»Hiob würde wahrscheinlicher Weise vor einem jeden Gerichte dogmatischer Theologen, vor einer Synode, einer Inquisition, einer ehrwürdigen Classis, oder einem jeden Oberconsistorium (ein einziges ausgenommen), ein schlimmes Schicksal erfahren haben. Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Überzeugung zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich nicht vor Gott […]: diese Eigenschaften sind es, welche den Vorzug des redlichen Mannes in der Person Hiobs vor dem religiösen Schmeichler im göttlichen Richterausspruch entschieden haben.«
Immanuel Kant
B DARSTELLUNG
1. »HIOB« IM ALTEN ORIENT
Hiobsgestalten hat es in der Geschichte immer gegeben und wird es auch immer wieder geben. Schon lange vor der Entstehung des Hiobbuches, das uns beschäftigt, haben Erfahrungen des Bösen, die großes Leid mit sich brachten, die Gottesbeziehung von Menschen in eine tiefe Krise gestürzt. Diese Erfahrungen haben sich auch in einer Reihe von Texten aus dem alten Ägypten und Mesopotamien niedergeschlagen. Sowohl in ihrer Thematik, in den Motiven und ihrer literarischen Form weisen diese Texte eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit dem Hiobbuch auf.15 Charakteristisch für sie ist das Ringen eines Leidenden mit seinem persönlichen Gott, von dem er Aufklärung über sein als ungerecht empfundenes Geschick sowie eine Rehabilitierung erbittet. Dabei spart er nicht mit massiven Vorwürfen, die er der Gottheit macht. Dorothea Sitzler hat die infrage kommenden Texte analysiert und dabei das sie tragende Motiv Vorwurf gegen Gott gründlich untersucht.16
Damit hat die biblische Hiobtradition Anteil an dem außerbiblischen Nachdenken über die Frage, warum der Gerechte leiden muss, was Gott und die Götter mit dem Leiden und dem Unheil in der Welt zu tun haben, und wo die Einbruchstellen des Chaos und des Bösen in den Kosmos und das menschliche Leben zu suchen sind. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass nicht erst das Hiobbuch diese Fragen stellt, sondern dass ihm selbst solche Fragen schon lange vorausgingen, auf die es eine Antwort sucht. Im Folgenden sollen als Beispiele je ein Text aus Mesopotamien und Ägypten vorgestellt werden.
1.1. Ludlul bēl nēmeqi
Die akkadische Dichtung ludlul bēl nēmeqi wurde nach ihren ersten Worten »Ich will preisen den Herrn der Weisheit« benannt. Sie gehört damit wie auch das biblische Hiobbuch zu den großen Texten der altorientalischen Weisheitsliteratur. Die 480 Verse umfassende Dichtung liegt auf vier Tafeln in mehreren Abschriften aus Kalach, Assur, Ninive, Babylon und Sippar vor. Alle durch den Spaten der Ausgräber ans Tageslicht beförderten Ausgaben des Textes sind nur teilweise erhalten und wurden um 800 v. Chr. aufgezeichnet.17
Hauptfigur der Dichtung ist Schubschi-meschre-Schakkan (»Bewirke Reichtum für mich Schakkan«). Handelt es sich bei dem Träger des Namens um eine Symbolgestalt oder eine historische Person? Schakkan ist eine Gottheit, die auch als Sumuqan bekannt ist. Es handelt sich um den Gott der Viehherden. Der Name des Helden ist demnach ein sogenannter »Wunschname«, mit dem die Hoffnung zum Ausdruck gebracht wurde, die Gottheit Schakkan möge dem Träger des Namens Reichtum in Gestalt von großen Herden und reichem Viehbesitz zukommen lassen. Damit ist bereits durch den Namen eine thematische Verbindung zum biblischen Hiob gegeben, der ja ebenfalls als reicher Herdenbesitzer dargestellt wird (Hi 1,3). Eine literarische Abhängigkeit lässt sich daraus allerdings nicht ableiten.
Tafel I setzt mit einem Hymnus auf den Gott Marduk, den Herrn der Weisheit, ein:
»[Ich will preisen] Marduk, den Herrn der Weisheit, den umsich[tigen] Gott;
er zürnt zur Nachtzeit, verzeiht (aber) am Tage,
dessen Grimm wie ein Gewittersturm eine Steppe (bewirkt),
dessen Wehen (aber) schön ist wie das des Morgenwindes.
