VIERTER TEIL:
Die demokratische DDR und der
Prozess der deutschen Einheit (1990)
1. Kapitel: Die freie Wahl in der DDR â
der schwierige Weg zur Koalitionsregierung
Politik als Beruf
Es war mir nicht sofort bewusst, doch mit der freien Wahl in der DDR begann fĂŒr mich eine neue Lebensphase. NatĂŒrlich: Wir hatten es geschafft! Nun galt es, eine Demokratie aufzubauen und zu gestalten. Danach hatten wir uns gesehnt, darauf hatten wir hingearbeitet. Zugleich hatte sich meine persönliche Lebenssituation verĂ€ndert: Fast unmerklich, aber zwangslĂ€ufig hatte ich den Beruf gewechselt. Ich war zum Politiker geworden, ohne dies intendiert oder angestrebt zu haben. Zwar gab es in der DDR Menschen, die nur aus dem Grund, dass sie woanders keine Möglichkeit hatten, in der Kirche arbeiteten. Doch bei mir war das anders. Ich hatte mein Leben lang Pastor werden wollen, hatte mit Leidenschaft Theologie studiert und dann diesen Beruf ausgefĂŒllt. Der Wechsel vom Gemeindepfarramt in die Aufgabe, eine ökumenische Begegnungs- und BildungsstĂ€tte aufzubauen und zu leiten, war fĂŒr mich ein jahrelang angestrebter Traum gewesen. Nun hatte ich diese Stelle â und verlieĂ sie so schnell wieder. Meine Frau und die Familie waren mir gefolgt, obwohl es fĂŒr sie nicht leicht gewesen war. Sie hatten alles mitgetragen und ihre eigenen Interessen zurĂŒckgestellt. Konrad musste umgeschult werden. Er hatte sich in Mecklenburg unter schwierigen Bedingungen gut eingelebt â und fand dann am neuen Ort keinen Anschluss mehr. Erst war er der Sohn des Mannes, vor dessen TĂŒr stĂ€ndig die Stasi stand, dann war er plötzlich der Sohn des AuĂenministers. Beides war fĂŒr seine Integration in die Klassengemeinschaft nicht förderlich. Das alles war sehr schmerzlich â aber doch alternativlos in dieser Situation. Das politische Engagement war immer ein Element meines Christseins und kirchlichen Lebens gewesen. Nun aber war es zu meinem Beruf geworden. Dass es dabei bleiben wĂŒrde, wusste ich damals noch nicht. Es war kein bewusster, dauerhafter Abschied von meiner kirchlichen TĂ€tigkeit, es war schlicht die Konsequenz aus dem, was vorher geschehen war. Man kann in einer solchen Situation keine Partei grĂŒnden und dafĂŒr werben, politische Verantwortung zu ĂŒbernehmen, und dann selbst abseitsstehen.
Mit dem Beginn meiner Zeit als Parlamentarier im MĂ€rz 1990 war ich nun stĂ€ndig in Berlin. Als Christina erzĂ€hlte, dass Tilman, unser jĂŒngster Sohn, an den Fernseher ging, wenn ich dort auftauchte, um mich zu streicheln, hat mich das tief berĂŒhrt. Als eine RĂŒckkehr in den kirchlichen Dienst im Juli 1990 unmöglich wurde, entlieĂ man mich aus dem Dienst der Kirche. Verbunden damit zog auch die Familie Mitte des Monats nach Berlin â und ein Mitarbeiter half, da ich an diesem Tag nach Washington flog. Da es noch keinen freien Wohnungsmarkt gab, wurde unser Haus am Rande Berlins von einer Regierungsstelle gesucht. Das griffen die Zeitungen gleich auf und ich wurde verdĂ€chtigt, nur meine SchĂ€fchen ins Trockene bringen zu wollen.
