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Die Quellen
In einer Diktatur findet oppositionelles Handeln in einer Gruppe weitgehend abgeschirmt von der Ăffentlichkeit statt. Das geschieht nicht nur aus GrĂŒnden der Sicherheit der beteiligten Personen, paradoxerweise kann das sogar die Chancen des erstrebten Erfolges befördern. Dieses Vorgehen setzt nicht nur unbedingtes persönliches Vertrauen unter allen ihren Mitgliedern voraus, sondern absolute VerlĂ€sslichkeit und Verschwiegenheit. Deshalb sind aussagefĂ€hige schriftliche Quellen zu den Aktionen selbst und ĂŒber deren Zustandekommen rar. Manche Botschaften standen gar âzwischen den Zeilenâ. Sie wurden von den Absendern sicherheitshalber âverpacktâ, von den Adressaten sind sie aber sehr wohl verstanden worden. Das hat AuĂenstehende freilich zu irritieren vermocht. â Und es gibt ĂŒberdies auch keine dem Ministerium fĂŒr Staatssicherheit (MfS) aus der Gruppe selbst gelieferten Berichte, denn Dj hatte als einzige der gröĂeren, politisch aktiven Gruppen keine inoffiziellen Mitarbeiter des MfS (IM) in ihren Reihen. Soweit jedenfalls war diese Oppositionsgruppe in ihren Aktionen eigenstĂ€ndig.
Falls sich Quellen auf die persönliche SphĂ€re von Akteuren beziehen, hat die Wahrung von Persönlichkeitsrechten gegenĂŒber einer detailgetreuen Berichterstattung natĂŒrlich immer Vorrang. Das trifft jedoch nicht auf die Namen von Personen der Zeitgeschichte zu und ebensowenig auf deren geschichtstrĂ€chtiges Wirken, wenn es sich fĂŒr das VerstĂ€ndnis der hier betrachteten historischen ZusammenhĂ€nge als unbedingt notwendig erweist.
Als Quellen dienten Akten aus privaten BestĂ€nden von Akteuren, teils Samisdat-Schriften aus ihrer Hand, ihre freigegebenen personenbezogenen Akten des MfS sowie klĂ€rende GesprĂ€che mit einigen von ihnen. BloĂe Erinnerungen wurden dabei nur sehr bedingt zu Rate gezogen. Genutzt wurden zudem Akten des MfS selbst sowie Akten der âStiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchivâ (SAPMO). Letztere sind dem Zentralkomitee der SED (ZK), hier seinem PolitbĂŒro und der Abteilung Kirchenfragen, sowie dem Staatssekretariat fĂŒr Kirchenfragen zugeordnet.
Von mir einst erstellte Radio-Mitschriften westlicher Sender erwiesen sich ebenfalls als hilfreich, das damalige Geschehen zeitnah zu bewerten. Sie beginnen in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 mit der Aktion des MfS gegen die in den GemeinderĂ€umen der Zionskirche arbeitende Umwelt-Bibliothek und enden Mitte Oktober 1989. Die DDR-FĂŒhrung zeigte damals sowohl innen- wie auch auĂenpolitisch deutlich sichtbar SchwĂ€che. Das nĂ€hrte meine Hoffnung auf gesellschaftliche VerĂ€nderungen in der DDR, die ich dokumentieren wollte. Ich erwartete zu jener Zeit, dass das Land kontrolliert geöffnet werden wĂŒrde, um sich der wirtschaftlichen Schwierigkeiten erwehren zu können, die mit den bis dahin geĂŒbten Praktiken m. E. nicht mehr beherrschbar waren. Ich dachte dabei aber nicht an eine groĂe politische Bewegung oder gar an den schnellen Fall der Mauer. Die Stimmung der Menschen zu jener Zeit war eher resignativ. Niemand hĂ€tte es sich damals vorstellen können, dass derart dramatische Ereignisse geschehen könnten und dass die Sowjetunion diese auch noch tolerieren wĂŒrde. Diese EinschĂ€tzung galt, auf die DDR bezogen, auch unter Gorbatschow bis weit in das Jahr 1989 hinein.