Sein Zorn ist nicht abzuwehren, seine Wut ist ein Flutsturm;
fürsorglich (aber) ist sein Sinn, sein Gemüt zum Verzeihen bereit.« (I,3–8)18
Das bereits in diesen ersten Versen anklingende Gottesbild ist markant. Marduk ist ein emotional bewegter, bipolar besetzter Gott. Seine Emotionen schwanken zwischen einem alles vernichtenden Grimm einerseits und einem stets zur Vergebung bereiten Gemüt andererseits. Der Zorn wird dabei der Nachtzeit zugeordnet. In ihr bricht mit dem Dunkel immer wieder das Chaos in den geordneten Kosmos ein. Der rettende, verzeihende Gott hingegen zeigt sich am Morgen des Tages, wenn das Licht hervorbricht und sich die Welt neu ordnet.19 Von diesem Marduk darf man daher beides erwarten, das Gute wie das Böse, Heil und Unheil. Er ist der Chaos und Kosmos wirkende Gott gleichermaßen. Die Frage, die sich damit stellt, ist die, ob es bestimmte Prinzipien und Regeln gibt, nach denen er Heil oder Unheil wirkt, Zorn und Güte zum Zuge kommen lässt. Ist sein Handeln an ein ethisches Reglement gebunden? Verteilt er das Gute und das Böse fein säuberlich auf seine Anhänger und seine Gegner, auf Fromme und Ganoven? Diese Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach einsichtigen Regeln seines Handelns bleibt zunächst offen. Wenn aber davon die Rede ist, dass er auch ein Gott der Vergebung ist, dann darf man wohl voraussetzen, dass man in ihm nicht den Urheber eines blinden, planlosen Schicksals sah. Er ließ sich offensichtlich durch tätige Reue und kultische Verehrung in seinem Verhalten gnädig stimmen.
Auf diese hymnische Einleitung folgt eine breite Schilderung des Unglücks, das den hohen Beamten des Königs, Schubschi-meschre-Schakkan, befallen hatte. Er musste einen entwürdigenden sozialen Abstieg in Kauf nehmen. Durch üble Intrigen und Verleumdungen hat er sein Amt am Hofe verloren. Seine persönlichen Schutzgötter haben sich von ihm abgewandt:
»Voll war der gute Schutzgenius an meiner Seite [des Zorns] gegen mich;
es erschrak mein (weiblicher) Schutzgeist; sie sah sich nach einem andern um.
Fortgenommen wurde meine Würde, meine Männlichkeit wurde verdunkelt;
was mein Wesen ausmachte, flog davon, übersprang mein ›Schutzdach‹«20. (I,45–48)21
Der Verlust der persönlichen Schutzgötter bewirkte offensichtlich, dass Schubschi-meschre-Schakkan nun auch beim Staatsgott und Oberhaupt des Pantheons, Marduk, in Ungnade fiel. Er hatte seine himmlischen Fürsprecher verloren, und mit diesen sein staatliches Amt:
»Der König, leibgleich den Göttern, die Sonne seiner Menschen:
sein Herz wurde verhärtet, zu böse um zu verzeihen.
Die Höflinge tauschen böse Nachrede über mich aus;
sie hocken zusammen und belehren einander in Niedertracht.
Wenn der eine (sagt): »Ich werde ihn sein Leben ›hinschütten‹ lassen«,
sagt ein zweiter: ›Ich entferne (ihn) aus seinem Amt.‹« (I,55–60)22
Der Anschlag derjenigen, die ihm seinen Posten nicht gönnen, hat Erfolg. Der berufliche Absturz führt aber nicht nur zum Verlust des öffentlichen Prestiges, sondern auch zur sozialen Isolierung innerhalb seines engsten Lebenskreises, seines Hauses, seiner Verwandtschaft und seiner Familie.
»Offen in der Öffentlichkeit verfluchte mich mein Sklave;
meine Sklavin vor der Menschenmenge sprach Schmähung(en) gegen mich aus.