Mit diesem »Berufswechsel« und der Tatsache, dass ich plötzlich zu einer öffentlichen Person geworden war, ergab sich die Notwendigkeit einer neuen Kleiderordnung. Damit hatte ich zunĂ€chst Schwierigkeiten und beobachtete, wie dies auch bei anderen Politikern der Fall war, die frĂŒher Dissidenten gewesen waren. Am EindrĂŒcklichsten ist das von VĂĄclav Havel in einem wunderbaren Dokumentarfilm dokumentiert. In Deutschland ist ein solcher »Kulturbruch« bei Joschka Fischers Minister-Vereidigung in Turnschuhen im GedĂ€chtnis geblieben. Ich hatte mich seit jeher gern leger gekleidet und es auch als Pastor weitgehend vermieden, einen Anzug zu tragen. Als Pastor in Mecklenburg trug ich unter dem Talar eine schwarze Cordhose und ein weiĂes Hemd, im Winter einen von meiner Mutter gestrickten schwarzen Pullover darĂŒber. Im Herbst 1989 begann ich dann, das gebrauchte karierte Jackett meines verstorbenen Onkels zu tragen. Als ich im MĂ€rz 1990 meine erste Reise in die USA vorbereitete â gemeinsam mit Horst Ehmke und Dietrich Stobbe von der SPD-Bundestagsfraktion sowie Hans Misselwitz â, sprach mich Rolf Schmachtenberg an und meinte, ich sollte mir einen Anzug kaufen. Da ich mich etwas hilflos zeigte, ging er mit mir im Westen Berlins in ein FachgeschĂ€ft und kaufte mir einen dunklen, gestreiften Anzug, der fĂŒr einige Wochen mein einziger Anzug war und dann auch auf manchen Fotos als AuĂenminister zu sehen ist.
Das Wahlergebnis am 18. MĂ€rz
Die Wahl am 18. MĂ€rz 1990 war eine zutiefst ambivalente Erfahrung. Wie lange hatten wir dafĂŒr gekĂ€mpft, in der DDR eine Demokratie zu errichten! Jetzt war es geschafft. Dass von nun an gewĂ€hlte politische KrĂ€fte den kĂŒnftigen Weg gestalteten, war die ErfĂŒllung einer tiefen Hoffnung, die ich die lĂ€ngste Zeit meines Lebens gehegt und an deren Verwirklichung ich nicht geÂglaubt hatte. Und ich hatte selber dazu beitragen. Das machte mich stolz. Zugleich bedeutete das Wahlergebnis aber auch das jĂ€he Ende der hochfliegenden TrĂ€ume, eine kĂŒnftige Regierung fĂŒhren zu können. Noch Anfang des Jahres hatte die Presse uns Sozialdemokraten als Wahlsieger hochgeschrieben. Es war sogar von absoluter Mehrheit die Rede, was ich schon damals als Wahlkampf gegen uns bezeichnet hatte, diente es doch dem Ziel, jegliche Mobilisierung zu verhindern und alles fĂŒr gelaufen zu erklĂ€ren. Ab Anfang MĂ€rz hatte die West-CDU mit einem hohen finanziellen Aufwand fĂŒr die Allianz eine Materialschlacht in Gang gesetzt. Hinzu kam der strategische Vorteil, ĂŒber den landesweiten Parteiapparat der Blockpartei zu verfĂŒgen, das Personal und die Zeitungen der Ost-CDU. Dem hatten wir als neu gegrĂŒndete Partei ohne jede Infrastruktur und auch nur annĂ€hernd vergleichbare finanzielle UnterstĂŒtzung wenig entgegenzusetzen. Zwar organisierte die West-SPD bei uns zahlreiche RednereinsĂ€tze mit Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Egon Bahr und vielen anderen. Doch hatten wir weder die Strukturen noch das Personal, um in der FlĂ€che entsprechend prĂ€sent zu sein und die Veranstaltungen angemessen vorzubereiten. So war in den letzten zwei Wochen vor der Wahl die Stimmung mehr und mehr gekippt. Die von der Koalition in Bonn unterstĂŒtzten Parteien fuhren mit 48 % einen haushohen Sieg ein. NatĂŒrlich galt dieser nicht den Blockparteien, die noch wenige Wochen zuvor die Trittbrettfahrer der SED gewesen waren und sich gerade mal seit wenigen Wochen von dieser vorsichtig distanziert hatten. Der Sieg galt den Koalitionsparteien der Bundesregierung und ihren Partnern, von der die DDR-BĂŒrger in ihrer groĂen Mehrheit erwarteten, sie sollen die Einheit jetzt so schnell wie möglich vollziehen. Mir war kurz vor der Wahl erzĂ€hlt worden, dass ein Ă€lteres Ehepaar bei einer der etwa 20 Wahlveranstaltungen, die Willy Brandt in der DDR machte, auf ihn zugegangen war und ihm gesagt habe: »Eigentlich wollen wir ja Sie wĂ€hlen, denn Sie verehren wir! Doch diesmal mĂŒssen wir die CDU wĂ€hlen, denn die haben das Geld!« Ăhnliches konnte man immer wieder hören. Die Menschen folgten den Versprechungen des westdeutschen Kanzlers und handelten nach den Erkenntnissen, die sie in der DDR gelernt hatten: Die SED ist die Partei der Arbeiterklasse, die CDU dagegen die des Kapitals. Die SPD aber war die VerrĂ€terin der Arbeiterklasse. So wĂ€hlte man die »echte Alternative«, zumal sie im Westen regierte und medial allgegenwĂ€rtig war. Dazu kamen die aggressiven und beleidigenden Diffamierungen gegenĂŒber der SPD, von denen ich schon schrieb. Gerade in den »TĂ€lern der Ahnungslosen«, wie die Regionen der DDR genannt wurden, in denen die westlichen Fernsehsender nicht gesehen werden konnten, lieĂen sich die Menschen in die Irre fĂŒhren. Ihnen wurde glauben gemacht, Willy Brandt wĂ€re wie Erich Honecker. In diesen Gebieten stiegen die Stimmen fĂŒr die CDU sprunghaft um ca. 5 % an.
