TEIL II
DIE PREDIGT
IINHALT TEIL II
Einleitung:
Otto Haendlers Schrift „Die Predigt“. Ihre Prämissen, Argumente und Ziele im Spiegel der Rezeptionsgeschichte
von Wilfried Engemann
1. Die Prolegomena der Homiletik Otto Haendlers
1.1 Ein Dringlichkeitsappell zur Wahrnehmung der Lage
1.2 Das Subjekt des Predigers als Ausgangs- und Orientierungspunkt der Predigtarbeit
1.3 Zur Relevanz der Tiefenpsychologie bei der Thematisierung des Predigers
2. Die Neuordnung homiletischer Leitlinien in der Predigtlehre Otto Haendlers
2.1 Predigtlehre mit personalem Referenzrahmen – und doch eine „ganze Homiletik“
2.2 Zur Bedeutung des Subjekts für die Predigt
2.2.1 Ein neuer Ansatz zur Bewertung subjektiver und objektiver Faktoren in der Predigt
2.2.2 Zur Bedeutung der Persönlichkeitsstruktur für die Predigt
2.2.3 Vorgegebene Bedingungen subjekthafter Predigt
2.3 Das Verhältnis des Predigers zum Text
2.4 Das Verhältnis des Predigers zur Gemeinde und der Gemeindebezug der Predigt
2.5 Praktische Gesichtspunkte
3. „Die Predigt“ im Spiegel der Rezensionen – ein Lehrstück über die Entwicklung theologischer Argmentation
3.1 Die Rezensionen zur 1. Auflage von 1941
3.1.1 Die Predigtlehre Haendlers: Theologischer Entwurf, homiletisches Fachbuch und „Lebensbuch“ in einem
3.1.2 Ein Buch, das Befürchtungen weckt: „Psychologismus“, „Pädagogisierung“ und „Subjektivitätsdoktrin“
3.2 Die Rezensionen zur 2. und 3. Auflage von 1949 und 1960
3.2.1 Theologische Bereicherung
3.2.2 Psychologische Hilfe und praktischer Ratgeber
3.2.3 „Nur ein historischer Text, keine neuen Gesichtspunkte“
3.2.4 Ein sensationelles Buch!
4. Die Rezeption der Predigtlehre Otto Haendlers im theologischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts
4.1 Zur faktischen Wirkung der Predigtlehre Haendlers auf den homiletischen Diskurs
4.2 Würdigung und Kritik der tiefenpsychologischen Erweiterung des homiletischen Diskurses
4.3 Einzelne Rezeptionslinien der Predigtlehre Haendlers
4.3.1 Meditation und praktische Predigtvorbereitung
4.3.2 Der Ertrag für die Seelsorge
4.3.3 Liturgische Aspekte und weitere Facetten der Rezeption
Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen
Das Inhaltsverzeichnis zu dem Werk „Die Predigt“ ist in das entsprechende Werk auf S. 273–276 integriert.
EINLEITUNG: OTTO HAENDLERS SCHRIFT„DIE PREDIGT“
IHRE PRÄMISSEN, ARGUMENTE UND ZIELE IM SPIEGEL DER REZEPTIONSGESCHICHTE
von Wilfried Engemann
1. DIE PROLEGOMENA DER HOMILETIK OTTO HAENDLERS
1.1 Ein Dringlichkeitsappell zur Wahrnehmung der Lage
Otto Haendler beginnt seine Predigtlehre (von der ersten Auflage an) mit einem Dringlichkeitsappell, die Wahrnehmung und Reflexion der „Lage“ betreffend, in der sich die Menschen, die Gemeinden sowie Kirche und Gesellschaft befinden: Angesichts der „zerrissenen“, „aufgewühlten“ und „chaotischen“ Gegenwart ist die Kirche dazu herausgefordert, den unter diesen Umständen Lebenden beizustehen – auch durch ihre Predigtkultur, die im Dienste der „Bewältigung des Lebens“ stehen müsse. Um diesen Dienst leisten zu können, sollte die Predigt nicht nur inhaltlich dem Evangelium auf der Spur sein, sondern auch eine den Menschen der Gegenwart zugängliche Form annehmen.1 Die Kirche selbst müsse sich schließlich „anschicken, eine Gestalt zu erarbeiten, die der gegenwärtigen Lage auch insofern gerecht wird, als Fragende und Suchende […] in bisher nicht dagewesenem Zweifel und Erwarten dem Christentum, obwohl es ihre alte Heimat ist, neu begegnen“2.
