Frauke
Frauke Lietz, geboren 1970
Eltern: Erika (Ărztin) und Heiko Lietz (Pfarrer), OV »Zersetzer«, GĂŒstrow
Kindheit in GĂŒstrow
Heute Dipl.-Theologin, aktuell: Projektleiterin »Die Kunst von Kunst zu leben« â ein Professionalisierungs- und Vernetzungsprojekt fĂŒr KĂŒnstlerinnen in MV, c/o Frauenbildungsnetz MV e. V. in Rostock
»Egal, was die anderen machen, wichtig ist, dass ihr zu dem stehen könnt, was ihr tut!« Dieser Satz in den verschiedensten Facetten durchzog wie ein roter Faden meine Kindheit und Jugend in der DDR. Als elterliche ErziehungsprĂ€misse prĂ€gte er den GroĂteil der Weichenstellungen, was meine Beteiligung â oder richtiger: Nicht-Beteiligung â an den vom Arbeiter- und Bauernstaat zur Entwicklung allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten »verordneten« MaĂnahmen betraf: Die anderen waren bei den Jung- und ThĂ€lmannpionieren â ich nicht. Die anderen gingen zu allen Pioniernachmittagen â ich nahm nur an ArbeitseinsĂ€tzen, kulturellen AktivitĂ€ten, Klassenfesten u. Ă€. teil. Die anderen machten Jugendweihe inklusive einer mehrtĂ€gigen Fahrt nach Berlin, unser aller Hauptstadt der DDR â ich blieb zu Hause. Die anderen gingen zu einer einen gesamten Schultag andauernden EinĂŒbung von erforderlichen MaĂnahmen bei Atomalarm â ich fehlte an diesem Tag in der Schule. Die anderen nahmen in der 9. Klasse an zwei Wochen vormilitĂ€rischer Ausbildung im Rahmen des Wehrkundeunterrichts teil â ich arbeitete stattdessen in einem Altersheim. Die anderen bereiteten sich in Nachmittagsstunden âșmarxistisch-leninistischâč auf die Aufnahme in die FDJ vor â ich war nicht dabei und natĂŒrlich auch nicht in der FDJ. Das Orchester der Musikschule, in dem ich mit meiner Oboe vertreten war, spielte zu Feierstunden der Jugendweihe â bei diesen Auftritten mit einer Ausnahme ohne mich. Was auch immer anstand auf dem sozialistischen Erziehungsplan â ich nahm nicht teil.
Durchbrochen war diese Konsequenz dann allerdings durch die Teilnahme am ZV-Lager [Zivilverteidigung, Lager zur vormilitĂ€rischen Ausbildung, Anm. der Red.] in den Sommerferien von der 11. zur 12. Klasse: Beim VorgesprĂ€ch seitens der Schulleitung mit meinem Vater, meine Zulassung zur EOS betreffend, stellte dies die conditio sine qua non dar. Ich wollte das Abitur â der Preis war angesichts der enormen Diskrepanz zwischen innerer Einstellung und Ă€uĂerem Tun ein hoher. Die Realisierung war dennoch nicht ohne Komik angesichts dessen, dass allen bekannt war, dass ich die gesamte Veranstaltung vom Grunde her ablehnte: Ich belegte einen der ersten PlĂ€tze im theoretischen PrĂŒfungsteil am Ende des ZV-Lagers, in dem es u. a. um allgemeine Fragen zur ersten Hilfe zur Erlangung des DRK-Abzeichens ging, und wurde dafĂŒr beim Abschluss-Appell vor versammelter Mannschaft beglĂŒckwĂŒnscht.
