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EINFÜHRUNG
Religionspädagogik in einem Lehrwerk Evangelische Theologie vorzustellen und zu entfalten, heißt, sie in evangelischer Perspektive zu beschreiben. Das ist keineswegs nur als pragmatische Entscheidung zu begreifen, sondern nimmt ernst, dass es Religion »niemals abstrakt«, quasi »als religiöses ›Esperanto‹« gibt, sondern nur in »Gestalt einer konkreten, empirischen Religion«1. Deshalb kann es auch im Nachdenken über darauf bezogene Fragen des Lehrens und Lernens nicht eine einzige Religionspädagogik geben. Vielmehr schlagen sich in den religionspädagogischen Entwürfen immer auch die Spezifika bestimmter religiöser Positionierungen und Rückbindungen nieder.
1.1 BEGRIFFLICHE ANNÄHERUNGEN
Entstanden ist der Begriff Religionspädagogik im Protestantismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, fand aber seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch im Katholizismus Verwendung und wird dort bis in die Gegenwart hinein für den Bereich schulischen Lernens benutzt. Inzwischen wird er auch im Bereich des orthodoxen Christentums, des Judentums und des Islams angewendet,2 so dass von »Religionspädagogik im Plural«3 gesprochen werden kann.
Dabei ergeben sich innerhalb der unterschiedlichen religionspädagogischen Entwürfe gemeinsame Fragestellungen und Profilierungen. Sehr deutlich zeigt sich das in der Entwicklung der evangelischen und katholischen Religionspädagogik, die – »besonders seit den 1970er Jahren« – »weitgehend parallel verläuft«4, aber doch – vor allem in ihrer kirchentheoretischen Rückbindung – ihre Spezifika aufweist. Auch zu den Religionspädagogiken anderer Religionen und Konfessionen ergeben sich vielfältige Bezüge. Dabei sind es vor allem die gemeinsamen Aufgabenfelder (das betrifft besonders den schulischen Religionsunterricht) sowie die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen (hier wäre das interreligiöse Lernen zu nennen), die reflektiert werden. Allerdings ist hier auf »sehr unterschiedliche Entwicklungsstände in der Disziplinentwicklung«5 zu verweisen. Religionspädagogische Gesamtentwürfe im Sinne einer modernen Theorie christlich-orthodoxer, jüdischer oder muslimischer Bildung liegen für Deutschland noch nicht vor, so dass vergleichende Perspektiven in dieser Richtung nur auszugsweise eingeholt werden können.6
Alle Religionspädagogiken eint, dass sie religiöse Lehr- und Lernprozesse reflektieren, also als Theorie einer Praxis zu verstehen sind. Insofern bleibt als erstes Zwischenergebnis festzuhalten: Religionspädagogik ist die Theorie religiösen Lehrens und Lernens.
1.1.1 RELIGIÖSES LEHREN UND LERNEN IM MODUS VON BILDUNG, ERZIEHUNG UND SOZIALISATION
Religiöses Lernen geschieht – wie jegliches Lernen – nicht ausschließlich in organisierten und intentionalen, also absichtsvoll arrangierten Settings, sondern auch »spontan, ungeplant und nebenbei«7. Für Ersteres steht in prominenter Weise die Schule und für das Feld religiösen Lernens der Religionsunterricht. Auch die Gemeinde mit ihrer Konfirmandenarbeit ist hier zu nennen. Letzteres findet sich eher in der Familie, insofern Kinder im alltäglichen Vollzug am Beispiel ihrer Bezugspersonen bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen quasi nebenbei lernen. Allerdings ist beides auch miteinander verwoben. In der Schule beispielsweise wird eben nicht nur das gelernt, was in Lehrplänen fixiert ist. Vielmehr bilden Personen, Räume, Strukturen und Ordnungen ein eigenes Curriculum, also eine Art »heimlichen Lehrplan«8, der den eigentlichen Lehrplan unterstützen, aber auch konterkarieren kann. Zudem ist zu berücksichtigen, dass dieselben intentional wie nichtintentional bestimmten Voraussetzungen bei unterschiedlichen Kindern zu verschiedenen Ergebnissen führen können. Denn Lernprozesse brauchen Impulse – ganz gleich ob sie bewusst oder unbewusst angestoßen werden –, aber sie verlaufen jeweils spezifisch, insofern die Lernenden diese Impulse individuell verarbeiten. Alle drei Aspekte müssen deshalb gleichermaßen im Blick sein. Sie markieren quasi drei Modi des Lernens, die zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Insofern lässt sich präzisierend festhalten: Religionspädagogik ist die Theorie religiösen Lehrens und Lernens im Modus von Bildung, Erziehung und Sozialisation.
