1.DEZEMBER 1930: HEIDELBERG UND BERLIN – KOINZIDENZ DER EREIGNISSE
Für den Dezember des Jahres 1930 können im Rückblick zwei koinzidente Ereignisse an unterschiedlichen Orten beschrieben werden. In beiden geht es inhaltlich um den Modus der Erinnerung an den zurückliegenden Ersten Weltkrieg sowie um die Haltung der Kirche zum Krieg. Die Koinzidenz ist in der Bedeutung beider Ereignisse hinsichtlich des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock gegeben.
1.1.HEIDELBERG
An der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg ist der Lehrstuhl für Praktische Theologie (Nachfolge Johannes Bauer) wieder zu besetzen. Im Dezember 1930 ergeht nach einstimmigem Beschluss der Fakultät der Ruf an Günther Dehn in Berlin.1 Dehn (1882–1970) ist seit 1911 Pfarrer an der Reformationskirche in Berlin-Moabit, einer Arbeitergemeinde. Nach dem Krieg engagierte er sich bei den Religiösen Sozialisten. Er bemühte sich besonders um die Jugendlichen aus den Arbeiterfamilien, erkundete und beschrieb deren Situation in kleineren Veröffentlichungen. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster verlieh Dehn am 31. Juli 1926 die Ehrendoktorwürde für seine praktisch-theologische Jugendarbeit. Große Beachtung fand sein 1929 erschienenes Buch Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarierjugend.
Dehn nimmt den Ruf nach Heidelberg am 5. Januar 1931 an. Daraufhin lanciert der Herausgeber der nationalistisch orientierten Zeitschrift Eiserne Blätter, Pfarrer Gottfried Traub, tendenziöse Pressenotizen über einen Vortrag Dehns in die Öffentlichkeit. Am 6. November 1928 hatte dieser auf Einladung seines Freundes Gerhard Jacobi im Gemeindehaus der Ulrichskirche in Magdeburg einen Vortrag über »Kirche und Völkerversöhnung« gehalten. In der Folge werden über Äußerungen Dehns in seinem Vortrag wahre, v. a. aber unwahre Behauptungen verbreitet. Insbesondere wird kolportiert, Dehn habe die Gefallenen des Weltkriegs als Mörder bezeichnet und er habe sich gegen die Aufstellung von Ehrenmälern für Gefallene in Kirchenräumen ausgesprochen. In der Folge kommt es zu etlichen Aktionen nationalistischer Studenten und zu zahlreichen Protestbekundungen in der Presse gegen die Berufung Dehns. Daraufhin fasst die Heidelberger Fakultät am 26. Januar 1931 mehrheitlich den Beschluss, die Berufung Dehns nach Heidelberg nicht mehr aufrecht zu erhalten. Allein der Neutestamentler Martin Dibelius spricht sich in einem Sondervotum für die Beibehaltung der Berufung Dehns aus. Am 28. Januar folgt der engere Senat der Entscheidung der Fakultät und am Tag darauf erklärt Günther Dehn seinen Verzicht auf die Heidelberger Professur. Bei einer Versammlung der Heidelberger Theologiestudenten spricht nun eine Mehrheit der Anwesenden Dehn ihr Vertrauen aus. Auch aus der Professorenschaft wird Kritik an dem Verfahren geübt. 14 Professoren, darunter Walter Jellinek, Gustav Radbruch und Karl Jaspers, verfassen einen »Protest gegen die Zurücknahme einer bereits erfolgten Berufung«.2 Und am 8. März erscheint in der Presse eine von 27 Heidelberger Professoren unterschriebene Ehrenerklärung für Dehn.