Als Kind war ich nicht immer begeistert von der konsequenten Verweigerungshaltung meiner Eltern gegenĂŒber dem, was von (fast) allen anderen als selbstverstĂ€ndlich betrachtet und entsprechend »befolgt« wurde. Ich stand hier in einem Konflikt gegenĂŒber einem mich â unabhĂ€ngig von allen Gesellschaftssystemen â grundlegend prĂ€genden Wesenszug: lieber einen Konsens zu finden, anstatt in die totale Konfrontation zu gehen. Ich hatte sozusagen zwei Rollen nebeneinander: einerseits war ich die ordentliche, fleiĂige, engagierte, zuvorkommende SchĂŒlerin mit Bestnoten â andererseits war ich das Kind vom »Staatsfeind«. Das stellte ein »Grundsatzproblem« dar, das auch meine Direktoren an POS und EOS bemerkt hatten, und das sie meinem Vater in jeweils verschiedenen GesprĂ€chen nicht ohne ein gewisses Bedauern mitteilten: Ich brĂ€chte durchaus beste Voraussetzungen fĂŒr eine erfolgreiche Entwicklung im sozialistischen Erziehungssystem mit â wĂŒrden diese nicht dauerhaft durch die durchweg kritische Haltung meiner Eltern konterkariert.
Frauke Lietz 1989
So grundlegend anders meine Schritte gegenĂŒber »den anderen« bezĂŒglich gesellschaftspolitisch relevanter Entscheidungen waren, so wenig wirkte sich dies â in aller Regel â jedoch auf mein persönliches VerhĂ€ltnis zu meinen Klassenkameraden und Lehrern aus: Ich war wertgeschĂ€tzt und akzeptiert â im Prinzip war ich neben den »Gruppenratsvorsitzenden« bzw. der spĂ€teren FDJ-SekretĂ€rin eine Art »Klassensprecherin« â der »KlassenhĂ€uptling«, wie meine Grundschullehrerin, die mich sehr mochte, meinen Eltern einmal in einem Elternbesuch sagte. So bedauerten es Schulkameraden beispielsweise bei ihren Ăberlegungen, wer als NĂ€chstes fĂŒr den Vorsitz bei den Pionieren oder spĂ€ter in der FDJ gewĂ€hlt werden könnte, immer einmal wieder, dass sie mich wegen meiner Nichtmitgliedschaft nicht wĂ€hlen konnten. Mitunter empfanden sie meine Position durchaus auch als vorteilhaft: Im Unterschied zu ihnen hatte ich die Wahlfreiheit, Pioniernachmittage â die mitunter gĂ€hnend langweilig waren â zu besuchen oder nicht. (AuĂerdem konnte ich wegen meiner Nichtmitgliedschaft in den sozialistischen Jugendorganisationen nicht vergessen, das blaue oder rote Halstuch, das weiĂe Pionier- oder das blaue FDJ-Hemd zu tragen â was mir sicher des Ăfteren passiert wĂ€re und mir eine Reihe von Minuspunkten eingebracht hĂ€tte.) Auch auĂerhalb der Schule war ich in meine Klasse integriert â angefangen vom gemeinsamen Essen nach der Schule bei der Schulspeisung ĂŒber Einladungen zu Geburtstagen bis hin zur gemeinsamen Feier im Anschluss an die Jugendweihe, an der alle auĂer mir teilgenommen hatten.
Frauke Lietz 2009
Meine Meinung war akzeptiert, wenn ich z. B. VorschlĂ€ge fĂŒr Klassenfahrten oder das jĂ€hrliche Kulturprogramm machte, wurden diese zumeist von den anderen aufgegriffen und von uns gemeinsam realisiert. Auf diese Weise spielten wir z. B. beim Kulturprogramm der EOS ein ausgesprochen gesellschaftskritisches TheaterstĂŒck eines sowjetischen Autors â das allerdings sehr »harmlos« daherkam. Es ging â wenn ich mich richtig erinnere â um die Erziehung von BĂ€umchen einer Baumschule zu einem ordentlichen âșBaumkollektivâč und um die Störungen angesichts dessen, dass da ein kleines EichenbĂ€umchen nicht so gerade wuchs wie die anderen. Es hat mich bereits damals erstaunt, dass es diesbezĂŒglich keinen Ărger gab.