Mit dem Bildungsbegriff, einem typisch deutschen und erst im 18. und 19. Jahrhundert aufkommenden Terminus, rückt der Einzelne in seiner Selbsttätigkeit und Selbstreflexivität in den Mittelpunkt, und das nicht nur im Blick auf sein Wissen. »Bildung meint Welterschließung, und diese beginnt in der frühesten Kindheit.«9 Mit PETER BIEHL (1931–2006) ließe sich formulieren: »Bildung umfaßt den lebenslangen, prinzipiell offenen Prozeß der Subjektwerdung des Menschen. Subjektwerdung vollzieht sich in Individualität, Sozialität und Mitkreatürlichkeit.«10
Bildung nimmt also den Lernenden über die individuelle Perspektive hinaus immer auch in seiner sozialen und kontextuellen Einbindung in den Blick. So verstandene Bildung steht in einer gewissen Spannung zur Ausbildung, wie sie in den Bildungsinstitutionen unserer Gesellschaft stattfindet. Die persönliche Entfaltung des Menschen ist zwar nicht ohne von außen kommende Anstöße denkbar, »sperrt sich aber gegen vorgeordnete Autorität, Zeitdruck und Effizienzdenken ebenso wie gegen vorgegebene Lernstoffe und Lernziele«11. Zur Bildung gehören Freiheit und die Möglichkeit, in unterschiedlichen Situationen eigenständige Entdeckungen machen zu können. Alles im Leben kann bildend wirken, »faktisch tut das aber vor allem die intensive Begegnung, die eine innere Resonanz auslöst und als bedeutsam erfahren wird« (45). Religiöse Bildung hat dementsprechend eine »persönlich aus-geformte bzw. sich ausformende Religiosität« (46) im Blick. Insofern handelt es sich hier nicht nur um einen deskriptiven, sondern um einen normativen Begriff, worauf später noch zurückzukommen sein wird.
Einen anderen Akzent setzt der Erziehungsbegriff. Die damit bezeichnete Tätigkeit kann als Reaktion auf das Phänomen von Geburt und Tod verstanden werden. »Um die Gattung über den physischen Tod ihrer Mitglieder hinaus zu erhalten, entsteht […] eine gesonderte Tätigkeit, welche dieses geschichtlich-gesellschaftliche Erbe erhält […]. Dabei stellt sich Erziehung zunächst als Vermittlung des nichtgenetischenErbes durch die ältere Generation an die jüngere dar.«12 Der Erziehungsbegriff nimmt religiöses und christliches Lernen also von vornherein als interpersonales Geschehen in den Blick, wobei der Intentionalität, also der bewussten und zielgerichteten Einwirkung, ein besonderer Stellenwert zukommt. Auch hier ist das Subjekt ins Zentrum gestellt, weshalb Erziehung eine Doppelsinnigkeit auszeichnet. Sie setzt sich aus zwei Tätigkeiten zusammen, aus Aneignung und Vermittlung, wobei »die individuelle Verfasstheit des Zöglings, sein Modus« (73) zu berücksichtigen ist. Von hier aus kommen auch die Ortsbedingungen in den Blick. Denn »Erziehung lässt sich als ein Orthandeln begreifen, das Orte schafft, auf solche aufmerksam und sie zugänglich macht oder auch verschließt« (74). Man könnte hier – in Ergänzung zur Intentionalität, die an ein Sozialverhältnis gebunden ist, von der funktionalen Seite der Erziehung sprechen, insofern über bestimmte Verhältnisse Wirkungen erzielt werden sollen. »Subjekte können sich durch die Aneignung der Ortsbedingungen und der an diesen gegebenen sozialen Strukturen entwickeln, indem sie die Kontrolle über ihre Bewegungen in diesen Räumen gewinnen.