Unmittelbar nach Dehns Verzicht auf die Heidelberger Professur wird er vom preußischen Kultusminister auf eine praktisch-theologische Professur an der Theologischen Fakultät in Halle/Saale berufen. Letztlich sollte sich auch die Wahrnehmung dieser Professur aufgrund starker Proteste nationalistischer Studentenkreise sowie des Widerstandes innerhalb der Fakultät und der Universität als nicht möglich erweisen.3
Nach dem Beschluss der Heidelberger Theologischen Fakultät vom 26. Januar 1931 hat es dort verschiedene Listen mit Berufungsvorschlägen gegeben, bis schließlich der Ruf an den Rostocker Praktischen Theologen Renatus Hupfeld ergeht und von diesem am 20. Juni 1931 angenommen wird.4
Die Berufung Hupfelds erfolgt am 13. Juli 1931. Damit ist der Lehrstuhl für Praktische Theologie in Rostock vakant geworden. Bereits am 17. Juli 1931 beschließt die Rostocker Fakultät unter dem noch amtierenden Dekan Hupfeld eine Dreierliste für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Praktische Theologie: Platz 1: Schreiner, Helmuth; Platz 2: Fendt, Leonhard; Platz 3: Schlingensiepen, Johannes.5
1.2.BERLIN
Ebenfalls im Dezember 1930 findet in Berlin vor dem Landgericht Moabit ein Prozess statt, der in der Presse großes Aufsehen erregt. Angeklagt sind der Maler und Graphiker George Grosz und der Verleger Wieland Herzfelde. Grosz hatte einen Bühnenentwurf für die Aufführung des Stückes »Der brave Soldat Schwejk« angefertigt. Eine Mappe mit 17 Zeichnungen von Grosz, in diesem Zusammenhang entstanden, waren unter dem Titel Hintergrund im Verlag von Herzfelde veröffentlicht worden. Zeichner und Verleger wurden daraufhin von dem Berliner Polizeipräsidenten wegen Verstoßes gegen § 166 StGB angeklagt. Besonders drei Darstellungen werden beanstandet: »Bild Nr. 2 zeigt einen Pfarrer, der zwischen zwei Offizieren und vor der Bibel auf der Nase ein Kreuz balanciert. […] In Bild 9 spuckt ein Pfarrer von der Kanzel Granaten, Gewehre und Kanonen aus. Grosz betitelte diese Zeichnung ›Ausschüttung des Heiligen Geistes‹. Das Bild 10 zeigt Christus mit der Gasmaske und Soldatenstiefeln am Kreuz. Darunter stehen die Worte: ›Maul halten und weiterdienen‹.«6
Nachdem 1928 in erster Instanz ein Schöffengericht eine Geldstrafe verhängt hatte, kam es in der Berufungsverhandlung 1929 vor dem Landgericht zu einem Freispruch. Infolge der eingelegten Berufung wird eine erneute Verhandlung bei der Vorinstanz erforderlich. Diese Verhandlung findet am 3. und 4. Dezember 1930 statt. Auch sie endet mit einem Freispruch, dem sich schließlich auch die wieder angerufene Berufungsinstanz, unter Verhängung von Auflagen, anschließt.
Zu der abschließenden Verhandlung vor dem Landgericht sind von dem Gericht acht Sachverständige geladen worden. »Auf Bitten des Gerichts wurden zwei Gutachter von Seiten der Kirche aufgeboten: Lic. Dr. Helmuth Schreiner, Vorsteher des Evangelischen Johannesstifts Berlin-Spandau und für das Bischöfliche Ordinariat Professor Wagner (Breslau). Daraufhin entschloß sich die Verteidigung ebenfalls Gutachter zu benennen und zwar: Pfarrer August Bleier von den religiösen Sozialisten und der VdF [Vereinigung der Freunde für Religion und Völkerfrieden – FHB], den Linkskatholiken Walter Dirks von der ›Rhein-Mainischen Volkszeitung‹, den Quäker Dr. Hans Albrecht sowie den Pazifisten Harry Graf Kessler.«7 Weiterhin werden vom Gericht gehört der Kunsthistoriker und Reichskunstwart Dr. Erwin Redslob sowie der Jurist und Mitglied des Reichstages Prof. Dr. Kahl.
