1.
ZU BEGRIFF UND ENTSTEHUNG DER (CHRISTLICHEN) ETHIK
In diesem ersten Hauptteil wird zunächst erläutert, was im vorliegenden Lehrbuch unter Ethik im Allgemeinen verstanden wird (1.1). Diese Erläuterung vollzieht sich so, dass die Bedeutungen der Wörter Ethik und Moral jeweils bestimmt und dadurch voneinander abgegrenzt werden (1.1.1). Das dabei erzielte Ergebnis wird dann die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Recht aufwerfen, die ebenfalls einer Klärung zugeführt wird (1.1.2). Ausgehend von der Feststellung, dass die Unterscheidung von Recht und Moral die Möglichkeit einer moralisch fundierten Kritik geltenden Rechts sichert, wird schließlich der für solche Kritik regelmäßig herangezogene Begriff des Naturrechts genauer erläutert (1.1.3).
In einem zweiten Schritt (1.2) werden die Hintergründe der Entstehung der Ethik als einer philosophischen Disziplin dargestellt (1.2.1/1.2.2), gefolgt von einigen Hinweisen ZU ARISTOTELES (384–322 v. Chr.), in dessen praktischer Philosophie sich der Durchbruch zur Etablierung einer selbständigen philosophischen Ethik und ihrer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen (teilweise auch in diesem Lehrbuch rezipierten; vgl. 3.0) internen Gliederung manifestiert (1.2.3).
An dritter Stelle (1.3) wird zunächst entfaltet, was speziell unter christlicher Ethik zu verstehen ist (1.3.1). Damit sind die Ausführungen dieses Kapitels beim eigentlichen Thema dieses Buches angekommen, nämlich bei der Ethik als einer Teildisziplin der (Systematischen) Theologie. Wie sie konkret profiliert ist, wird sowohl im Blick auf das biblische Fundament des christlichen Glaubens (1.3.2) als auch in wissenschaftssystematischer Hinsicht erläutert (1.3.3); dabei geht es sowohl um die enzyklopädische Verortung der Ethik in der christlichen Theologie als auch um die Klärung des Verhältnisses der theologischen zur philosophischen Ethik.
1.1 BEGRIFFSKLÄRUNGEN
Auf die Frage nach den Differenzen im Gebrauch der Wörter Ethik und Moral (1.1.1) geben unterschiedliche Zeitgenossen erfahrungsgemäß verschiedene Antworten. Ähnliches gilt für die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Recht (1.1.2); auch hier gibt es im Blick auf eine sachgerechte Verhältnisbestimmung ganz unterschiedliche landläufige Auffassungen. Im Blick auf die Profilierung des in der vorliegenden Darstellung verwendeten Ethik-Begriffs soll an diesen Punkten ein wenig Klarheit geschaffen werden. Schließlich (1.1.3) ist auf den Begriff des Naturrechts einzugehen, in dem sich das komplexe Verhältnis von Moral und Recht gleichsam verdichtet.
1.1.1 ETHIK UND MORAL
Zunächst ist festzuhalten, dass die Wörter
Ethik und
Moral im Blick auf ihre Etymologie (Wortherkunft) im Prinzip dasselbe bedeuten. Beim Wort
Ethik handelt es sich um ein auf das griechische
(ēthos) oder
(
éthos) zurückgehendes Fremdwort. Beide Wörter bedeuten gemeinsam
Gewohnheit oder
Sitte. Das Wort
(
ēthos) kann darüber hinaus noch als
Wohnort und auch als
Charakter übersetzt werden. Das Wort
Moral geht zurück auf das lateinische
mos, das sowohl für
Sitte als auch für
Charakter stehen kann und damit die Bedeutungen von
(
ēthos) und
(
éthos) im Wesentlichen vereint. – Die aufgewiesene Bedeutungsidentität in etymologischer Hinsicht verweist darauf, dass einer Differenzierung im Wortgebrauch eine terminologische Entscheidung zugrunde liegt.
Als Grundlage einer solchen Entscheidung kann zunächst die Tatsache gelten, dass der Philosoph
ARISTOTELES den Bereich des »Sittlichen«
1/
tà ēthiká), also die Gesamtheit derjenigen Dinge, die Gewohnheit, Sitte und Brauch betreffen, als Gegenstand einer eigenen Wissenschaft verstanden und dieser Wissenschaft die Bezeichnung
(
ēthikè theoría) gegeben hat.
2 In Anlehnung an diese Benennung gilt Ethik als Ausdruck für jenen Teil der Philosophie, der
sich mit dem menschlichen Handeln befasst, und
ARISTOTELES gilt als erster programmatischer Vertreter der Ethik als Wissenschaft (vgl.
1.2.3). In der lateinischsprachigen Tradition kam es dann, neben einer Übernahme des griechischen Ausdrucks in latinisierter Form (
ethica),
3 zu der Wortbildung
Moralphilosophie (
philosophia moralis); damit bezeichnete namentlich der römische Politiker und Philosoph
MARCUS TULLIUS CICERO (106–43 v. Chr.) die philosophisch-wissenschaftliche Behandlung des »Sittlichen« (
de moribus).
»[Q]uia pertinet ad mores, quod
[
ēthos] illi vocant, nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus, sed decet augentem linguam Latinam nominare moralem.« (Cicero, De fato/Über das Schicksal, 6 f.: 1,1)
»[D]a sich dieser Teil der Philosophie mit den mores – die Griechen sprechen von êthos – befasst, verwenden wir für ihn gewöhnlich die Bezeichnung de moribus [über Charakter und Sitten]; doch würde es meinem Bestreben nach einer Erweiterung der lateinischen Sprache entsprechen, ihn moralis zu nennen.« (Übersetzung: PAOLA CALANCHINI)
Das bisher Ausgeführte ist im Folgenden zusammengefasst.
| Bezeichnungen der wissenschaftlichen (philosophischen) Disziplin | Gegenstand der wissenschaftlichen (philosophischen) Disziplin |
ARISTOTELES | | das menschliche Handeln – die Gesamtheit derjenigen Dinge, die Gewohnheit, Sitte und Brauch betreffen: ( ta ēthiká); mores, quod [ ēthos] illi vocant |
Lateinische Tradition | Ethica |
CICERO | Philosophia moralis/de moribus |
Vor diesem Hintergrund legt es sich nahe, unter Ethik (oder Moralphilosophie) diejenige wissenschaftliche Disziplin zu verstehen, die die Moral zum Gegenstand hat. Unter Moral wird dabei das gelebte Ethos verstanden: die Gesamtheit der das menschliche (Zusammen-)Leben in einem bestimmten Kontext bestimmenden Gewohnheiten, Sitten oder Bräuche, kurz: das menschliche Handeln, sofern es von bestimmten Werthaltungen getragen ist.
In diesem Sinne kann auch »das Ganze der moralischen Einstellung und des moralischen Verhaltens eines Menschen« als dessen Ethos bezeichnet werden.4
Die skizzierte terminologische Entscheidung hat sich in einer prägnanten und viel rezipierten Formulierung des deutschen Soziologen und Systemtheoretikers NIKLAS LUHMANN (1927–1998) niedergeschlagen; LUHMANN versteht die Ethik als eine »Reflexionstheorie der Moral«.5 Diese Definition impliziert freilich eine hier kurz zu skizzierende ...