« (74) Eine solche Sichtweise weitet den Erziehungsbegriff aus und geht in den Sozialisationsbegriff über, indem alle »Auswirkungen, die von sozialen, personalen und gegenständlichen Umwelten auf die Person ausgehen, etwa auch die ›unerwünschten Wirkungen‹ von Erziehungsinstitutionen«13 thematisiert werden. Mit dem Terminus Sozialisation wird also die Entwicklung der Persönlichkeit im sozialen und kulturellen Kontext beschrieben. Wie beim Bildungsbegriff wird damit die Gesamtheit des Lebenslaufs in den Blick genommen, dies allerdings nicht in der ausschließlichen Fokussierung des Subjekts, sondern »im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft« (80). Sozialisation als lebenslanger Prozess umfasst verschiedene Phasen. »Der primären, familialen Sozialisation folgt die sekundäre, Bildungs- und Ausbildungszeiten umfassende des Heranwachsenden und schließlich die tertiäre Sozialisation des Erwachsenen bis zum Alter.« (85) Dies kann jedoch aufgrund der Flexibilisierungen der Biographie deutlich divergieren.
1.1.2 RELIGIÖSES LEHREN UND LERNEN IN EVANGELISCHER PERSPEKTIVE
Dass es trotz gemeinsamer struktureller Herausforderungen in den unterschiedlichen Modi religiösen Lehrens und Lernens sowie – damit verbunden – trotz vergleichbarer Bezugnahmen auf erziehungswissenschaftliche Diskurse zu unterschiedlichen Gewichtungen und Profilierungen in den einzelnen Religionspädagogiken kommt, hat mehrere Ursachen. Zum einen wirkt sich hier aus, dass pädagogisches Handeln in seiner Praxis nie nur wahrgenommen, sondern immer auch verbessert werden soll. Die dafür zu entwickelnden Leitbegriffe wechseln, was zu einem großen Teil an den Herausforderungen liegt, die der Kontext mit sich bringt. Zum anderen spielen immer auch theologische Perspektiven eine grundlegende Rolle. Wenn es Religion nie an sich, sondern nur in Gestalt verschiedener Religionen gibt, kann es auch keine einheitliche Religionspädagogik geben, sondern nur Theorien religiösen Lehrens und Lernens in bestimmten Perspektiven. In diesem Lehrbuch soll die evangelische Perspektive entfaltet werden, und zwar nicht primär im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit, sondern im Rekurrieren auf das Evangelium als »maßgeblichen Bezugspunkt evangelischer Theologie«14. Deshalb ist ergänzend einzufügen: Religionspädagogik ist die Theorie religiösen Lehrens und Lernens im Modus von Bildung, Erziehung und Sozialisation in evangelischer Perspektive.
Die diese Grundrichtung aufnehmende religionspädagogische »Leitfrage« lautet demensprechend, »wie eine das Christliche in Anspruch nehmende Praxis ›deutlicher evangelisch‹ werden könnte«15. Anstöße dazu kommen aus all denjenigen Diskursen, die diese Intention unterstützen, und sind nicht von ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit ab hängig. »Weder die Wissensbestände noch die Adressaten einer Religionspädagogik in evangelischer Perspektive müssen ›evangelisch‹ sein.«16
In dieser Grundtendenz sind auch die reformatorischen Impulse aufzunehmen und zu würdigen.17 Sie geben dem religionspädagogischen Nachdenken eine eigene Prägung, insofern sie eine spezifische Art des Zugangs zum Evangelium beschreiben.
Religionspädagogisch ist die Offenlegung der eigenen Zugänge von entscheidender Bedeutung, wird dadurch doch eine Stoßrichtung markiert, mit der Gewichtungen vorgenommen und Materialien geordnet werden. Ein besonderes Gewicht erhält dies dadurch, insofern evangelis...