Eine echte Solidarisierung â die ich in diesem AusmaĂ nicht erwartet hatte â erfolgte dann jeweils anlĂ€sslich der Frage der Ăberreichung der Lessingmedaille fĂŒr gutes Lernen im Jahr 1986 zum Abschluss der 10. Klasse und 1988 zur Ăberreichung des Abiturzeugnisses. Angesichts dessen, dass ich im gesellschaftspolitischen Bereich nicht den »sozialistischen Vorgaben« entsprach, sollte ich zum Abschluss der 10. Klasse »nur« die Lessingmedaille in »Silber« erhalten â obwohl mir mit einem Zeugnis durchgĂ€ngig mit der Note Eins und einem »mit Auszeichnung« bestandenen Abschluss der 10. Klasse die Medaille in »Gold« zugestanden hĂ€tte. Als dies bei einem offiziellen Fahnenappell verkĂŒndet wurde, beschwerte ich mich vorn stehend darĂŒber bei einem neben mir stehenden MitschĂŒler aus der Parallelklasse, der bei gleichem Abschluss wie ich die goldene Medaille erhalten hatte. Daraufhin sprach dieser spontan den Direktor an, der die Medaillen gerade ĂŒberreicht hatte, und fragte diesen, wie dies denn sein könne. Auf einen solchen Einwand nicht vorbereitet, war der Direktor so irritiert, dass er zurĂŒck ans Mikrofon ging und den Anwesenden erklĂ€rte, dass ich auf jeden Fall einen genauso guten Abschluss hĂ€tte wie der MitschĂŒler. In der Konsequenz bekam ich zwar dennoch keine goldene Medaille, aber im Prinzip hatte der Direktor durch seine kurze Rede vor der versammelten Schule zugegeben, dass hier eine ungerechte Entscheidung getroffen worden war.
In der zwölften Klasse war mein Zeugnis dann so gestaltet, dass ich in StaatsbĂŒrgerkunde eine Zwei (ganz sicher meine humanistische â und also nicht sozialistisch konforme â Weltanschauung betreffend) und (zum GlĂŒck fĂŒr die Schule) auch in Sport nur eine Zwei geschafft hatte. So stand mir hier also von vornherein lediglich die Lessingmedaille in Silber zu. Allerdings befand der Direktor in einer Sitzung des GOL-Rates [Grundorganisationsleitung der FDJ, Anm. der Red.], in der es um die Nominierung der TrĂ€ger der Lessing-Medaille ging, dass bei den Versammelten doch sicher Konsens darĂŒber herrsche, dass ich keine Medaille erhalten sollte. Daraufhin meldeten sich tatsĂ€chlich die beiden GOL-Vertreterinnen aus meiner Klasse, da sie sich ĂŒber diese Haltung wunderten. Sie sprachen sich dafĂŒr aus, dass ich aus ihrer Sicht durchaus nominiert werden könnte. Der Einwand wurde zugelassen: als »Aufgabe« zur nĂ€chsten Sitzung sollten die beiden ausreichend GrĂŒnde fĂŒr ihre Meinung zusammentragen. Hierzu sprachen sie mich an und gemeinsam stellten wir ein ĂŒberzeugendes Paket mit Argumenten zusammen.
Dass ich diesen Part so ausfĂŒhrlich schildere, hat weniger damit zu tun, dass mir die Lessing-Medaillen â ob in Gold oder Silber â an und fĂŒr sich zwingend wichtig gewesen wĂ€ren, als vielmehr damit, dass es fĂŒr mich eine sehr wichtige und stĂ€rkende Erfahrung war, dass sich meine MitschĂŒler hier entsprechend ihren Möglichkeiten fĂŒr mich einsetzten â und dies angesichts der anderslautenden Positionierung der Schulleitung.
Nicht immer einfach war es fĂŒr Einzelne allerdings, ĂŒberhaupt mit mir befreundet zu sein â insbesondere, wenn sie Eltern hatten, die als Lehrer arbeiteten oder ParteisekretĂ€re waren. So riet die Mutter, die als Lehrerin an unserer Schule arbeitete, meiner besten Schulfreundin aus der ersten Klasse, den Kontakt mit mir doch besser einzuschrĂ€nken. Als Kind merkte ich nur, dass diese sich zurĂŒckzog â erst viel spĂ€ter erfuhr ich von diesem Hintergrund. Ein anderes Beispiel: Eine meiner besten Freundinnen spĂ€ter dann aus der Zeit in der EOS â deren Vater ParteisekretĂ€r war â musste sich sehr rechtfertigen, warum sie ausgerechnet mit mir befreundet sein mĂŒsse. Sie setzte sich darĂŒber hinweg. Die Freundschaft besteht bis heute. Und: Nach der Wende saĂen unsere beiden VĂ€ter dann, allerdings fĂŒr verschiedene Fraktionen, im Kreistag und in der Sache stimmten sie zuweilen sogar gemeinsam fĂŒr oder gegen vorliegende Beschlussvorlagen ab. Wirklich traurig fĂŒr mich war allerdings, als ich mich in einen MitschĂŒler aus meiner Parallelklasse verliebt hatte, der ebenfalls Sohn eines ParteisekretĂ€rs war. Die Kluft zwischen unseren absolut unterschiedlichen ElternhĂ€usern lieĂ sich nicht ĂŒberbrĂŒcken.