Als Nicht-Historiker werde ich das Geschehen natĂŒrlich nicht fachspezifisch behandeln, und ich werde mich auch nicht genauer mit der Literatur auseinandersetzen. Ohne aber einer historischen Wertung vorgreifen zu wollen, gehe ich davon aus, dass mit der gewĂ€hlten dokumentarischen Beschreibung von Handlungen ausgewĂ€hlter Akteure wesentliche Aspekte der Zeitgeschichte richtig wiedergeben werden. Die genutzten Dokumente könnten zudem als Bereicherung unseres Wissens ĂŒber das noch ungenĂŒgend bekannte Faktenmaterial dienen. Es wird gezeigt, wie das revolutionĂ€re Geschehen durch das Zusammenspiel von Personen, Gruppen und der oft unabhĂ€ngig, aber massenhaft agierenden Bevölkerung verlaufen ist, denn alle diese Akteure waren durch ihre Lebenserfahrungen und durch den von Ost-Mitteleuropa ausgehenden Zeitgeist des Herbstes 1989 motiviert und haben sozusagen mit âkollektivem Bewusstseinâ gehandelt.[1] Dabei war die kleine und auch nur heterogen organisierte Opposition zunĂ€chst Katalysator und dann ZĂŒndfunke fĂŒr das revolutionĂ€re Geschehen. Erst das alles zusammen machte den unerwarteten Erfolg dieser emanzipatorischen Bewegung möglich.
Die personenbezogene Darstellung jĂŒngsten historischen Geschehens mag vom Historiker kritisch bewertet werden. Doch bietet ihm die Auseinandersetzung mit dem aktiven Zeitzeugen auch die Chance, Geschichte wirklichkeitsnah zu erzĂ€hlen, denn schlieĂlich ist sie nicht unwesentlich das Werk solcher Menschen. Die unterschiedliche Sozialisation der Mitglieder von âDemokratie jetztâ, d. h. ihr jeweiliger Familienhintergrund, die Arbeitswelt, die persönliche Interessenlage, die Freunde und ĂŒberdies die vielseitigen und teils vertrauensvollen Beziehungen zu den Akteuren der anderen Gruppen, machen selbst eine so kleine Gruppe wie Dj zu einem reprĂ€sentativen Abbild der Lebenswirklichkeit. Das gilt insbesondere, wenn es nicht um das ganz normale Leben in der DDR, sondern ausdrĂŒcklich um die hier behandelten, politisch bedingten Schwierigkeiten mit ihm geht.
Ich werde fĂŒr meine Untersuchungen aus dem besagten Zeitfenster von 1986 bis 1990 nur einen âvagabundierenden Blickâ wagen. Zeitliche RĂŒckblenden sind dabei nicht ausgeschlossen, zum VerstĂ€ndnis sind sie oft sogar nötig. FĂŒr eine umfassendere Behandlung dieses komplexen Geschehens wĂ€ren die Lebensgeschichten mancher Akteure fĂŒr die Geschichtsforschung von auĂerordentlicher Bedeutung. Aufschlussreiche Details wĂŒrden nicht nur deren Handlungsmaximen verstĂ€ndlicher machen. Es wĂŒrde auch das fein gesponnene Netz persönlicher Bindungen sichtbar werden, ohne das eine konspirativ arbeitende Opposition im Ăberwachungsstaat DDR erst gar nicht hĂ€tte wachsen können. Dazu gehört auch die Ă€uĂerst sensible grenzĂŒberschreitende Kommunikation nach Ost und nach West. Die Materialien der Enquete-Kommission âAufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschlandâ[2] erzĂ€hlen davon. Ich werde mich auf diese meist auf Erinnerungen von Zeitzeugen bauenden Aussagen jedoch nicht berufen.
Die mir zugĂ€nglichen Archive einzelner Akteure dieser Zeit zeigen weitaus deutlicher und eindrucksvoll lebensnah deren oft existenziell bedingten, geradezu kĂ€mpferischen Einsatz, nicht nur fĂŒr das Recht der Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung; sie dokumentieren zugleich Ursachen und Symptome einer an Unfreiheit kranken Gesellschaft; sie zeigen, wie Texte entstanden sind, wie um sie gerungen wurde, wie Opposition wuchs und handelte. Diese Archive zeigen auch, dass die Bindung an eine Gruppe selbstverantwortete eigene Aktionen Einzelner keinesfalls ausschloss. Letztere motivierten nicht selten die ganze Gruppe. Ein Gesamtbild des Geschehens ergibt sich aber erst durch ZusammenfĂŒgen der vielen, nur selten vollstĂ€ndig gegebenen Fakten. Die ganze komplexe Wirklichkeit lĂ€sst sich selbst dann nur schwer erahnen, denn sie wird von jedem Einzelnen, bedingt durch dessen eigene Lebenserfahrungen, auch noch unterschiedlich wahrgenommen.
