IV Die politische Vernunft und das Urteil über Gewalt
1. Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg …
… oder er verstellt ihr den Weg. »Glaube« steht hier nicht nur für den Glauben der Christen, sondern für alle vornormativen Überzeugungen, in denen sich Menschen über ihre regulativen Ideale verständigen.
Was lehrt also der christliche Glaube im Blick auf die politische Vernunft? Die Bergpredigt adressiert nicht die herrschende Politik und das für alle geltende Recht, sie ist dadurch sogar entlastet, die im Dekalog gebündelten Bestimmungen des jüdischen Gesetzes auf ihren moralischen Überschuss hin auszulegen, und begründet so eine messianische Ordnung der Liebe. Die Johannesoffenbarung dämonisiert den Staat und tröstet die von ihm Verfolgten und Unterdrückten. Und Römer 12–14 attestiert dem Staat neben der Ordnung der Liebe eine hochrangige gewaltgestützte Ordnungsfunktion und kennt anders als die Johannesoffenbarung keine Perversion des Politischen. Alle drei Dokumente sind offensichtlich je für sich genommen als Quellen nicht hinreichend für die Anlage einer theologischen politischen Ethik, am ehesten führt die Passionsgeschichte des vierten Evangeliums alle Aspekte zusammen, indem sie einen kaiserlichen Statthalter zeigt, der nicht der Richter ist, der er aber gerne wäre. Systematisch fasse ich zusammen: Gott liebt die Welt, weil er liebt, ungeachtet dessen, ob die Welt liebenswert wäre oder nicht. Deshalb geht es im Evangelium um die Erfahrung der Liebe Gottes aus der Erfahrung der Liebe Christi in der gütigen, gewährenden und leidensbereiten Liebesordnung von Gemeinden. Um die Welt geht es »nur« aus der Sicht der Erfahrung der Liebe Gottes. Dies ist keine Beschränkung, sondern eine Erweiterung, eine Transzendierung, die die Welt besser versteht, als sie sich selbst zu verstehen vermag. Welt ist theologisch zu denken in verschiedenen, sogar sehr kontroversen relationalen Modellen der Zeit, des Raumes, der Geschichte und weiterer symbolischer Bestimmungen und Ordnungen – Sprachen und Theorien, Lebenswelten und Institutionen –, aber stets unter der Königsherrschaft Christi. Die in das christliche Glaubensbekenntnis aufgenommene sessio ad dextram patris bezeugt die Macht Gottes in der Welt, »welche zu gleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus« (Luther, Predigten und Schriften 1527, WA 23, 133). Sie umfängt die Geschöpfe und verschafft ihnen damit Raum und Zeit und erweitert ihre Eigenständigkeit, sie selbst ist kommunikative und gewaltfreie Macht, die allein durch das schöpferische Wort regiert. Die von Gott eingesetzten politischen Mächte sind von Gott zur Wahrung einer guten Ordnung gewollt und eingesetzt und stützen sich dabei auch nach dem Maß des Guten auf physische Gewalt. Ich nannte dies den soteriologisch eingefassten, theonom und moralisch begründeten und vermutlich an der konkreten Situation der Gemeinden orientierten, politisch opportunistischen Pragmatismus des Apostels. Er bildet einen integralen Teil der Gemeindeparänese, widerspricht ihr also nicht, sondern bildet eine Erweiterung in Richtung auf einen wichtigen Bereich jenseits des innergemeindlichen Alltags. Begrenzt wird jener Opportunismus durch die allen paränetischen und parakletischen Weisungen gemeinsame Ausrichtung auf das Gute.
Weil der liebende und bittende, der leidende und lebendige Christus zur Rechten des Vaters sitzt, ist er uns immer und überall nahe. Auf der Grundlage dieses christlichen Credos soll eine erste thesenartige Positionsbestimmung als Rahmen für eine christliche Ethik des Politischen wie folgt ins Auge gefasst werden. Alle Menschen stehen unter dem Anspruch beider, sowohl der inner- als auch der außergemeindlichen Ordnungen, und beide Ordnungen sind trotz grundlegender Differenzen sowohl in der Höhe des Anspruchs als auch in der Wahl der Mittel gemeinsam auf das Gute ausgerichtet. Angesichts dieser Mischung von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten über die Grenzen völlig verschiedener symbolischer Formen und Hermeneutiken hinweg kann sich die christliche Theologie in der Sphäre des Politischen methodisch nur mittels Affinitäten, Entsprechungen und Korrespondenzen zwischen dem Guten des Liebesordnung und dem Guten der Gewaltordnung orientieren. Denn nur metaphorisch offene Weisungen und Mandatierungen erlauben eine Einheit von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten über die Grenzen völlig verschiedener symbolischer Formen hinweg. Nur mit dieser bescheidenen und vorsichtigen Haltung werden christliche Kirchen und Theologien den Herausforderungen des politischen Alltags gerecht, und nur ebenso behutsam und kritisch rezipieren und interpretieren sie auch die Bestände der politischen Philosophien und der politischen Ideengeschichte.
