1.EINLEITUNG
Wenn Kinder Bilder von Dörfern oder Städten malen, dann ragt meistens zwischen allerlei windschiefen Häusern irgendwo ein Kirchturm empor. Ein spitzes Dach und eine Turmuhr reichen als Erkennungsmerkmale. Vielleicht nimmt noch ein Kreuz auf der Turmspitze Platz. Die »Kirche im Dorf lassen« verweist gleichsam sprichwörtlich auf den angestammten Ort dieses Gebäudes und steht synonym für Normalität und Bodenhaftung. Und nicht nur im Dorf, auch in der Stadt prägen die Kirchen bis heute ganz selbstverständlich die Silhouette – selbst wenn so mancher Wolkenkratzer sie mittlerweile an Höhe überragt. Natürlich, die Kirche gehört dazu, zum Ort, zu den Menschen! Was also soll eine Studie über die Kirchengemeinden in Dorf und Stadtteil?
Offensichtlich geht es bei dieser Frage nicht um eine räumliche, sondern um eine gesellschaftliche Positionsbestimmung: Welche Rolle haben Kirchen für den sie umgebenden Sozialraum, sei es im Dorf oder in der Stadt? Sind sie bloß da, weil sie schon immer da waren? Steinerne Zeugen einer längst vergangenen, frommen Epoche – heute nicht mehr als Anlaufstellen für einsame Hochbetagte und gläubige Anachronisten? Oder aber sind die Kirchen aktive gesellschaftliche Akteure im Ort, deren Handeln über die Kirchenmauern und die schrumpfende Gruppe an Mitgliedern hinausragt?
Kirche und Zivilgesellschaft – ein neu entdecktes Thema
Dass diese Frage nicht nur für Kirchenvertreter1 relevant ist, zeigt sich am Beispiel des kirchlichen Engagements im Rahmen der sogenannten »Flüchtlingskrise« im Jahr 2015: Die humanitären Hilfsleistungen von Kirchengemeinden, wie zum Beispiel Kleiderspenden, die Organisation von Sprachkursen oder Hilfe bei Behördengängen, haben genauso wie die politische Positionierung von Pfarrern und Bischöfen die mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Welche Rolle spielen Kirchen im Gemeinwesen? Wie weit sollen sie sich in politische oder gesellschaftliche Debatten einmischen?
Das Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft ist ein Thema, das in den letzten Jahren sowohl in kirchlichen wie auch wissenschaftlichen Diskursen eine breite Rezeption erfahren hat. Während die Zivil- oder Bürgergesellschaft seit Jahrzehnten sowohl in der Forschung als auch in der Politik ein Dauerbrenner ist, ist das Interesse an der Kirche in diesem Zusammenhang noch recht neu. Diese »Goldgräberstimmung« bezüglich der zivilgesellschaftlichen Bedeutung von Kirche kann dabei – je nach Blickwinkel – aus ganz unterschiedlichen Motiven erklärt werden.