In der 3. Auflage wird die Situation, angesichts derer zu predigen ist, in drei Richtungen3 exemplarisch vertieft: (1.) In seinen Anmerkungen zur „Verkündigung im Atomzeitalter“4 geht Haendler zunächst auf die faktischen Ängste ein, die mit dem Wissen um die Zerstörbarkeit der Erde verbunden sind. Solche Ängste bedürften einer homiletischen Bearbeitung, die nicht zuletzt von Sachlichkeit, Ehrlichkeit und der Gelassenheit des Glaubens bestimmt sein sollte. (2.) Als eine Herausforderung der Gegenwart bringt Haendler 1960 auch die Erfahrung des „Ichverlusts“ ins Spiel, die sich besonders in Werteverlust-Erfahrungen, in einem „Mangel an Verantwortungsgefühl und Mangel an Urteilskraft“5 manifestiere. Schließlich geht Haendler (3.) auch auf spezifische Phänomene des Atheismus ein, die man nicht alle als „Fronthaltung“ zum Christentum oder mit „Abfall vom Glauben“ beiseiteschieben könne. Atheismus müsse heute auch als ein „Ferment“ begriffen werden, das als „Auflehnung gegen Gott“ auch bei Menschen anzutreffen sei, die sich nicht als Atheisten verstehen.6 Der Prediger habe es nicht einfach mit „Ungehorsam“ im Sinne von Glaubensverweigerung zu tun, sondern er müsse sich auf Widerspruch aus begründetem Zweifel einstellen: „Auch der Glaubende lebt im Glauben und im Unglauben zugleich.“ Prediger sollten erkennen, dass sie „die gesamten Strömungen unserer Zeit“ irgendwie in sich tragen. „Sie [d. h. diese Strömungen] sind unsere Erbmasse und unser Milieu.“7
Angesichts dieser Problemanzeigen erscheint es Haendler umso mehr geboten, die Arbeit an einer Predigt – bis in die Artikulation des Evangeliums hinein – auch als persönliche Herausforderung zu begreifen: „Wir sollen so predigen, dass man uns unsere Predigt ‚abnehmen‘ kann.“8
Die Predigt ist aufgrund ihrer kommunikativen Reaktions- und Anpassungsfähigkeit besonders geeignet, die „konkreten und belangvollen Fragen“ der Zeit – einschließlich „der Menschen ‚am Rande‘“9 – adäquat aufzunehmen, vorausgesetzt, den mit der Predigt Beauftragten gelingt es, sich mit entsprechender Kompetenz sowohl in das Evangelium zu vertiefen als auch „ganz und gar und ebenso intensiv ‚in der Zeit‘“ zu stehen. Dabei stoßen Prediger auf fremde und oft genug auf eigene „Unsicherheiten, Fragen und Schmerzen“, die „einen übersubjektiven Hintergrund haben“. Sie könnten, so Haendler, ein „heuristisches Prinzip für wichtige homiletische Erkenntnisse“ werden. „Die Homiletik hat zwar immer gewusst, dass sie das Evangelium nicht verraten darf. Heute aber tritt mit neuem Gewicht die Forderung daneben, dass auch die Zeit nicht verraten werden darf.“10 Wo dies doch geschehe, werde hilfreiche Predigt unmöglich gemacht, was sich oft daran zeige, dass Prediger aus der Rolle des Kritikers der Welt und der Zeit nicht mehr herausfänden.11 Haendler praktiziert dabei sein eigenes Prinzip der Korrelation, das sich schon in seiner Habilitationsschrift abzeichnete: „Wir müssen unsere Situation in der Welt so […] ernst nehmen, dass ihre Fragen unsere Fragen sind und wir sie als die unseren erleben und durchdringen. Hierzu Wege zu weisen wird eine der wichtigsten Aufgaben einer gegenwärtigen homiletischen Besinnung sein.“12
Vor diesem Hintergund geht Haendler auf die praktischen Probleme der Predigtarbeit13 ein: Pfarrer fühlten sich angesichts der (seitens der kerygmatischen Theologie proklamierten) Not des Nicht-Könnes – da es ja um die Verkündigung des Wortes Gottes gehe – im Stich gelassen. In der Homiletik werde weithin noch immer übersehen, in welchem Maße und in welchem Sinne sich in einer Predigt ein konkretes Subjekt artikuliere – eine Beobachtung, die sich in homiletischen Übungen mit Studenten, Kandidaten der Theologie und Pfarrern immer wieder auch empirisch bestätige. Die stillschweigend überlieferte Empfehlung, man brauche beim Predigen das exegetisch und dogmatisch Gelernte nur anzuwenden, laufe erfahrungsgemäß ins Leere oder äußere sich als „Ausweichen vor der Wirklichkeit“14. Signifikant für die nachrückende Theologengeneration sei ihr mangelndes Vertrauen in die eigene Lebens- und Glaubenserfahrung sowie die gleichzeitig anzutreffende Überschätzung der „Amtserfahrung“. Daher komme es nun darauf an, einmal sämtliche Probleme „der Arbeit an der Predigt ganz konkret vom Standort des Predigers aus zu bearbeiten“15.