Es sah mich der Bekannte und drückte sich zur Seite;
wie einen nicht Blutsverwandten behandelte mich meine Familie.« (I,89–92)23
Diese Klage erinnert thematisch unmittelbar an das Geschick Hiobs (Hi 19,14–19). Soziale Isolation ist die irdische Komponente, die sowohl der königliche Beamte Schubschi-meschre-Schakkan als auch der biblische Hiob erfuhren (vgl. auch Hi 30).
Die irdische Handlungsebene ist aber nur die eine Seite der Medaille. Nicht nur die Hioberzählung stellt dieser eine himmlische Handlungsebene an die Seite, sondern eben auch der babylonische Erzähler. Auf Tafel II beginnt der Leidende darüber nachzudenken, was sein Schicksal mit der Welt der Götter zu tun haben könnte. Er beklagt, dass es ihm gehe wie einem Gottlosen:
»Wie einer, der das Opfer dem Gotte nicht regelmäßig darbrachte,
oder bei der Mahlzeit die Göttin nicht nannte;
der die Nase nicht senkte, Niederwerfung nicht kannte,
in dessen Mund aufhörten Gebet (und) Flehen;
der den Feiertag des Gottes versäumte, den Monatsfeiertag missachtete,
nachlässig wurde und ihre Riten gering schätzte; […]
eben denen glich ich.« (II,12–17.23)24
Jedoch das Gegenteil von alledem trifft zu. Schubschimeschre-Schakkan ist sich keines dieser kultischen Vergehen bewusst. Allen seinen Verpflichtungen gegen die Götter und die Obrigkeit – so seine Unschuldsbeteuerung – kam er in vollem Umfang nach und war stets ein Vorbild für das einfache Volk. Zwar ist er sich darüber im Klaren, dass auch sein Leben nicht frei von Schuld und Sünde ist und er daher auf Vergebung angewiesen bleibt. Im Vergleich zum Geschick derjenigen aber, die die Verehrung der Götter auf die leichte Schulter nahmen, das religiöse Leben vernachlässigten und das soziale Miteinander verletzten, stehen die Übel, die ihm widerfuhren, in keinem Verhältnis. Dies führt ihn zu einem weit reichenden religiösen Nachdenken über die Welt der Götter und die der Menschen. Er stellt sich die Frage, ob die irdischen Beurteilungskriterien menschlichen Handelns auch denen der Götter entsprechen. Vielleicht legen diese ja ganz andere Verhaltensmaßstäbe an als der Mensch:
»Wüsste ich doch (gewiss), dass hiermit der Gott einverstanden ist!
Was einem selbst gut erscheint, könnte für den Gott ein Frevel sein;
was dem eigenen Sinn sehr schlecht dünkt, könnte dem Gott gut gefallen!
Wer kann den Willen der Götter im Himmel erfahren? Wer begreift den Ratschluss des Anzanunzu?25
Wo je erfahren den Weg des Gottes die Umwölkten?« (II,33–38)26
Damit kommt die babylonische Dichtung zu dem Schluss, dass trotz aller mantischen und kultischen Künste der Opferschauer, Traumdeuter und Zeichenbeschwörer der Mensch letztlich keine Einsicht in das Handeln der Götter gewinnen kann. Der Himmel und die Wassertiefe geben ihr Geheimnis nicht preis. Die Welt der Götter bleibt uns verschlossen. Der Himmel spricht zum Menschen, aber wir verstehen seine Sprache nicht. Diese in der Weisheitstradition verankerte Einsicht erinnert an eines der spätesten Stücke des Hiobbuches, das Lied von der Weisheit (Hi 28), zu der kein Sterblicher den Weg findet, so sehr er auch nach ihr sucht wie ein Bergmann in den Tiefen der Erde oder ein Edelsteinhändler auf dem Basar. Allein Gott kennt den Weg zu ihren Quellen.
Nachdem unser leidender Gerechter einmal zu dieser Erkenntnis gekommen ist, weiß er sich nahezu schutzlos den unablässigen Angriffen der Dämonen ausgesetzt. Schwere Krankheiten befallen ihn:
»Darüber hinaus zog sich nun die Krankheit in die Länge. Da ich nicht essen konnte, wurde mein Gesicht ent[stellt]; mein Fleisch schwand dahin, mein Blut versieg[te].
Der Knochen war eingezeichnet in die abdeckende Haut, entzündet war...