Bereits dieser erste Wahlkampf war fĂŒr mich eine zwiespĂ€ltige Erfahrung. Hier hatten differenzierende, sich um Erkenntnis bemĂŒhende Argumente keinen Platz. Die Menschen nicht zum Denken anzuregen, sondern zur platten Gefolgschaft aufzufordern â das war ich nicht gewohnt und es widerstrebte mir. Klare, kurze Botschaften zu geben, ohne Argumente, ohne FĂŒr und Wider, hatte ich nicht gelernt. Das zeigte sich besonders im fĂŒr mich anfangs schwierigen Umgang mit Medien. Dazu kamen die öffentlichen LĂŒgen und Diffamierungen durch die CDU und DSU â Unterstellungen, die uns in die NĂ€he der SED-PDS rĂŒckten, im Konkreten vor Ort vorgetragen von Leuten, die meist lange mit der SED im Bett gewesen waren. Ich hatte zwar Erfahrungen damit, mich von der Stasi nicht kaputtmachen zu lassen. Angesichts solcher schamlosen Attacken war ich jedoch fassungslos.
Viele waren von diesem Wahlergebnis entsetzt, auch Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel. Die FĂŒhrung der West-SPD hatte â wohl mehr noch als wir selbst â fest mit unserem Wahlsieg gerechnet und sich damit einen neuen Schub fĂŒr die anstehende Bundestagswahl versprochen. Wir hatten das auch gehofft, doch hatten mich in den Tagen zuvor mehr und mehr Zweifel beschlichen. Am Wahlabend musste ich das Ergebnis vielfach kommentieren. NatĂŒrlich war auch ich enttĂ€uscht, aber nicht wirklich existentiell betroffen. Zumindest war damit klar, dass Ibrahim Böhme nicht MinisterprĂ€sident wird, was in meinen Augen absehbar in einer Katastrophe geendet hĂ€tte. Mit 21,8 % war die SPD die einzige aus der Opposition zur SED kommende politische Kraft, die ein nennenswertes Wahlergebnis vorweisen konnte. Die im »BĂŒndnis 90« zusammengefassten demokratischen Initiativen kamen ĂŒberhaupt nur ins Parlament, weil es keine FĂŒnf-Prozent-HĂŒrde gab. NachtrĂ€glich erwies es sich als wirklich wichtig, dass diese HĂŒrde â entgegen unserer Absicht damals â nicht eingefĂŒhrt worden war, denn es wĂ€re nicht gut gewesen, wenn diese Mitstreiter in den Zeiten der Diktatur und in der Friedlichen Revolution nicht im Parlament gewesen wĂ€ren. Der DA war völlig abgestĂŒrzt, nachdem in den Tagen vor der Wahl Wolfgang Schnur als Agent der Staatssicherheit entlarvt worden war.
