eine Umbruchszeit, in der viele Impulse und Grundgedanken des 18. Jahrhunderts fortwirken und doch schon diversen kritischen Revisionen und Transformationen sowohl in politischer als auch geistesgeschichtlicher Sicht durch Klassik, Sturm und Drang, Romantik und Idealismus ausgesetzt sind. Um die Problemkonstellation von AufklĂ€rung, Religion und BĂŒrgertum in dieser Zeit vertiefend zu beleuchten, möchte ich mich deshalb auf die schon eingefĂŒhrte Figur Friedrich Schleiermachers konzentrieren: Denn er befindet sich zur Zeit der GrĂŒndung der UniversitĂ€t Bonn in der Hochphase seines Schaffens, er war intensiv vom Pietismus als einer Parallelentwicklung der AufklĂ€rung geprĂ€gt,12 hat sich mit Kant als philosophischem und Spalding als theologischem Hauptvertreter der AufklĂ€rung intensiv beschĂ€ftigt, die AufklĂ€rung in bestimmten Verengungen im Kontext der FrĂŒhromantiker radikal kritisiert und in ihren Grundanliegen doch weiter gefĂŒhrt, Religion zwischen Systemkritik und Systemwillen13 spannungsreich in verschiedenen Phasen seines Schaffens zum zentralen Thema gemacht und das BĂŒrgertum als eigenen Resonanzraum religiöser Kommunikation zur Darstellung gebracht. Von daher ist er nicht nur als GrĂŒndungsfigur des Neuprotestantismus nach der Reformation im Blick und seine Schriften werden im Folgenden auch nicht kleinschrittig exegetisiert, sondern der Akzent der Rezeption Schleiermachers wird explizit auf seinem VerhĂ€ltnis zur AufklĂ€rung im Spannungsfeld von »Erbe und Kritik«14 zu Beginn des 19. Jahrhunderts liegen. Auf epochale Grundgedanken der AufklĂ€rung insbesondere mit Blick auf Kant und Spalding wird dabei direkt verwiesen, denn sie bleiben der Resonanzraum durch alle Kritik hindurch. AufklĂ€rung kann entsprechend ĂŒber die Epochenbezeichnung hinaus auch als »Strukturelement« im prinzipiell unabgeschlossenen Erkenntnisprozess begriffen werden.15 AufgeklĂ€rter Protestantismus in Folge der europĂ€ischen AufklĂ€rung kann entsprechend als spezifische »Denkungsart«16 begriffen werden, der es in ihren verschiedenen Lesarten auf die Spur zu kommen gilt.

1. Schleiermachers Bestimmungen der Religion im Spannungsfeld von Emanzipation, Kritik und Krise

Der emanzipative Gebrauch der eigenen Vernunft war das Zentralanliegen der AufklĂ€rung. Paradigmatisch ist diesbezĂŒglich die spĂ€te Definition Kants in seiner Beantwortung der Frage der »Berlinischen Monatsschrift« von 1783 »Was ist AufklĂ€rung?« heranzuziehen:
»AufklĂ€rung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten UnmĂŒndigkeit. UnmĂŒndigkeit ist das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese UnmĂŒndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«17
Dieser Aufbruch ins eigene Denken in allen lebensrelevanten Bereichen, paradigmatisch vor allem in dem der Religion und LebensfĂŒhrung, verlangt Entschlossenheit sowie Anstrengungs- und Risikobereitschaft. Denn Ergebnisse des mĂŒndigen Vernunftgebrauchs können bestehende Ordnungen in Frage stellen und Konflikte mit AutoritĂ€ten und Institutionen hervorrufen. Kant versucht von daher, die Deutungsmacht dieses Paradigmas zugleich einzuhegen, indem er folgende Unterscheidung einfĂŒhrt: Als Gelehrter vor einem öffentlichen Publikum darf und muss jeder seine Vernunft frei gebrauchen und sich entsprechend Ă€ußern dĂŒrfen, als AmtstrĂ€ger dagegen bleibt er vorerst an die Vorgaben der Institution gebunden. Das heißt z. B. fĂŒr einen Geistlichen: Er ist gehalten,
»seinen KatechismusschĂŒlern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu alle seine sorgfĂ€ltig geprĂŒften und wohlmeinenden Gedanken ĂŒber das Fehlerhafte in jenem Symbol und VorschlĂ€ge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen.«18
D. h., AufklĂ€rung ist zunĂ€chst als ein Programm innerhalb eines öffentlichen, jedoch klar begrenzten Diskursraumes entworfen, der zwar Reformen anregen, aber keine Revolutionen anzetteln will. Dass AufklĂ€rung tatsĂ€chlich kein ungefĂ€hrliches Unternehmen war, musste nicht nur Kant selbst hinsichtlich der Auseinandersetzungen um seine Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« erleben,19 sondern das erfuhr auch Lessing, der im Fragmentenstreit im Rahmen der neuen VerhĂ€ltnisbestimmungen von Religion und Vernunft, historischer Einsicht und religiöser Gewissheit (1774–1778) mit kirchlichen Anfeindungen und Publikationsverbot belegt wurde.20 Dennoch haben sich die AufklĂ€rungstheologen weniger um eine doppelte Redeweise bemĂŒht als vielmehr um eine Synthese ihrer Ideen und ihrer Praxis, wie es exemplarisch an dem fĂŒhrenden Vertreter der Neologie, Johann Joachim Spalding, zu zeigen ist, der VolksaufklĂ€rung und AusprĂ€gung aufgeklĂ€rter Frömmigkeitsformen im Blick gehabt und durch seine Predigten und populĂ€ren Schriften entsprechend vermittelt hat.21
In seiner als Erbauungsbuch wirkmĂ€chtigen anthropologischen Schrift »Die Bestimmung des Menschen«22 wendet sich Spalding an ein breites Publikum und fĂŒhrt darin die Auslegung innerer Erfahrung vor. Denn Evidenz kann sich in der Perspektive der AufklĂ€rung nur ĂŒber diesen Weg der kritischen Selbstbefragung des eigenen Bewusstseins hinsichtlich der existentiellen Grunderfahrungen einstellen. Religion ist entsprechend »in die allgemeine Frage nach der LebensfĂŒhrung im Ganzen«23 zu integrieren. Im Spannungsfeld von Kognition und Emotion wird der Religion dann die Rolle einer bestimmte...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Michael Meyer-Blanck: Nach der Reformation - Zu diesem Band
  6. I. Eröffnung
  7. II. VortrÀge und responses
  8. III. Autorenverzeichnis
  9. Weitere BĂŒcher
  10. Endnoten