Es stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob solche Entsprechungen »klassisch« – analogia entis – entlang einer eher geschlossenen Seinsordnung oder »modern« – analogia relationis – entlang einer eher offenen Erkenntnisstruktur entwickelt werden und inwiefern in beiden Fällen »theologisch« – analogia fidei – aus der Erkenntnis der Offenbarung geschöpft werden soll. Man kann auch anders fragen: Wie kommt man in der Ethik von einer mythischen Figur zu einem logischen Schluss? Es funktioniert ganz offensichtlich nicht, Weisungen aus Äquivokationen oder vordergründigen Parallelen in diesem oder jenem Detail abzuleiten. Ein oft bemühtes, warnendes Beispiel ist der Analogieschluss von Karl Barth, aus der Rede von Jesus als Licht der Welt umstandslos auf ein Verbot der Geheimdiplomatie in der Politik zu schließen. Das ruft dann die Karikatur auf den Plan, die Geheimdiplomatie in der Politik wiederum mit dem Verweis auf das markinische Messiasgeheimnis zu verteidigen. Der opportunistisch-legitimatorische Analogieschluss überzeugt augenscheinlich nicht. Vielmehr können plausible Korrespondenzen nur so entwickelt werden, dass man innerhalb des Mythos aus dem Material zum Sinn aufsteigt und den Sinn mythisch formuliert. Das ist seit Platon im politischen Diskurs nicht unüblich. Erst wenn das gelungen ist, kann der Sinn sodann in Alltagssprache und -praxis oder in begrifflich-diskursiv gefasste Erkenntnis und für die öffentliche Repräsentation in künstlerisch virtuose Formen übersetzt werden. Erst dann kann der Abstieg in das jeweilige Material der symbolischen Formen des Politischen beginnen. Man wird vergeblich nach Analogien im logisch strengen Sinne suchen und durchaus starke Affinitäten zu schätzen lernen.
Wie das im Einzelnen gelingen kann, soll das folgende Beispiel zeigen. Die Entscheidung des vermutlich einflussreichsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, seine Dogmatik ausdrücklich »Kirchliche Dogmatik« zu nennen, unterstreicht den reformatorischen Grundsatz, die theologische Ethik u. a. von der Legitimation gesellschaftlicher Verhältnisse und politischer Macht zu lösen und eigenständig aus dem Begriff und der Lehre von der Kirche zu entwickeln und diese wiederum aus der Korrespondenz von Kirche und Gottesdienst. Diesen Weg hat Hans Richard Reuter, bis 2013 Professor für Theologische Ethik und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Universität Münster und einer der maßgeblichen Autoren der EKD-Friedensdenkschrift von 2007, fortgesetzt:
»Die Kirche […] kommt dadurch zustande, daß Menschen kraft des Heiligen Geistes verstehen, erkennen und bekennen, daß Gott im Leben und Sterben Jesu Christi die ganze Menschheit mit sich und so die Menschen untereinander versöhnt hat. Eine jede sichtbare Kirche ist deshalb dazu bestimmt, als vorläufiges Zeichen der Versöhnung der Menschheit mit Gott und der darin begründeten Versöhnung der Menschen untereinander zu leben. Sie ist nicht einfach Selbstzweck, denn sie ist nicht mit dem Reich Gottes identisch, sondern nur seine vorläufige Darstellung.« (Reuter, Die Bedeutung der kirchlichen Dienste und Werke und Verbände im Leben der Kirche, 45)
Die klassische biblische Textstelle hierfür lautet:
»So sind wir nun Gesandte für Christus, indem Gott durch uns ermahnt; wir bitten für Christus: Lasset euch versöhnen mit Gott!« (2Kor 5,20)
Wie eine Institution die universale Versöhnung konkret darstellen kann, läßt sich gut im Anschluss an die lutherische Bekenntnisformel CA VII an den gottesdienstlichen Sprach- und Symbolhandlungen verdeutlichen. Verkündigung und Feier der Sakramente als Kennzeichen der Kirche sind
»nicht exklusiv, sondern signifikativ zu verstehen: Sie definieren die Kirche nicht abschließend, sondern geben an, unter welchen Umständen man in jedem Fall darauf trauen darf, im Kontext menschlicher Interaktionen auf die Gemeinschaft der Glaubenden zu treffen.« (Reuter, 1996: Die Bedeutung der kirchlichen Dienste und Werke und Verbände im Leben der Kirche, 47)