Wie erklĂ€re ich mir diese hohe Akzeptanz trotz allen Andersseins? Ein Grund liegt sicher darin, dass ich im Allgemeinen ĂŒberhaupt einen guten Draht zu anderen habe, aufgeschlossen und sehr offen bin â und zudem an und fĂŒr sich wirklich gern zur Schule gegangen bin, einfach weil ich gern neue Sachen aufnehme. Dann hatte ich sicher GlĂŒck mit meinen Klassenkameraden, sowohl in der POS als auch in der EOS â insgesamt »stimmte die Chemie«. Auch meine Lehrer verhielten sich mir gegenĂŒber zumeist »normal« und gaben mir das GefĂŒhl, dass sie mich in erster Linie als interessierte SchĂŒlerin mit viel SpaĂ am Lernen schĂ€tzten. Ich hatte nicht das GefĂŒhl, als Kind einer Dissidentenfamilie »geschnitten« zu werden. Das machte vieles einfacher. Hinzu kam eine strategisch wichtige Entscheidung meiner Mutter, die sehr darauf achtete, dass ich auf jeden Fall bei allen mit Arbeit verbundenen KlassenaktivitĂ€ten wie Kuchenbasaren, ArbeitseinsĂ€tzen, Altstoffsammlungen etc. dabei war â und so nicht nur an den »Highlights« wie Klassenfesten teilnahm. Dennoch war es insgesamt bedrĂŒckend und lĂ€hmend, in einem System aufzuwachsen, in dem eigenstĂ€ndiges Denken nicht erwĂŒnscht war, staatlich verordnete Unwahrheiten als Schulstoff vermittelt wurden und zu lernen waren und Menschen, denen es ernsthaft um dringend notwendige VerĂ€nderungen ging, als »Staatsfeinde« betitelt wurden und immer damit rechnen mussten, bei der Stasi und/oder im Knast zu landen.
Spannend wurde es allerdings mit dem Erscheinen von Michael Gorbatschow und seinen so grundlegenden Reform-vorschlĂ€gen auf der politischen BĂŒhne. Begriffe wie »Glasnost« und »Perestroika« wurden zu echten Hoffnungsstreifen am Horizont, die mir in ihrer RadikalitĂ€t bis dahin nicht vorstellbar gewesen wĂ€ren. Die Reden Gorbatschows zu lesen â u. a. in der Zeitschrift »Sputnik«, die die DDR-Oberen deshalb vorsichtshalber schnell verboten haben â war mindestens ebenso spannend wie die LektĂŒre von Krimis. Es brauchte eine Weile, bis ich glaubte, dass diese ĂnderungsansĂ€tze wirklich vom mĂ€chtigsten Mann der Sowjetunion kamen.
Was ganz sicher zu einem relativen »Waffenstillstand« mit der Schulleitung fĂŒhrte â bei Vorkommnissen, bei denen andere SchĂŒler oftmals mit deutlich dramatischeren Konsequenzen zu rechnen hatten â lag sicher daran, dass meine Eltern bereits so sehr »staatsfeindlich« waren, dass wir unterm Strich eine gewisse »Narrenfreiheit« hatten. Es bestand ohnehin so gut wie keine Hoffnung auf »erzieherische Ănderungserfolge«. GegenĂŒber evtl. Angriffen seitens der Lehrerschaft war ich zudem relativ gelassen, da ich wusste, dass meine Eltern postwendend mit guten Argumenten fĂŒr uns Kinder »auf der Matte« stehen wĂŒrden, sobald jemand uns zu nahetreten sollte. Dies scheint auch den Lehrern relativ bewusst gewesen zu sein â vermutlich gab es u. a. deshalb mir gegenĂŒber so gut wie keine grundlegenden persönlichen Angriffe, an die ich mich erinnern kann.
