KARL-HEINZ BAUM
Beton platzt
von innen
Im Januar 1989 sagte Honecker, die Mauer könnte noch 100 Jahre stehen
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« SED-Generalsekretär Walter Ulbricht sagte den berühmten Satz auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 in Ost-Berlin. Knapp zwei Monate später wurde die Mauer gebaut. Nachfolger Erich Honecker (1912 – 1994) wurde auch durch einen Satz zur Mauer berühmt, gesprochen auf einer Veranstaltung am 19. Januar 1989 zum 500. Geburtstag des Predigers, Reformators und Revolutionärs Thomas Müntzer. Müntzer, 1525 als Anführer aufständischer Bauern in Mühlhausen hingerichtet, galt in der DDR als Vordenker des Sozialismus und Kommunismus. Honecker sagte: »Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.«
Wer ahnte da schon, dass es mit der Mauer schon nach 42 Wochen und nicht erst nach 100 Jahren ein Ende hatte? So war die erste Reaktion der Menschen in der DDR: Erschrecken. Keiner glaubte, die Gründe für den Mauerbau könnten beseitigt werden. Jeder wusste, die Mauer war kein »antifaschistischer Schutzwall«, natürlich auch Honecker, der sich in seinen Memoiren 1981 stolz als Organisator des Mauerbaus rühmte. Deshalb benutzte er das verschleiernde Wort vom »antifaschistischen Schutzwall« nicht mehr, das selbst die Kinder in der Schule lernen mussten, sondern sagte »Mauer«. Sie war einzig und allein errichtet worden, um das Abwandern der Menschen Richtung Westen zu beenden.
Doch auch 28 Jahre nach dem Mauerbau wollten mehr und mehr Menschen weg, stellten Ausreiseanträge, weil die Hoffnung auf positive Veränderungen im Leben nahe dem Nullpunkt war. Nicht einmal Michail Gorbatschows Kurs von »Glasnost« und »Perestroika« beeindruckte die Führung. Sie wollte keinen »Tapetenwechsel«, wie Ideologie-Hüter Kurt Hager zu Protokoll gab.
So brachte Honecker andere Gründe für die Existenz der Mauer ins Spiel. Sie sei »erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen vor denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören.« Zudem müsse die DDR »unsere Bürger vor den Machenschaften der Drogengesellschaften des Westens« bewahren.
Aber die Menschen hatten es längst satt, ständig bevormundet zu werden. Nach dem ersten Schrecken fassten sie sich und machten sich über Honeckers Worte lustig – und das war kein Galgenhumor: Merken die alten Männer in ihrer von der Außenwelt abgeschlossenen Behausung in Berlins Vorort Wandlitz überhaupt noch, was im Lande los ist, was die Leute denken? Honecker habe doch nur deutlich gemacht, wie weit sein Realitätsverlust fortgeschritten ist. Hatte die SED doch erst ein paar Tage zuvor eine Lachnummer geliefert: In der DDR sei der Lebensstandard höher als in der Bundesrepublik. Nun fragten Spaßvögel, ob die Menschen in der DDR auch so alt werden wie die Menschen im Kaukasus. Honecker wollte seinem Lebenswerk ein langes Leben sichern. Doch er legte ungewollt selbst Hand an, um es zu zerstören.
Im Frühjahr 1989, als Gorbatschow das »Europäische Haus« bauen wollte, meldete sich DDR-Außenminister Oskar Fischer mit einer bizarren Idee: Die Mauer werde »die tragende Wand« dieses Hauses sein. Die passende Antwort gab ihm der Bürgerrechtler und Pfarrer in der Lutherstadt Wittenberg, Friedrich Schorlemmer, den die örtliche Polizei als »Staatsfeind Nr. 1« führte: »Auf so eine brüchige Wand würde ich das Europäische Haus nicht bauen. Beton platzt von innen. Fällt auf einmal zusammen.« So standen Schorlemmers Worte in der »Frankfurter Rundschau« vom 11. Juni 1989. Schorlemmer ahnte nicht, wie prophetisch seine Worte waren. Am 9. November 1989, 24 Tage nach Honeckers Ablösung, fiel die Mauer, die noch 100 Jahre stehen sollte, »auf einmal« zusammen.