Nach den enttĂ€uschten Erwartungen bei der Wahl folgte fĂŒr die SPD wenig spĂ€ter eine schwere Krise durch die öffentliche Enttarnung von Ibrahim Böhme als Stasiagent. Am Tag nach der Wahl hatte ihn der SPD-Vorstand noch als Fraktionsvorsitzenden nominiert, zu dem er am darauffolgenden Mittwoch von der Fraktion mit einer ĂŒberwĂ€ltigenden Mehrheit gewĂ€hlt wurde. Seine Beliebtheit in der SPD und weit darĂŒber hinaus war im Osten wie im Westen groĂ. Die Journalisten hingen an seinen Lippen und umringten ihn, wo immer er auftrat. Schon zur konstituierenden Fraktionssitzung, in der er gewĂ€hlt wurde, kam er spĂ€ter, er begrĂŒndete es in einem Brief an Martin, Stephan und mich mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand.125 Er wohnte in diesen Wochen nicht in seiner Wohnung in der ChodowieckistraĂe, wegen Drohbriefen, die er erhalten habe. Gerhard Hirschfeld, der Kontaktmann zu Hans-Jochen Vogel, hatte ihn in Westberlin im Hotel Seehof am Lietzensee untergebracht. Dort war er fĂŒr uns meist nicht erreichbar, von Hirschfeld und der ebenfalls aus der Baracke geschickten SekretĂ€rin Ulla Vollert, die spĂ€ter als Agentin der HVA enttarnt wurde, wurde er regelrecht abgeschirmt. Das war nun schon wochenlang so gegangen. Es schien sich fortzusetzen. Wie wir unter diesen UmstĂ€nden politisch verbindlich arbeiten und Entscheidungen seriös vorbereiten und treffen sollten, war schleierhaft. Dabei gab es dringenden GesprĂ€chsbedarf, denn wir waren in der zentralen Frage der Regierungsbildung unterschiedlicher Meinung. Nach der ersten Reaktion am Wahlabend mit der Aussage, dass Opposition nun unsere Rolle sei, war ich fest davon ĂŒberzeugt, dass wir eine Koalition anstreben sollten. So wollte ich mit Richard Schröder, Martin Gutzeit und Reinhard Höppner auf die CDU zugehen, um Möglichkeiten einer Koalition auszuloten. Böhme war strikt dagegen, entzog sich aber dem GesprĂ€ch.
Der Absturz Ibrahim Böhmes
Am 23. MĂ€rz erhielten wir einen Brief von Böhme, in welchem er erklĂ€rte, er mĂŒsse sich aus gesundheitlichen GrĂŒnden »an einen unbekannten und von mir nicht benannten Ort« zurĂŒckziehen. Gleichzeitig bezog er sich darauf, dass er von Journalisten erfahren habe, dass eine »Kampagne« gegen ihn zu erwarten sei mit der »Verleumdung«, er habe fĂŒr die Staatssicherheit gearbeitet. Bis zur KlĂ€rung dieser Fragen, die einige Zeit beanspruche, wolle er seine Ămter ruhen lassen. FĂŒr die Fraktion bat er Richard Schröder darum, bis dahin den Vorsitz zu fĂŒhren. FĂŒr die Partei benannte er Karl-August Kamilli. Erst spĂ€ter erfuhr ich, dass er vom »Spiegel« ĂŒber die bevorstehende Veröffentlichung informiert und ihm die Möglichkeit eingerĂ€umt worden war, dazu Stellung zu nehmen. Ich wusste ebenfalls nicht, dass am selben Tag in Bonn ein GesprĂ€ch zwischen Böhme und Hans-Jochen Vogel stattfand, zu dem ihn Hirschfeld gebracht hatte. Daran nahmen auch Richard Schröder und Karl-August Kamilli teil.126 In den Tagen darauf war Böhme wieder nicht erreichbar, erst Jahre spĂ€ter erfuhr ich durch Veröffentlichungen, dass Gerhard Hirschfeld ihn in sein Haus bei Bonn gebracht hatte. Erst am 1. April gelang es mir, durch Vermittlung von Hirschfeld mit Böhme zu telefonieren, der nach einem Nervenzusammenbruch in einem Westberliner Krankenhaus lag. Als ich am selben Tag dort auch persönlich mit ihm sprechen wollte, war er schon nicht mehr da. Zwei Tage spĂ€ter war in den Zeitungen von einem Selbstmordversuch die Rede. Gegen den Rat von Richard Schröder und mir hatten der Vorstand am 26. MĂ€rz und die Fraktion am Tag darauf, unmittelbar nach der Spiegelveröffentlichung, Böhme das Vertrauen ausgesprochen und gegen die »Verleumdung der Medien« protestiert. Wir dagegen hatten beide zur ZurĂŒckhaltung gemahnt. Beide Gremien erwarteten Böhmes RĂŒckkehr nach kurzer Zeit. Ohne Schröder und mich zu informieren, organisierte Hirschfeld ĂŒber den SPD-Vorstand in Bonn die RechtsanwĂ€lte