Die Machtstrukturen des realsozialistischen Systems DDR, der geschichtliche Prozess ihrer Planung durch die kommunistischen Eliten im Moskauer Exil bereits vor Ende des Zweiten Weltkrieges, die Ăbernahme und der Ausbau der Macht in den von der Roten Armee eroberten LĂ€ndern Ost-Mitteleuropas und auch deren kategorische Verteidigung gegen alle âkonterrevolutionĂ€renâ Versuche, gesellschaftliche VerĂ€nderungen zu erreichen, sind vom âForschungsverbund SED-Staat an der Freien UniversitĂ€t Berlinâ detailliert beschrieben worden. Weil das in diesem Buch behandelte Geschehen erst vor diesem Hintergrund wirklich verstanden werden kann, werde ich mich in den geschichtlichen Vorbetrachtungen ausfĂŒhrlich auf diese Materialien berufen. Man sollte wissen, dass das System DDR als Vasallenstaat der Sowjetunion bereits vor Kriegsende geplant war und dass die DDR bis zum Zusammenbruch ein solcher Vasallenstaat grundsĂ€tzlich gewesen ist.
SchlieĂlich muss das schwierige VerhĂ€ltnis zwischen der evangelischen Kirche in der DDR und dem Staat als ein bedeutsamer Faktor der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beachtet werden. Dieses war nicht unabhĂ€ngig von den oft drĂ€ngenden Aktionen der auf kirchlichen Schutz bauenden Gruppen, und es kulminierte im September 1987 infolge der Görlitzer Bundessynode, nicht zuletzt wegen der teils kontrovers gefĂŒhrten Diskussionen um den Synodalantrag âAbsage an Praxis und Prinzip der Abgrenzungâ. Die vielfĂ€ltigen staatlichen Vorbereitungen auf diese Synode durch die Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED, in der Dienststelle des StaatssekretĂ€rs fĂŒr Kirchenfragen, durch das MfS, in den Bezirken und Kreisen der DDR, bei der Ost-CDU sowie in den kirchlichen und publizistischen Einrichtungen sind akribisch durch Anke Silomon in âSynode und SED-Staatâ[3] beschrieben worden, so dass an geeigneter Stelle darauf verwiesen werden kann.
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Betrachtungen zum geschichtlichen Umfeld
2.1 Spurensuche nach den Ursachen fĂŒr das Ende des Sozialismus sowjetischer PrĂ€gung
Geschichte detailliert nach Ursache und Wirkung bewerten zu wollen, ist sicher ein unlösbares Unterfangen. Deshalb konnte von den Sozialwissenschaften auch nicht erwartet werden, dass sie die komplexen, sich selbst dynamisierenden Gesellschaftsprozesse des Jahres 1989 konkret hĂ€tten vorhersagen können. Es verwundert aber, dass nicht einmal seitens der Osteuropa-Institute, die sich mit der Analyse der realsozialistischen LĂ€nder befassten, diesbezĂŒgliche Vermutungen bekannt sind. Selbst JĂŒrgen Habermas traf mit seinem Begriff der ânachholenden Revolutionâ auch im Nachhinein nicht den Kern der Dinge, obwohl er als ReprĂ€sentant der âFrankfurter Schuleâ gilt, die mit der Grundaussage ihrer âKritischen Theorieâ fĂŒr sich in Anspruch nahm, mit der âKritik gesellschaftlicher ZusammenhĂ€ngeâ zugleich auch âdie TotalitĂ€t gesellschaftlicher VerhĂ€ltnisse und die Notwendigkeit ihrer VerĂ€nderung begrifflich zu durchdringenâ. Vom Geschehen ĂŒberrascht waren sie dann alle. Allein deshalb sollte das ĂŒber die Opposition der DDR so leicht gefĂ€llte Urteil milder ausfallen, sie sei auf den Niedergang des sowjetischen Systems nicht hinreichend vorbereitet gewesen, habe weder fĂŒr den Umbruch noch fĂŒr ihr politisches Wirken danach detaillierte Programme vorweisen können und eigentlich nur eine bessere DDR gewollt. Unbestreitbar bleibt, dass sie zur rechten Zeit gehandelt hat und unzĂ€hlig viele Menschen zu revolutionĂ€rem Tun motivierte. Und das tat sie durchaus bewusst, und sie versuchte in ihrer nur kurz bemessenen Aktionszeit, der dramatisch sich Ă€ndernden politischen Situation entsprechend, auch zielorientiert zu handeln. Hier mag daran erinnert sein, dass die Französische Revolution seinerzeit ein volles Jahrzehnt gebraucht hat, um das epochale Ereignis zu werden, als das sie noch heute gefeiert wird.