KARL-HEINZ BAUM
Der Ruf der Christen
nach Gerechtigkeit
Anfang 1989 sind die »Zeichen an der Wand« unübersehbar
Eines der damaligen Zeichen war das Papier »Mehr Gerechtigkeit in der DDR«. Mitte Januar nahm es seinen Weg in christliche Gemeinden, in evangelische, katholische und die der Freikirchen. Seit dem Frühjahr 1987 saßen berufene Vertreter der drei Glaubensrichtungen für »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« zusammen und dachten nach, wie aus der DDR ein lebenswerter Staat für alle werden könnte. Der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer sagte dazu: »In all unserer freien Zeit saßen wir von Greifswald bis Suhl zusammen, machten emsig Vorschläge oder arbeiteten an Papieren. Wir machten uns auf alles gefasst. Wir wollten keineswegs mehr so weiterleben wie bisher.«
Was da »nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« herauskam, galt schon bald als »Magna Charta der DDR-Opposition«, als ihre »Regierungserklärung«, sollte die SED einmal gehen müssen. Auch wenn das nicht wenige Menschen herbeisehnten, der Termin stand in den Sternen.
Das Papier war mutig: Es rief die Christen auf – und nicht nur sie –, in ihrem Umfeld »mutige Schritte zu mehr Gerechtigkeit« zu gehen, also ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dafür sollten sie »auch Opfer und Nachteile auf sich nehmen«. Dass Mut in der DDR Nachteile bringt, wussten alle: Parteigänger, Gegner, Unentschlossene. Bewusst Opfer und Nachteile in Kauf zu nehmen, hatten bis dahin vor allem Menschen gewagt, die mit der DDR total abgeschlossen hatten. Nun sollte jeder dazu bereit sein, sagten die Kirchen.
Sie forderten die Herrschenden auf, Wahlen zu organisieren, die »die Urteilsfähigkeit der Bürger wirklich erfordern« statt einer Einheitswahl mit 99 Prozent Zustimmung. DDR-Wahlen mit Einheitsliste und offener Stimmabgabe nahm ohnehin kaum einer ernst. Manch einer spottete sogar: »Das Ergebnis interessiert erst, wenn es über hundert Prozent liegt.« Bei vorhergehenden Wahlen hatte kein Wahlhelfer Zustimmungsraten von 99 Prozent erlebt – der Verdacht der Fälschung lag nahe.
Gefordert wurden unabhängige Richter und ein Bildungswesen, das zu eigenem Urteil befähigt. Gängelung und Frustration, Mangel an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit entmutigten, verbitterten und entmündigten Menschen. »Weil vom Bürger erwartet wird, dass er sagt, was man hören will, hat er sich daran gewöhnt, etwas anderes zu sagen, als er denkt, und anders zu handeln, als es seinen Überzeugungen entspricht«, stand da geschrieben. Und: »Wenn sich Bürger auf Grund gemeinsamer gesellschaftlicher Interessen zusammenfinden, geraten sie schnell in den Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten.« Weiter hieß es: »Wer irgendwie auffällt und sich nicht wie erwartet angepasst verhält, muss mit Rückwirkungen in ganz anderen Lebensbereichen rechnen.«
Ein weiteres Zeichen an der Wand kam aus Leipzig. Am Gedenktag für die im Januar 1919 ermordeten Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wiederholten in Liebknechts Geburtsstadt Oppositionelle das, was im Jahr zuvor Berliner gewagt hatten und mit Verhaftungen und Ausweisungen bezahlen mussten. Am »heiligen« DDR-Gedenktag, an dem SED-Genossen schweigend durch die Straßen zogen, demonstrierten sie. Dabei wiederholte sich in Leipzig der Tabubruch mit dem Luxemburg-Zitat »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« – ein Zitat, das SED-Gläubige kaum kannten, weil es »Andersdenkende« nicht geben durfte.
5.000 Flugblätter hatten die Demonstranten in Leipzig verteilt. So eine Großaktion blieb der Stasi nicht verborgen. Sie verhaftete am Ende zwölf Organisatoren. Dennoch: Zum Zeitpunkt der Demonstration waren 700 bis 800 Menschen vor Leipzigs Rathaus, die fast alle am Schweigemarsch teilnahmen. Die DDR-Polizei löste diesen erst nach einem guten Stück Weg auf und setzte »Rädelsführer« fest. Doch Ende Januar war alles vorbei: Die Inhaftierten kamen frei. Die Methode Friedhofsruhe allerdings funktionierte nicht mehr. Das Zurückweichen der Staatsmacht bei diesem Probelauf ermutigte im Herbst zu weiteren Demonstrationen, denen erst Zehntausende, dann Hunderttausende folgten.