Haendlers Interesse an der Person des Predigers ist jedenfalls mit der Überzeugung verbunden, dass es aus sachlichen Gründen – die sich aus der beschriebenen Lage einerseits und den Erfordernissen der „Verkündigung“ andererseits ergeben – geboten ist, die Möglichkeiten einer bewussten Subjektorientierung in der Homiletik auszuschöpfen.
1.2 Das Subjekt des Predigers als Ausgangs- und Orientierungspunkt der Predigtarbeit
Otto Haendler knüpft in den psychologischen Prolegomena seiner Predigtlehre genau dort an, wo er 1930 in seiner Habilitationsschrift einen entsprechenden Bedarf markiert hatte: Nachdem man sich im Kontext der Homiletik intensivst mit dem „Wort Gottes“ und in Ansätzen mit Gemeindewirklichkeit befasst habe, sei es höchste Zeit, sich mit dem Prediger als drittem Element der klassischen Trias von Pfarrer, Evangelium und Gemeinde zu befassen16 – mit jener Größe, die teils aus Angst vor der Gefahr des Subjektivismus, teils aus mangelnder Kenntnis der mit der Person des Predigers verbundenen Probleme, teils aus Gleichgültigkeit und anderen Gründen zu lange aus dem Diskurs ausgeblendet worden sei. Jedoch „wenn jemand Sonntag für Sonntag mit seinem Munde, mit Worten seiner Sprache, mit Hilfe seiner Erfahrung und Erkennnis das Evangelium verkündet, so ist seine Person um der Sache willen so wichtig, dass wir ihr die größe Aufmerksamkeit zuwenden müssen“17.
Zur Verdeutlichung dieser These führt Haendler verschiedene Argumente ins Feld: Wer predigt, geht nicht nur als studierter Theologe an die Arbeit, ausgerüstet mit exegetischem, dogmatischem und – wenn es gutgeht – homiletischem Wissen, sondern als „ganzer Mensch“, als der, der er zu diesem Zeitpunkt ist, geprägt von der Gesamtheit der Lebensbeziehungen, die seine Existenz mitbedingen.18 Damit kommt eine Fülle nicht-theologischer Faktoren der Predigtarbeit in den Blick. Dass ein Mensch predigt, bedeutet eben auch, dass dieses Geschehen nicht nur logischrational, die Wortebene betreffend, abgehandelt werden kann, sondern dass es unter anderem eine psychische Ebene hat, die dementsprechend psychologisch wahrzunehmen und zu verstehen ist.19 Die bald mit einem missverstandenen sola fide begründete, bald aus Misstrauen und Vorurteilen resultierende Ablehnung psychologischer Reflexion in der Homiletik und Predigtvorbereitung führt nur dazu, dass seelische Zustände und Prozesse zwangsläufig „irgendwie“, also „unkontrolliert“ ihre Wirkung entfalten.
Psychologische Einsichten und Modelle für die Innenansicht eines Menschen, für die Konstitution und Entwicklung seiner Persönlichkeit, seiner religiösen Auffassungen, Grundimpulse, Ängste usw. auch im Zusammenhang des Predigtgeschehens zu erörtern, bedeutet nicht, das Spektrum theologischer Reflexion zu verkleinern. Im Gegenteil: Die Menge und Komplexität der Themen, Stoffe und Erkenntnisse, die mit dem Repertoire und den Fragen der Theologie bearbeitet werden können, nimmt zu. Schließlich wird „das Theologische“ an einem Diskurs nicht primär durch den Gegenstand vorgegeben, sondern vor allem durch die Art und Weise des Herangehens an ihn – weswegen sich Psychologen umgekehrt natürlich auch mit „Gott“, „Glauben“, „Liebe“ „Freiheit“ oder mit der psychischen Struktur und Wirkung eines Predigers befassen können.20 „Die innere Freiheit zu einer furchtlosen und fruchtbaren Verbindung theologischer und psychologischer Arbeit gewinnt nur der, der die grundsätzliche Unerlässlichkeit beider nebeneinander erkennt.“21
1.3 Zur Relevanz der Tiefenpsychologie bei der Thematisierung des Predigers
Die Tiefenpsychologie wird von Haendler deshalb als das (seinerzeit) komplexeste Arbeitsgebiet der Psychologie als Dialogpartnerin der Theologie gewählt, weil sie die innere Dynamik des Menschen sowohl vor dem Hintergrund des von ihm erlittenen22 als auch des von ihm gestalteten Daseins in den Blick nimmt, weil sie die Kategorie des Unbewussten als wichtigen Faktor im Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen mitberücksichtigt und, last but not least, weil von der Bewusstmachung des Unbewussten korrigierende, existenzverändernde, ja therapeutische Effekte ausgehen können.23 Die Bewusstwerdung des Unbewussten kann – bezogen auf einen ...