Aus religionssoziologischer Perspektive berührt die Beziehung zwischen Kirche und Zivilgesellschaft die Kernfrage der Disziplin, nämlich die nach dem Ort von Religion in modernen Gesellschaften (Pollack 2002; Pickel 2011a). Dazu muss man wissen, dass die religionssoziologische Forschung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend durch das Säkularisierungsparadigma dominiert wurde. Demnach würden modernisierungsbedingte Prozesse der Rationalisierung, Pluralisierung oder funktionalen Differenzierung die soziale Relevanz von Religion immer weiter verringern, so die gängige These. In der entzauberten Zukunft würde die Religion vielleicht nicht aus der Welt verschwunden sein; für die soziale Ordnung einer Gesellschaft wäre sie jedoch nicht mehr von Bedeutung (exemplarisch: Wilson 1982; Bruce 2002; Berger 1967; eine ausführliche Bibliographie findet sich zudem bei Pollack 2014). Seit der Jahrtausendwende hat diese Meistererzählung über die unaufhaltsame Entzauberung der Welt jedoch einige Dellen bekommen. Sicher, in Deutschland sinken die Zahlen der Kirchenmitglieder auch weiterhin. Aber die fortschreitende Ausbreitung religiöser Weltanschauungen jenseits von Westeuropa und die Wucht, mit der Religion seit einigen Jahren in die politische und mediale Öffentlichkeit auch hierzulande zurückgekehrt ist, hat zu wachsender Kritik an der Säkularisierungsthese geführt, selbst aus den eigenen Reihen (Berger 1999). Neben den »klassischen« Theorien von Säkularisierung oder Privatisierung werden daher zunehmend auch alternative Entwicklungspfade diskutiert, wie zum Beispiel die Idee einer stärker öffentlich diskursiv agierenden Religion (Habermas 2001; Habermas & Ratzinger 2005), einer »public religion« (Casanova 1994; Herbert 2003) oder einer »vicarious religion« (Davie 2000). Ideen, die allesamt davon ausgehen, dass der Ort der Religion in der Moderne weder im Privaten noch in der Nähe des Staates zu suchen ist, sondern einzig in der Sphäre der Zivilgesellschaft zu finden ist. Umgekehrt hat die Religionssoziologie auch ein Interesse an Kirchen als Faktoren, die zur Entstehung und Stabilisierung heutiger Zivilgesellschaften beitragen. Hier sind an erster Stelle Forschungsarbeiten zu nennen, die sich mit der Bedeutung von Religionsgemeinschaften als Quellen von Sozialkapital beschäftigen (exemplarisch Putnam 2000; Verba et al. 1995; sowie für den deutschen Kontext: Pickel 2015; Traunmüller 2009).
Aus binnenkirchlicher Perspektive besteht das Interesse an der Zivilgesellschaft vor allem darin, dem öffentlichen Bedeutungsverlust von Kirche und Religion angesichts der veränderten Rahmenbedingungen durch eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Kirchengemeinden und ihrem sozialräumlichen Kontext entgegenzuwirken (zusammenfassend: Schramm 2018). Verschiedene Reformideen beschäftigen sich daher mit der Frage, wie der Umbau von ehemals staatskirchlichen und heute noch bürokratischen, anstaltsförmigen und hierarchischen Organisationsstrukturen zu stärker deliberativen und gestaltenden zivilgesellschaftlichen Akteuren ablaufen kann. Zu nennen sind hier etwa die ursprünglich aus dem anglikanischen Raum stammende Idee der »Fresh Expressions of Church«, der entsprechend durch Neugründung von Personal-Kirchengemeinden in Ergänzung zu den Parochialgemeinden »gemeindliches Leben im Nahbereich« wieder besser ermöglicht werden soll, etwa durch milieusensible, zielgruppenspezifische Arbeit (Herbst 2012; ähnlich auch Hempelmann 2012) oder auch die Idee der »Gemeinwesendiakonie«, die eine stärkere zivilgesellschaftliche Öffnung der Kirchengemeinden durch eine engere Verzahnung kirchlicher und diakonischer Akteure im Sozialraum anstrebt (Diakonisches Werk der EKD 2007; zusammenfassend: Horstmann & Neuhausen 2010; vgl. auch Potz 2012; Diakonie Deutschland 2013). Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die Kirche sich stärker in ihrer sozialen Umwelt platzieren und engagieren sollte oder aber, ob sie sich auf ihre Kernkompetenz, die Vermittlung des Heilsversprechens beschränken sollte (Pollack 2002). Neuere theologische Ansätze sehen in diesen beiden Polen hingegen eher eine Ergänzung und keinen Widerspruch (zum Beispiel Schramm 2018). In den letzten Jahren kamen weitere Arbeiten aus dem Bereich der praktischen Theologie hinzu, die ausgehend vom jeweiligen Verständnis der Kirchengemeinde auf der einen Seite und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite nach Überschneidungen und Differenzen zwischen beiden suchten (Schendel 2015; Schramm 2018; Wegner 2017a). Nicht zuletzt sind in diesem Zusammenhang die Diskussionen um die Möglichkeiten und Begrenzungen zivilgesellschaftlicher Arbeit von Kirche zu nennen, wie sie im deutschsprachigen theologischen Diskurs im Rahmen des Konzepts der »öffentlichen Theologie« stattfinden (Huber 2015; Bedford-Strohm 2012).