KARL-HEINZ BAUM
Von der stillen
Grenze in ein
stilles Grab
Am 5. Februar 1989 wollte Chris Gueffroy raus aus der Enge der DDR
»Harmonie« heißen die Kleingärten am Britzer Verbindungskanal in Berlin zwischen den Stadtteilen Treptow und Neukölln. Bis zum 9. November 1989 teilte hier die Mauer Berlin in Ost und West. Neun Monate zuvor, am 5. Februar in der Stunde vor Mitternacht, spielte sich hier ein Drama ab. Vier Grenzsoldaten feuerten insgesamt 22 Schüsse auf zwei unbewaffnete Flüchtlinge, die genauso alt waren wie sie selbst, auf die 20-jährigen Chris Gueffroy und Christian Gaudian.
Die Geheime Verschlusssache der DDR-Grenztruppen nennt »23.39 Uhr« als Zeitpunkt für den Kugelhagel, der Gueffroy mit einem Schuss ins Herz tötete und Gaudian erheblich verletzte. Die Sterbeurkunde nennt »6. Februar 9.20 Uhr« als Todeszeitpunkt, offenkundig gefälscht, eine Übung der Staatssicherheit bei Flüchtlingen. Bei einem Herzschuss kann er da nicht mehr gelebt haben. Karin Gueffroy hörte nicht zum ersten Mal die Schüsse, die ihr stets den Schlaf raubten. Dass sie ihrem Sohn galten, ahnte sie am nächsten Morgen, als er nicht wie verabredet zum Frühstück kam.
Zwei Tage später erfuhr sie einen Teil der Wahrheit. »Ihr Sohn hat einen Anschlag auf eine militärische Einrichtung verübt. Er ist dabei gestorben.« So umschrieb die DDR Fluchten über die Mauer. Die Mutter bekam einen Schreikrampf, rief immer wieder: »Sie haben ihn ermordet! Sie haben ihn ermordet!« Nur mit Mühe war sie zu beruhigen mit der Zusicherung: »Der Staatsanwalt wird alles genau untersuchen.« Doch nach sechs Wochen stellte er fest: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Eine Straftat liege nicht vor. Von nun an dürfe sie nicht mehr von Mord sprechen. Wer die Mauer überwinden wollte, war für die Herrschenden ein Verbrecher.
Stele für den letzten Mauertoten Chris Gueffroy am Britzer Verbindungskanal in Berlin (© epd-bild / Rolf Zöllner)
Seit jenem 7. Februar übernahm die DDR-Staatssicherheit die Regie. Jeden Tag wurde Karin Gueffroy vorgeladen. Ein Bauwagen stand vor dem Haus, von dort beobachteten und filmten Schnüffler jede Bewegung auf der Straße. Der Staatsanwalt ordnete gegen ihren Willen an, den Sohn einzuäschern. Ein Begräbnisredner wurde vorbeigeschickt und fragte: »Warum hat sich ihr Sohn denn umgebracht?« Selbst ihm verschwiegen sie die Wahrheit.
Chris’ Freunde beschlossen, eine Traueranzeige im SED-Blatt »Berliner Zeitung« aufzugeben. Sie wussten, »an der Mauer erschossen« durften sie nicht schreiben, und wählten die Formulierung »durch einen tragischen Unglücksfall getötet«. Die Frau in der Anzeigenannahme, die wohl ahnte, wem die Anzeige galt, ersetzte »getötet« mit »von uns gegangen«. Sonst hätte sie die Annahme verweigern müssen.
Karin Gueffroy wäre zu so einer Aktion nicht fähig gewesen, aber sie kam ihr recht. Nun wusste sie, ihr Sohn werde nicht wie andere Maueropfer zuvor klammheimlich verscharrt. Sie nahm sein Passbild, legte es in eine Streichholzschachtel, sagte einer Rentnerin, die täglich die Mauer passieren durfte: »Du musst zum Sender Freies Berlin und sagst: ›Das ist der Mauertote‹.«
Die »Abendschau« meldete...