Hinter diesen Ausführungen steht eine dreifache begriffliche Unterscheidung der Kirche. Die Kirche ist in erster Linie und wesentlich die geschichtlich unübersehbare, unabgrenzbare, als Ereignis der Versöhnung unverfügbare und insofern verborgene Gemeinschaft der Freigelassenen der Schöpfung. Alle diejenigen gehören zur Kirche im Sinne eines freien Reiches freier Individuen, die den Geist der Freiheit, wo immer er weht, erlebt haben und von ihm berührt sind. Autor, Gesetzgeber und stets neuer »Gründer« der Kirche ist der freie Geist, der dem, das nicht ist, ruft, dass es sei; er allein ist die »innere« Mitte der Kirche. Und als Wirkung solcher Berührung im Erfahrungszusammenhang der biblischen Überlieferung bildet sich die Kirche in zweiter Hinsicht als Bündnis zu gemeinsamem Darstellen und Verstehen dieser Erfahrungen. Menschen finden sich zusammen als äußerlich sichtbar handelnde – sittlich-moralische – Interpretationsgemeinschaft im Austausch und in der Inszenierung explizit kirchlicher Handlungen wie Predigt, Taufe, Abendmahl und der Pflege und Praxis implizit kirchentypischer Handlungen wie Bildung, Gerechtigkeit und Solidarität. Und keineswegs als Ergebnis irgendeines Missverständnisses oder einer Degeneration bildet sich drittens die Kirche unter dem Aspekt der für eine soziale Organisation mit erheblicher gesellschaftlicher Macht notwendigen Rechtssicherheit als ebenfalls sichtbare Rechtsgemeinschaft zur verlässlichen Verwirklichung des Auftrags der Christenheit nach bestimmten Schemata von Rechten und Pflichten samt entsprechender Amtsgewalten. Das Recht in der Kirche ist im protestantischen Verständnis zuallererst das Recht der Christen zur freien Auslegung des Evangeliums.
Die sichtbaren Gestalten sind Hinweise auf die verborgene Gestalt. Entscheidend für die Frage nach der Bedeutung der lebensweltlichen Geselligkeit und der institutionellen Formen im Leben der Kirche im weitesten Sinne – also etwa der organisierten Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, der Akademien, der kirchlichen und kirchennahen Wohlfahrtspflege etc. – ist nun, das von Reuter genannte Material genau zu betrachten, aus dem gewählt werden soll. Es handelt sich um Interaktionen und ihren Kontext. Einigen soll man trauen, anderen nicht. Die Verkündigung und die Feier der Sakramente sind also nicht um ihrer selbst willen da, sondern erfüllen ihren Sinn erst bei denen, die von ihnen inspiriert und aufgeklärt an die Sichtung des ja nicht anders als universal zu nennenden Materials der Interaktionen und Kontexte in ihrer ganzen Weite und Tiefe gehen. Es geht nicht nur um kirchlich verfasste Felder, sondern um jedes Wehen des Geistes Gottes. In jeder der drei Sinnebenen des Begriffs »Kirche« handelt es sich um einen Vollzug »mit anderen für andere«: Gottes Reich »in der Welt, nicht von der Welt«, die Verkündigung der Kirche an »alle Völker«, das Leben der Christen füreinander und andere, also für den nahen und fernen »Nächsten«.Welche Interaktionen und Kontexte kommen in die nähere Wahl? Vom Sprachakt der Predigt blicken wir hinüber in die Vielfalt der Bildungstraditionen; von der Taufe hinüber auf alle Akte der Anerkennung der unverlierbaren Menschenwürde und damit auf das politische Gerechtigkeitshandeln insgesamt; das Abendmahl schließlich öffnet uns die Augen für Arme, Kranke, Schwache, Stigmatisierte und Flüchtlinge in ihrer besonderen Bedürftigkeit, auch wenn wir ihnen rechtlich gar nichts schuldig sind. Genau hinzusehen, Beschämendes nicht zu verdrängen, Verdrängtem behutsam und doch beharrlich nachzugehen, macht den inneren Kern dieser Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung aus. Sie ist Kulturarbeit im eminenten Sinn. Die rituellen Symbole sind also Erkennungsmuster, die uns lehren, welche Begegnungen mit Recht das Prädikat »Kirche« in einer der drei Hinsichten verdienen und deshalb unsere religiöse Leidenschaft wecken. Wo es weder Bildung noch Anerkennung noch Solidarität gäbe, würde man das Reich Gottes vergeblich suchen; es müsste dort allererst hineingetragen werden, und zwar nicht anders als durch Bildung, Anerkennung und Solidarität.