Und schließlich sei auf den Bereich der sozialen Arbeit und Sozialraumentwicklung hingewiesen, dessen eher praxisorientiertes Interesse am Thema Kirche und Zivilgesellschaft sich vor allem in einer zuletzt gewachsenen Sensibilität für die Bedeutung von Religionsgemeinschaften bei der lokalen Wohlfahrtserbringung ergibt (Böllert et al. 2015). Hier stehen Fragen im Fokus, wie Kirchengemeinden stärker in die Gestaltung von lebenswerten Sozialräumen einbezogen werden können, etwa im Bereich der sozialen Dienste, der Koordination von Ehrenamtlichen, der Netzwerk- oder Kulturarbeit oder auch, wie zuletzt, bei der Aufnahme von Geflüchteten.
Viele Diskussionen, aber wenig (empirische) Forschung
Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Frage von Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft derzeit ein Thema ist, das aus verschiedenen Perspektiven neu ausgeleuchtet wird. Umso mehr verwundert es, dass empirische Forschungsarbeiten, die sich mit der zivilgesellschaftlichen Relevanz von Religionsgemeinschaften in Deutschland beschäftigen, weitgehend fehlen. Vor allem die binnenkirchliche Debatte verharrt meist auf einer normativen Ebene: Man preist das zivilgesellschaftliche Potenzial von Kirchen, verweist auf zahlreiche Synergieeffekte (z. B. Pickel 2011a; Nolte 2009; Bedford-Strohm 2012) oder diskutiert darüber, was Kirche in der Zivilgesellschaft soll oder darf, aber die tatsächliche Bedeutung der Kirche für die Zivilgesellschaft bleibt bis auf anekdotisches Erfahrungswissen empirisch weitgehend unbestimmt.
Bei einem Überblick über die vorhandene Forschungsliteratur zum Thema Kirche und Zivilgesellschaft fallen zahlreiche blinde Flecken auf. Aufgrund des Vakuums im Bereich der empirisch-soziologischen Arbeiten zur Rolle der Kirche in der deutschen Zivilgesellschaft wird in kirchlichen wie auch in wissenschaftlichen Diskussionen gerne die in diesem Punkt deutlich besser erforschte Situation in den USA als Fallbeispiel angeführt. Tatsächlich wurde in einer Reihe von Studien die fruchtbare Kooperation von Kirche und Zivilgesellschaft in den USA verdeutlicht (exemplarisch: Putnam 2000; Verba et al. 1995). Die Ergebnisse dieser Forschungen lassen sich jedoch so gut wie nicht auf den europäischen bzw. deutschen Kontext übertragen, was sich in erster Linie durch die wohlbekannten Unterschiede der religiösen Landschaften diesseits und jenseits des Atlantiks erklären lässt: Die US-amerikanische Bevölkerung zeichnet sich nicht nur durch ein deutlich höheres Maß an religiöser Vitalität sowie konfessioneller Diversität aus; die kirchliche Organisationsstruktur ist im Vergleich zu Deutschland horizontaler und partizipativer, die Kirchen setzen stärker auf die Eigeninitiative und aktive Mitgestaltung durch die Mitglieder (Warner 1994; Ammerman 2005). Folgt man der klassischen Analyse von Alexis de Tocqueville zur Demokratie in Amerika (2003 [1835/1840]), so ist es sogar genau diese partizipative Gemeindestruktur, die Kirchen zu einer unverzichtbaren Stütze von liberaler Demokratie und Zivilgesellschaft in den USA haben werden lassen. Als sogenannte »intermediäre Institutionen« vermitteln Kirchengemeinden gewissermaßen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl. Auf dieser Seite des Atlantiks zeigt sich hingegen ein konträres Bild: Die religiöse Landschaft Westeuropas wird vor allem von schrumpfenden Kirchenmitgliederzahlen und immer weniger Gottesdienstbesuchern geprägt. In Deutschland kommt noch eine historisch tradierte enge Wahlverwandtschaft zwischen Kirche und Staat sowie eine völlig andere Organisationsform der Kirchen hinzu. Die verfassten Kirchen sind stark bürokratisch, hierarchisch, flächendeckend und parochial organisiert, d. h. Kirchenmitglieder werden