Hinzu kam sicher auch, dass meine Eltern eine Reihe wichtiger Kontakte zu einflussreichen Menschen im anderen Teil Deutschlands hatten, wie zu Journalisten vom »Stern« u. a. Da die DDR-Oberen immer auch darauf bedacht waren, ihr nach auĂen hin vertretenes Image als Rechtsstaat gegenĂŒber der BRD und international möglichst nicht zu beschĂ€digen, stand die Stasi hier vor einem Dilemma. Einerseits wollten sie meinen Vater, den sie in ihren Akten unter dem Decknamen »Zersetzer« fĂŒhrte, mit einem in deutscher GrĂŒndlichkeit erarbeiteten 25-Punkte-Plan nun ihrerseits »zersetzen« und also wirkungsunfĂ€hig machen. Das ging schlieĂlich so weit, dass der stellvertretende Minister des Ministeriums fĂŒr Staatssicherheit, Rudi Mittig, 1985 auf einer wichtigen internen Besprechung der Staatssicherheit in den damaligen drei Nordbezirken den Anwesenden mitteilen lieĂ, dass die Problemperson Lietz bis zum nĂ€chsten Parteitag »vom Tisch sein« mĂŒsse. Wörtlich war dieser Anordnung hinzugefĂŒgt: »Das ist ein Kampfauftrag!« (Nach der Wende erstattete mein Vater darauf Bezug nehmend Anzeige wegen Mordandrohung gegen unbekannt.) Andererseits durfte nach auĂen hin möglichst nicht erkennbar werden, dass die geplanten SchĂ€digungen meines Vaters von der Staatssicherheit ausgingen â sie war also penibel darum bemĂŒht, einen direkten Zusammenhang nicht erkennbar werden zu lassen. Dieses Dilemma wurde u. a. in einem Verhör meines Vaters im Jahr 1985 deutlich, als der verhörende Staatssicherheitsbeamte zu meinem Vater sagte: »Das möchten Sie wohl, dass wir Sie zum MĂ€rtyrer machen, aber den Gefallen werden wir Ihnen nicht tun.«
ZurĂŒck zu meinen Klassenkameraden: Trotz aller Akzeptanz blieb eine gewisse Fremdheit dennoch bestehen â waren wir doch zusĂ€tzlich zu unserer politischen Haltung auch in anderen Bereichen »anders« und in gewisser Weise exotisch: So sahen wir kaum fern und konnten deshalb hĂ€ufig ĂŒber das Fernsehprogramm des Vortags nicht mitreden, waren nicht »up to date« in der Musikszene, sondern hörten stattdessen deutsche Liedermacher und Musik, die die anderen weniger interessierte, oder sogar klassische Musik â fĂŒr viele gar nicht vorstellbar. Wir liefen in fĂŒr die anderen meist nicht zugĂ€nglichen »Westklamotten« herum und nicht mit der damals fĂŒr die MĂ€dchen spĂ€testens ab 14 Jahren ĂŒblichen Dauerwelle. Was fĂŒr viele angesichts der bewusst atheistischen Erziehung zudem kaum nachvollziehbar war, war die Vorstellung, dass jemand an Gott glauben könne. Da dies jedoch alles Punkte waren, die fĂŒr mich stimmten, machte mir mein Anderssein hier nicht viel aus. Im Gegenteil: Ich fand es gut, in diesen Punkten so zu sein, wie ich es damals war. Insbesondere deshalb, weil diese Unterschiede auf Begegnungen und Erfahrungen beruhten, die ich als ungemein bereichernd erlebte: Wir wurden in einem Elternhaus groĂ, das eine Art Salon war: Da die Kirche angesichts der starken EinschrĂ€nkungen im kulturellen Bereich seitens der DDR-Oberen eine wichtige Plattform fĂŒr KĂŒnstler aller Sparten war und mein Vater in diesem Punkt sehr offen und engagiert, hatten wir oftmals wirklich interessante GĂ€ste wie die Liedermacherin Bettina Wegner, die Schriftsteller Reiner Kunze, Stefan Heym, Elke Erb u. a., die auf Einladung meines Vaters zu Veranstaltungen der Studentengemeinde bzw. eines Studienkreises nach GĂŒstrow gekommen waren. Aber auch sonst waren jede Menge interessanter Leute bei uns zu Besuch und die GesprĂ€che bei gemeinsamen Mahlzeiten oftmals ĂŒberaus spannend.