Wie verstehen wir uns aber, wenn wir uns um Bildung, Anerkennung und Solidarität bemühen? Tun dies nicht auch andere? Gewiss, denn »wir« sind ja immer unterwegs zu erkennen, wer »wir« denn sind und wer – zuweilen ganz unverhofft – alles zu »uns« gehört. Wer glaubt, dass es so etwas wie Nächstenliebe im Sinne von Bildung, Anerkennung und Solidarität überhaupt gibt und dies in seinem Ursprung nicht selbst sichern zu müssen meint, der glaubt an das Reich Gottes und kann sich und die anderen auf diesem Wege als die Gemeinschaft der Glaubenden, als die Kirche verstehen. Er glaubt, dass Begegnungen in der ganz profanen Welt als Vollzüge »des wahren, des ewigen Lebens« existentiell bedeutsam sein können, und zwar gerade so, dass wir in Christus in der Solidarität aller Geschöpfe unaufgeregt menschlich und sterblich sein können. Nicht nur das »innere«, auch das »äußerliche« Leben der Kirche erstreckt sich immer weiter als die einzelne historisch gewachsene Kirchenorganisation. Das Leben jeder einzelnen Kirchenorganisation ist durch Orte kirchlichen Lebens in fließenden Übergängen verwoben mit der umgebenden sozialen Welt. Deshalb ist die Kirche dort, wo es »Gesellschaft« im modernen Sinne gibt, auch immer Teil dieser Gesellschaft und nimmt teil an deren Kontroversen und Konflikten um die Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit, aber eben geleitet durch die Erkennungsmuster der kanonischen Tradition. Zum Entwurf des Zusammenlebens in einer modernen Gesellschaft gehört die private Daseinsvorsorge, das Engagement für das Gemeinwesen, die Loyalität mit den Garanten der öffentlichen Ordnung, die Pflege der Kultur und der allgemeinen Wohlfahrt. Einzelne Bürger, Gruppen, Bewegungen, aber auch Betriebe, Kirchen, Verbände und Parteien beteiligen sich an dieser Aufgabe in unterschiedlicher Weise. Auch staatliche Träger wie Kommunen, Landes- und Bundesbehörden bieten zum Beispiel in Deutschland Infrastrukturen, Räume für kulturelle Entfaltung, soziale Dienstleistungen, dem Staat obliegt aber zuvörderst die Gewährleistung der Rechtspflege nach innen und außen und des daran gebundenen Gewaltmonopols sowie des Sozialstaatsgebots der Verfassung im Rahmen der für alle geltenden Gesetze. Die konkreten Maßnahmen erbringen am besten stets diejenigen, die in der Situation ohnehin »vor Ort« sind – die katholische Soziallehre nennt dies Subsidiarität; das kann Fall für Fall ganz unterschiedlich ausgelegt werden und bedeutet keineswegs automatisch einen Vorrang nichtstaatlicher vor staatlichen Instanzen. Es fordert, dass in allen Bereichen der Gesellschaft die »entferntere« Ebene nicht Aufgaben übernehmen soll, die die »nähere« bereits hinreichend erfüllen kann. Eine bunte Vielfalt – in der Wohlfahrtspflege Gemeinwohlpluralismus genannt – ist überall besser als ein Zentralismus mit wenigen mächtigen Blöcken. Gleichzeitig stellt das Prinzip der Solidarität einen Gegenpol dar, der verhindert, dass »den einzelnen und kleineren Gemeinschaften, insbesondere den Familien, Lasten aufgebürdet werden, die ihre Lebensmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Gliedern der Gesellschaft erheblich beschränken. Gerade die Schwächeren brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität und Subsidiarität gehören also zusammen und bilden gemeinsam ein Kriterienpaar zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.« (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutsch land / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997: Gemeinsames Wort der Kirchen »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit«, Ziff. 121)
Haben nun christliche Kirchen in vielen Ländern an der Entwicklung und Ausdifferenzierung moderner Gesellschaftsentwürfe kräftig mitgewirkt, so stehen sie vor der Frage, ob sie sich dort, wo diese Gesellschaftsentwürfe offensiv und mit all den damit verbundenen Chancen und Ri...