immer zunächst der Kirchengemeinde zugerechnet, auf deren Gebiet sie leben, analog dem Prinzip der politischen Gemeinde. Diese Eigenschaften lassen Religionsgemeinschaften in Deutschland nach wie vor eher als staatliche Institutionen erscheinen (Wegner 2017a: 167) und nicht als zivilgesellschaftliche Akteure. In den USA hingegen gilt das kongregationale Prinzip, d. h. die Kirchengemeinden sind zwar in der Regel auch auf einen bestimmten Sozialraum bezogen, ihre Mitglieder müssen sich ihnen aber aktiv anschließen. Da die religiöse Diversität in den USA historisch bedingt deutlich größer ist, findet meist eine aktive Auswahl aus mehreren Gemeinden statt. Dass diese unterschiedlichen Prinzipien Auswirkungen auf den Anteil aktiver Gemeindeglieder hat, liegt auf der Hand. Alles in allem ist also Vorsicht geboten, sei es nun aus wissenschaftlichem oder kirchenreformerischem Übereifer, die Zusammenhänge zwischen Kirchen und Zivilgesellschaft, wie wir sie in den USA vorfinden, auf Deutschland zu übertragen (vgl. hierzu auch Roßteutscher 2009: 413).
Nun ist es nicht so, dass die deutschsprachige Forschung sich bisher gar nicht mit den Zusammenhängen zwischen Kirche und Zivilgesellschaft beschäftigt hätte. Der Fokus war jedoch ein völlig anderer. Nicht die Gemeinde stand hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern wahlweise Religion im Allgemeinen als gesellschaftliches Symbol- und Ordnungssystem, die Kirche als Institution oder aber die individuelle Religiosität. Dies zeigt sich durch die verschiedenen Fachgebiete hindurch: Die historische Forschung hat sich vor allem mit den Entwicklungsmöglichkeiten einer bürgerlichen Gesellschaft in einer bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein kirchlich durchdrungenen deutschen Gesellschaft beschäftigt (Bauernkämper & Nautz 2009; Borutta 2005). Die Ebene der Kirchengemeinde ist nur im eng begrenzten Rahmen singulärer historischer Ereignisse von Interesse, etwa wenn die Kirchengemeinden als Orte des Widerstands in den letzten Jahren der DDR betrachtet werden (Wüstenberg 2009).
Auch die Theologie hat sich bisher überwiegend mit kirchentheoretischen Fragen beschäftigt, insbesondere, ob die christliche Kirche von ihrer Gestalt her überhaupt eine zivilgesellschaftliche Akteurin sein kann. Diese Frage lässt sich dabei auf mindestens zwei Arten beantworten (zusammenfassend: Schendel 2015): Einerseits lässt sich vom Wesen der Kirche ausgehen und daraus auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben schließen (so etwa Reuter 2009; Huber 1998); andererseits kann man vom Wesen der Zivilgesellschaft ausgehen und daraus ableiten, welche zivilgesellschaftliche Rolle die Kirchengemeinden in ihr einnehmen (etwa bei Bleyer & Laux 2012). Zu welcher Antwort man dabei gelangt, hängt selbstverständlich stark von den zugrundeliegenden Definitionen von »Kirche« und »Zivilgesellschaft« ab, die sich allerdings beide einer eindeutigen Definition entziehen. Zwar wurde diese Diskussion in den letzten Jahren immer wieder durch empirische Fallbeispiele unterfüttert, allerdings überwiegt in diesen Berichten eine kirchliche Binnenperspektive auf das Phänomen. Deutlich wird dies an der Vielzahl von »Best Practice-Beispielen«, die häufig eher als kirchenreformerischer Vorschlag, denn als wissenschaftliche Fallstudien begriffen werden müssen (Härle et al. 2008; Herbst 2012; Diakonie Deutschland 2013). Erst in den letzten Jahren ist durch die aus dem anglo-amerikanischen Raum stammende Forschung der »Congregational Studies« (Demerath & Farnsley 2007) auch innerhalb der praktisch-theologischen Kirchentheorie ein größeres Interesse an empirischem Material zur Rolle der Kirchengemeinde in der Zivilgesellschaft entstanden (Latzel & Wegner 2017).