Jedenfalls war der Verfall des realen Sozialismus erkennbar. Das rief in diesen LĂ€ndern viele Menschen auf den Plan, die nicht nur widersprachen, sondern auf Ănderungen der ZustĂ€nde drangen. In der DDR waren es meist kleine kirchliche Gruppen, die ihre Gesellschaftskritik zunĂ€chst an konkrete Problemfelder banden, an den Frieden, die Umwelt oder an die Menschenrechte. Selbst das wurde staatlicherseits beargwöhnt, sogar als politische Einmischung verstanden und zudem vielfĂ€ltig geahndet. Obwohl viele dieser Gruppen, kirchliche wie nichtkirchliche, DDR-weit vernetzt waren, sahen sie bis weit in den SpĂ€tsommer des Jahres 1989 ihre Aufgabe nicht in einer gemeinsamen, auf gesellschaftspolitische VerĂ€nderungen zielenden, zentral organisierten Zusammenarbeit. Dazu fehlte ihnen der politische Wille. FĂŒr die Dynamik der Ereignisse des Herbstes 1989 war dieses zurĂŒckhaltende Agieren der Gruppen[4] geradezu kontraproduktiv. Man sollte aber auch die machtpolitischen Konstellationen genauer kennen, die seinerzeit in der kommunistischen Welt herrschten, um sachgerecht urteilen zu können. Das vorliegende Buch hat sich das zur Aufgabe gemacht, und dieses 2. Kapitel dient der Vorbereitung.
Allein schon die Existenz einer politischen Opposition in den LĂ€ndern des Ostblocks und in der Sowjetunion selbst war sichtbarer Machtverlust ihrer bis dahin totalitĂ€r herrschenden Eliten.Auch wenn dieser Zustand und ebenso die Ă€uĂerst desolate Wirtschaftslage dieser LĂ€nder weder von den Politikern des Westens noch von den verschiedenen Experten als systembedrohend verstanden wurden, hĂ€tte doch die gleichfalls offensichtliche hegemoniale SchwĂ€che der sich bis dahin so selbstbewusst gebenden Weltmacht UdSSR zumindest Fragen nach der StabilitĂ€t ihres Imperiums aufwerfen mĂŒssen. Die Zentrifugalbewegungen im sowjetischen Herrschaftsbereich, die durch die GesellschaftsverĂ€nderungen der achtziger Jahre in Polen und Ungarn bereits deutlich sichtbar geworden waren, wiesen jedenfalls auf mögliche VerĂ€nderungen hin. Die Geschichte hĂ€lt aber auch GrĂŒnde bereit, die vermuten lassen, warum das Sowjetsystem so wenig ĂŒberlebensfĂ€hig gewesen ist und seine Satelliten sich schlieĂlich haben befreien können.
Genaugenommen war die Oktoberrevolution 1917 in Russland eine Konterrevolution, mit der die seit der Februarrevolution in âDoppelherrschaftâ mit den basisdemokratischen Petrograder Arbeiter- und SoldatenrĂ€ten regierende provisorische Duma-Regierung, die selbst eine Konstitution anstrebte, gewaltsam vertrieben wurde. Die Bolschewiki hatten damit die in Russland gerade erst begonnene liberale Gesellschaftsentwicklung unterbunden und diese, ganz in der Tradition des eben erst gescheiterten Zarismus[5], wiederum durch eine autokratische Ordnung ersetzt. Da...