von Sell und Seibert. Mit diesen nahmen Böhme und Hirschfeld dann am 30. April beim »in Auflösung« befindlichen Amt fĂŒr Nationale Sicherheit in der NormannenstraĂe Einsicht in Böhmes Akten. AuĂer den Genannten nahmen noch aus der SPD Karl-August Kamilli und Dankward Brinksmeier sowie Monsignore Ducke an der Einsicht teil. AnschlieĂend informierte Hirschfeld uns beide ĂŒber eine Reihe schwer durchschaubarer Details und erweckte den Eindruck, dass eine echte Stasi-Belastung nicht nachweisbar sei. Schröder und ich waren jedoch der Ăberzeugung, dass dieser Zustand nicht mehr haltbar sei und Böhme zurĂŒcktreten mĂŒsse. Am 1. April erreichte uns dann ein handschriftliches Schreiben von Böhme. Er erklĂ€rte, er sei »den stĂ€ndigen Nachstellungen durch die Medien auch gesundheitlich nicht gewachsen«, er wolle sich der aufwendigen AufklĂ€rung der VorwĂŒrfe und seiner angeschlagenen Gesundheit widmen und lege deshalb die Ămter in Partei und Fraktion nieder. Nach wie vor behauptete er, das »Dossier« sei eine Unterstellung und solle ihn als Person und »auch unsere noch junge Demokratie« belasten.127
Nun, damit waren wir wenigstens endlich handlungsfĂ€hig â so dachte ich. Neben Richard Schröder kandidierte auch Walter Romberg am 3. April fĂŒr den Fraktionsvorsitz. Richard wurde mit ĂŒberwĂ€ltigender Mehrheit gewĂ€hlt. Er hatte sich eine allseits geachtete Stellung erobert. Sehr viel komplizierter war es auf der Parteiebene. Im Vorstand hatte Böhme eine starke Gefolgschaft, man folgte ihm auch weitgehend in der Ablehnung der Beteiligung an einer kĂŒnftigen Regierung. In der Sitzung des Vorstandes am 2. April lehnte Kamilli die Ăbernahme des amtierenden Vorsitzes ab. Ich kandidierte, erhielt aber in dieser Sitzung mit 9 Stimmen, 6 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen nicht die nötige Mehrheit. Das geschah dann erst nach dem Parteirat in der Sitzung am 8. April. Trotzdem wurde schon am 2. April öffentlich verkĂŒndet, dass ich bis zu einem Sonderparteitag die Partei fĂŒhren werde. Das war alles kein VergnĂŒgen. Ich musste die ZĂ€hne zusammenbeiĂen, um das durchzustehen.
In den Wochen seit dem Parteitag im Februar war viel Kommunikation an mir vorbei gelaufen. Die klare hierarchische Struktur der West-SPD wurde auch auf uns ĂŒbertragen und so konzentrierte sich alles auf Böhme â der zwar in diesen Wochen öffentlich geglĂ€nzt, aber nicht wirklich die Partei gefĂŒhrt hatte. Gemeinsame Entscheidungen hatte es nicht gegeben. Das sollte nun anders werden, war aber angesichts der Gemengelage ein schwieriges Unterfangen. Böhme blieb nach seinem RĂŒckzug wieder fĂŒr zwei Wochen verschwunden. Wieder war es Hirschfeld, der ihn mit in die Toskana nahm. Seine Art, die Kontakte zwischen Ost- und West-SPD zu gestalten, war nicht das, was wir brauchten. GlĂŒcklicherweise hatte Hans-Jochen Vogel inzwischen mit Dietrich Stobbe, dem frĂŒheren Berliner Regierenden BĂŒrgermeister, einen Koordinator der Beziehungen benannt, den ich sehr schĂ€tzte. Er wurde zu einem Berater und Begleiter, wie man ihn sich nur wĂŒnschen konnte. Unter seiner und Walter Zöllers Ăgide gab es eine Beziehung auf Augenhöhe. Angesichts der FĂŒlle der Aufgaben wuchs der Mitarbeiterstab im Westberliner KontaktbĂŒro recht schnell betrĂ€chtlich an.
Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, vor welchen Aufgaben wir nach der ersten freien Wahl in der DDR standen, allein schon, um einen funktionierenden Parlamentsbetrieb zu etablieren. Die Volkskammer hatte vorher ja nicht als wirkliches Parlament gearbeitet. Als einzige der politischen KrĂ€fte waren wir uns bewusst, dass alles neu geschaffen werden musste. Martin Gutzeit hatte mit Christoph Matschie, Susanne Seils und Rolf Schmachtenberg und mehrfacher Beratung durch Hans-Peter Schneider und Konrad Porzner GeschĂ€ftsordnungen entworfen sowie Vorarbeiten fĂŒr GesetzgebungsplĂ€ne erstellt. Schon vor der Wahl hatten wir die Kandi...