Und schließlich haben auch die Soziologie und die Politikwissenschaft die Ebene der Kirchengemeinden lange weitgehend ignoriert. Auf der einen Seite finden sich hier makrosoziologische Studien, die die Rolle der Kirche als Institution in der Zivilgesellschaft analysieren, etwa im Rahmen politischer oder öffentlicher Diskurse (Casanova 1994; Könemann et al. 2015). In diesen Bereich fällt auch die seit der Jahrtausendwende stark gewachsene Literatur, die sich mit den Zusammenhängen zwischen Religion im Allgemeinen und Zivilgesellschaft beschäftigen, ohne dabei jedoch die Rolle von Kirchengemeinden explizit in den Blick zu nehmen (Casanova 2001; Adloff 2007; Liedhegener & Werkner 2011; Roßteutscher 2009). Auf der anderen Seite gibt es einen wachsenden Bereich mikrosoziologischer Studien zum Einfluss individueller Religiosität oder der Kirchenmitgliedschaft auf die Verteilung von Sozialkapital oder die Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement (Ohlendorf & Sinnemann 2017; Pickel 2015; Traunmüller 2009; Seidelmann 2012). Zwischen diesen Polen gibt es jedoch so gut wie keine Forschung zum Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft auf einer Meso-Ebene, das heißt dem konkreten zivilen Engagement, den zivilgesellschaftlichen Angeboten und Netzwerken von Kirchengemeinden im Sozialraum. Eine Ausnahme bildet das vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD entwickelte »Kirchengemeindebarometer«, das erstmals auch empirische Daten zur Vernetzung von Kirchengemeinden im Sozialraum zur Verfügung stellt (Rebenstorf et al. 2015). Und auch in der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD aus dem Jahr 2015 gab es einen ersten Versuch, sozialräumliche Vernetzungen einer exemplarischen Kirchengemeinde durch netzwerktheoretische Methoden einzufangen (Bedford-Strohm & Jung 2015). Darüber hinaus existieren empirische Arbeiten zu nicht-evangelischen Kirchengemeinden und deren zivilgesellschaftlicher Relevanz etwa für religiöse Gemeinden von Migranten (Nagel 2015) oder für katholische Gemeinden (Zimmer et al. 2017).
Grundsätzlich fehlt es jedoch an akteurszentrierten Fallstudien, die im Gegensatz zu quantitativ-vergleichenden Analysen in der Lage sind, die Komplexität der Zusammenhänge zwischen Religion, Kirche und Zivilgesellschaft auf der Meso-Ebene abzubilden (zu einem ähnlichen Schluss gelangen auch Liedhegener & Werkner 2011: 24).
Die Studie: »Kirchengemeinde und Zivilgesellschaft«
Als Konsequenz aus diesen blinden Flecken bleibt eine Reihe von Fragen bislang unbeantwortet: Welchen Beitrag leisten (protestantische) Kirchengemeinden in Deutschland zum Bestehen und Funktionieren von Zivilgesellschaft vor Ort? Welche zivilgesellschaftlichen Funktionen erfüllen Kirchengemeinden im Sozialraum? Sind sie – ähnlich wie für den US-amerikanischen Fall beschrieben – eine tragende Säule der Zivilgesellschaft? Oder ist die Zivilgesellschaft in Deutschland säkular geprägt und sind Kirchengemeinden mehr oder weniger überflüssig für deren Bestehen? Wie steht es um die grundsätzliche Offenheit in der Zusammenarbeit von Kirchengemeinden und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren? Und welche Rahmenbedingungen begünstigen oder hemmen das zivilgesellschaftliche Engagement von Kirchengemeinden?
Mit der vorliegenden Studie möchten wir an diese Fragen anknüpfen. Hierzu präsentieren wir die Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojektes mit dem Titel »Kirche und Zivilgesellschaft...