Die Kehrseite der Medaille war allerdings, dass ich in den ersten Schuljahren wenig wirkliche Freundinnen mit Ă€hnlichen Interessen hatte. Eine echte »Erlösung« in diesem Punkt waren fĂŒr mich deshalb die kirchlichen RĂŒstzeiten. Mit 14 Jahren war ich zum ersten Mal mit meiner Schwester bei einer RadrĂŒstzeit, auf der wir Leute kennenlernten, die Ă€hnlich »tickten« wie wir. Wie wir waren sie auf der Suche nach einem Leben, das Sinn macht, nach einem Leben, in dem Denken und kritisches Nachfragen erlaubt ist, in dem etwas offen bleiben darf und man selbst auf der Suche ist nach einem Leben, in dem die Möglichkeit besteht, Dinge zu Ă€ndern, wenn sie denn nicht mehr sinnvoll sind. Da die meisten von ihnen in Rostock lebten, pendelten sie und wir fortan in unserer freien Zeit zwischen beiden Orten hin und her. Viele meiner bis heute engsten Freundinnen und Freunde kenne ich aus dieser Zeit. Neu war zudem, dass unsere Rostocker Freunde unser Elternhaus sehr spannend fanden: Das Erleben von Anderssein-Können, wie es unsere Familie praktizierte, ermutigte viele von ihnen, ihrerseits den »aufrechten Gang« zu wagen, und bestĂ€rkte so auch uns. Neben dem mit sozialistischen Parolen eingeengten Schulalltag wurden diese Freundschaften, aber auch vielfĂ€ltige weitere RĂŒstzeiten etc., die GĂŒstrower Studentengemeinde und andere »Kirchenevents« wie die Kirchentage zu echten Oasen und »Tankstellen«.
Was fĂŒr mich allerdings eine echte Kluft zwischen mir/unserer Familie und unserer Umwelt bedeutete, war die Tatsache, dass mir/uns so viel ĂŒber die eigentlichen VorgĂ€nge in der DDR »hinter den Kulissen« bekannt war, dass ich wusste, dass ein GroĂteil dessen, was wir z. B. im StaatsbĂŒrgerkunde- bzw. Geschichtsunterricht lernten und auch sonst in den Medien und auf ĂŒberall plakatierten SpruchbĂ€ndern Ă€hnlich den heutigen Werbebannern verlautbart wurde, schlichtweg falsch war. Vor diesem Hintergrund war fĂŒr mich das System DDR vom Grunde her nicht reformierbar, solange die herrschende Diktatur der sich als Vertreter der Arbeiter und Bauern bezeichnenden FunktionĂ€re Bestand hĂ€tte. In diesem Punkt unterschied ich mich in meiner Auffassung auch von den meisten meiner engeren Freunde, die zwar meinten, dass es in vielen Bereichen groĂen Ănderungsbedarf gab, aber das System nicht so grundlegend in Frage stellten.