Diese Verhandlung wird von einem großen öffentlichen Interesse begleitet. »Der große Schwurgerichtssaal ist überfüllt von einer sachverständigen und interessierten Hörerschaft«.8 In der Berichterstattung wird insbesondere auf das Auftreten des »Abgesandten« der evangelischen Kirche, Schreiner, eingegangen. Pfarrer Schreiner, so heißt es da, »hält sich für verpflichtet, zunächst festzustellen, daß er sein Gutachten nicht auf Grund kirchenbehördlicher Instruktionen abzugeben gedenkt«.9 In einer anderen Zeitung wird unter dem Titel Kirchenvertreter gegen Kunst u. a. berichtet: »Pfarrer Schreiner erklärte, das Kreuz sei für jeden Christen die Grundoffenbarung Gottes, und wer es verächtlich mache, beschimpfe damit die kirchliche Gemeinschaft. Allerdings sei an dem Urteil eines weltlichen Richters über diese Dinge die Kirche an sich in viel geringerem Maße interessiert als der Staat.«10 Für den Gutachter Schreiner steht außer Zweifel, dass die Tendenz der Bilder und der Eindruck, den diese erwecken, »das religiöse Gefühl des Christen und die Einrichtungen der Kirche aufs tiefste verletzen und dadurch eine Schädigung der Volksgemeinschaft heraufzuführen geeignet sind«.11
Von den anwesenden Pressevertretern wird über diesen Prozess und seinen Verlauf mit großer Öffentlichkeitswirkung berichtet. Dabei wird auch immer wieder Pastor Dr. Lic. Helmuth Schreiner erwähnt. Eben dieser sollte nur ein halbes Jahr später den Ruf an die Theologische Fakultät der Universität Rostock auf die Professur für Praktische Theologie erhalten.
Es stellt sich die Frage: Was konnte man zu diesem Zeitpunkt von Pfarrer Lic. Dr. Helmuth Schreiner wissen, über sein Amt als Vorsteher des Johannesstiftes Berlin-Spandau hinaus? Dem soll in dem folgenden Kapitel 2 nachgegangen werden.
2.HELMUTH SCHREINER – VOM THEOLOGIESTUDIUM IN LEITUNGSÄMTER DER DIAKONIE
Helmuth Schreiner wurde am 2. März 1893 in Dillenburg (Provinz Hessen-Nassau) geboren. Der Vater Ferdinand Schreiner war Seminarlehrer in Dillenburg; die Mutter Dorothea, geb. Klingelhöffer, Hausfrau. Die Familie lebt in Dillenburg in einem Haus in der Sophienstraße. Helmuth Schreiner ist hier gemeinsam mit drei Schwestern und einem Bruder aufgewachsen. Er besucht die Schule in Dillenburg und legt am dortigen Gymnasium im März 1911 das Abitur ab.
Helmuth Schreiner (1921) Foto: ULB Münster, N. Schreiner 111.002.
2.1.AUF DEM WEG ZU EINER CHRIST-DEUTSCHEN POSITION – DER BILDUNGSWEG
2.1.1.Theologiestudium und Examina
Im Sommersemester 1911 beginnt Helmuth Schreiner das Theologiestudium in Halle/Saale. Hier ist bereits sein älterer Bruder Wilhelm als Theologiestudent eingeschrieben. In Halle machen Persönlichkeit und Theologie des Dogmatikers Martin Kähler einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Studenten. Drei Vorlesungen hat Schreiner noch bei Martin Kähler hören können, bevor dieser im Herbst 1912 stirbt: »Geschichte der Dogmatik im 19. Jahrhundert«; »Dogmatik I« und »Das maßgebende Ansehen der heiligen Schrift«. Daneben belegt Schreiner v. a. Veranstaltungen von Wilhelm Lütgert (Johannesevangelium; Synoptiker; Leben Jesu; ein neutestamentliches Seminar; aber auch: Religiöse Bewegungen der Gegenwart).12
Von Halle wechselt Schreiner zum Wintersemester 1912/13 an die Theologische Fakultät in Berlin. In Berlin hört Schreiner u. a. »Dogmengeschichte« bei Harnack und ist Teilnehmer an der »Sozietät für systematische Theologie« von Reinhold Seeberg. Möglicherweise ist er hier mit dessen sozialethischen Ideen bekannt geworden. Dann kehrt er für zwei Semester nach Halle/Saale zurück. Hier hört er bei Lütgert »Ethik« und nimmt an dem systematischen Seminar teil, das Lütgert und Karl Heim gemeinsam anbieten. Bei Heim hört er »Dogmatik I« und bei Kattenbusch »Geschichte der protestantischen Theologie«. Das letzte Semester, Sommersemester 1914, verbringt er in Bonn. Über Motive für die Studienortwechsel ist nichts Genaues bekannt.13 Insgesamt scheint Schreiner während des Studiums einen Schwerpunkt in der Systematischen Theologie, im Neuen Testament, aber auch in den Herausforderungen durch Religiös...