In aller Regel Ă€uĂerte ich mich deshalb insbesondere im StaatsbĂŒrgerkundeunterricht oder im Geschichtsunterricht ĂŒber die Entwicklungen nach 1945 kaum â fast jeder Teilsatz, den die Lehrerin verlauten lieĂ, hĂ€tte einer »Korrektur« bedurft. In den Klassenarbeiten, in denen zu politischen Themen wie z. B. dem Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan eine Positionierung verlangt wurde, schrieb ich dann meist in der Einleitung »Die Meinung der DDR zu diesem Punkt ist, âŠÂ«. Zwischenzeitlich war ich selber deshalb im Unterricht nahezu vollstĂ€ndig verstummt, was sich dann aber auch wieder Ă€nderte. SchlieĂlich habe ich fĂŒr mich folgendes Verfahren insbesondere an der EOS entwickelt: Die grundsĂ€tzlichen Phrasen habe ich gelernt und in den Leistungskontrollen oft mit der Einleitung: »Im Abriss der SED wird gesagt, dass âŠÂ« wiedergegeben und ansonsten nicht weiter beachtet, mich aber zu speziellen Themen gut mit Fakten vorbereitet. So hatte ich angesichts der Thematisierung des 17. Juni 1953 kritische Ausschnitte aus dem Roman »FĂŒnf Tage im Juli« von Stefan Heym hierĂŒber vorher gelesen oder bez. des Einmarsches in die ÄSSR am 21. August 1968 einen Stapel von Zeitungen aus der DDR bzw. anderen sozialistischen »BruderlĂ€ndern« wie RumĂ€nien mit z. T. sehr kritischen EinschĂ€tzungen in die Schule mitgebracht, die mein Vater aus jener Zeit dokumentiert hatte. Mit Fragen, die sich jeweils auf die Artikel bezogen, stellte ich dann eine sich von der offiziellen Darstellung unterscheidende andere Sicht in den Raum. Dieses Verfahren fĂŒhrte dazu, dass meine Meldungen nicht mehr zugelassen wurden und meine damalige Klassen- und StaatsbĂŒrgerkundelehrerin einen umfassenden Stasi-Bericht schrieb. Kurzfristige Konsequenzen â wie eine Vorladung zum Direktor â hatte dies aber nicht.
Eine gute Erfahrung bei diesen meinen »Interventionen« stellte dar, dass meine Klassenkameraden, z. T. bis hin zu unserem Agitator â aus einem echten Interesse an der Sache â oftmals sehr engagiert in die Diskussion einstiegen. Niemals wurde die GlaubwĂŒrdigkeit meiner ĂuĂerungen von ihnen â zumindest nicht direkt â in Frage gestellt, sondern diese wurden eher durch zusĂ€tzlich kritische ĂuĂerungen und Fragen meiner MitschĂŒler unterstĂŒtzt.
Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. So arbeitete â laut Akten der Staatssicherheit â auf jeden Fall eine meiner MitschĂŒlerinnen als »Geheimer Mitarbeiter der Staatssicherheit« gegen mich. Und meine Klassen- und StaatsbĂŒrgerkunde-Lehrerin agierte als Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi. In dieser »Funktion« war sie daran beteiligt, dass ich den gewĂŒnschten Studienplatz fĂŒr Psychologie â mit dem Ziel als Musiktherapeutin zu arbeiten â nicht bekam. Nach der »erfolgreichen« Ablehnung wirkte sie zudem maĂgeblich darauf hin, dass ich generell keinen Studienplatz bekam. Hierzu ein Kommentar aus meiner Stasi-Akte: »Durch den gezielten Einsatz des IM konnte die Orientierung der L. auf eine Ausbildung im Bereich der Diakonie erfolgreich realisiert werden und die Ausbildung zum SonderschulpĂ€dagogen konspirativ verhindert werden.«
Diese »Laufbahn«, ĂŒber die ich auf Umwegen hĂ€tte Musiktherapeutin hĂ€tte werden können (ich hatte dazu bereits Absprachen mit der Musiktherapeutin des Ausbildungsbetriebes getroffen), war allerdings von kurzer Dauer. Nach nur einem Monat seit Beginn eines Praktikums als Voraussetzung fĂŒr die Ausbildung zur Psychatriediakonin war ich zufĂ€llig im Foyer der Humboldt-UniversitĂ€t in Berlin und las die mit groĂen Lettern vis ĂĄ vis vom Eingang gesetzten Worte von Karl Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu verĂ€ndern.« Dieser â im sozialistischen Kontext sicher anders gemeinte â Ausspruch sowie die (wie ich fand) erhabene Ausstrahlung der sehr ehrwĂŒrdigen HumboldtuniversitĂ€t â und ganz sicher auch die Tatsache, dass fast alle meine Freundinnen studierten â wurde zum Beginn einer neuen Phase in meinem Leben. Ich beschloss, mich fĂŒr das Studium der Theologie zu bewerben, und mir damit in der damals auf fĂŒnf Jahre festgesetzten Studienzeit die Chance auf eine echte Horizonterweiterung zu verschaffen. Es ging mir vor allem um ...