Kapitel 1
Christentum und Gesellschaft
Die Kirche als Institution hat im 15. Jahrhundert â wie zu allen Zeiten â die strukturellen Rahmenbedingungen fĂŒr die Glaubensgemeinschaft der Christen markiert, aber auch auĂerhalb dieses institutionellen Rahmens wurde christlicher Glaube gelebt und praktiziert. Dabei gestaltete sich das VerhĂ€ltnis zwischen âoffiziellerâ und âinoffiziellerâ ReligiositĂ€t jedoch nicht antagonistisch, sondern dialektisch. Die Religion spielte eine wichtige Rolle bei der IdentitĂ€tsbildung sozialer Gruppen von der Sippe ĂŒber die kommunale, die regionale und die nationale Ebene bis hin zum Corpus Christianum als einer transnationalen GröĂe. Entsprechende historische Traditionen, wie sie vor allem in der Historiographie konstruiert und in der Erinnerungskultur rezipiert wurden, wiesen stets einen religiösen Bezug auf, indem die gemeinsamen Wurzeln und Grundlagen einer sozialen Gemeinschaft auf bestimmte Ereignisse wie die Christianisierung einer Region oder die Entstehung eines lokalen Kults zurĂŒckgefĂŒhrt wurden.
Kirche und Welt waren bei allen Tendenzen zunehmender Ausdifferenzierung von Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen sowie vielfĂ€ltiger Lebensformen auch im 15. Jahrhundert noch eng miteinander verflochten. Der gesellschaftlichen Funktion des Christentums korrespondierte seine Bedeutung bei der BegrĂŒndung und Sicherung politischer Herrschaft. Um die gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt des Christentums in dieser Zeit darzulegen, gilt es zunĂ€chst das WechselverhĂ€ltnis von Kirche als Institution und Glaubensgemeinschaft aufzuzeigen und dann die spezifische Situation des Christentums in der stĂ€dtischen und in der lĂ€ndlichen Gesellschaft zu beschreiben.
A. DIE INSTITUTION KIRCHE UND DIE GEMEINSCHAFT DER GLĂUBIGEN
Die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen des SpĂ€tmittelalters haben die Kirche des 15. Jahrhunderts zu einem facettenreichen Gebilde werden lassen. Die institutionelle Zweiteilung in Klerus und Laien wirkte sich auf den Status, die religiöse Praxis und Wahrnehmungsmuster der Christen aus, war aber nicht fĂŒr sĂ€mtliche Erscheinungsformen und Handlungsfelder des christlichen Glaubens bestimmend. ErgĂ€nzt und teilweise ĂŒberlagert wurde diese Zweiteilung von gesellschaftlich bedingten StĂ€nde- und Bildungsunterschieden. WĂ€hrend ein adliger Vertreter des Hochklerus und ein einfacher Mönch oder Landpfarrer bĂ€uerlicher Herkunft darin ĂŒbereinstimmten, dass ihnen als Mitgliedern des geistlichen Standes eine besondere Rolle in der Kirche zukam, unterschieden sie sich doch deutlich in ihrer gesellschaftlichen Stellung und der damit verbundenen MentalitĂ€t, die sich wiederum in ihrem kirchlichen Handeln niederschlug. Prosopographische Studien vermitteln einen Einblick in die schichtspezifischen Vernetzungen von Personengruppen und deren IdentitĂ€ten. Die Abgrenzung zwischen Klerikern und Laien relativierte sich auch im Blick auf ihre Bildung: Je mehr Laien â gerade auch im wohlhabenderen BĂŒrgertum â lesen und schreiben konnten, um so weniger galt die bis ins Hochmittelalter gĂŒltige Gleichsetzung von Kleriker und litteratus. Vielmehr brachten nun gebildete Kleriker und Laien ihre gemeinsame Orientierung an einem Bildungsideal darin zum Ausdruck, dass sie an unzureichend gebildeten Geistlichen Kritik ĂŒbten.
Bei allen Unterschieden hinsichtlich des gesellschaftlichen Rahmens von Kirche und ReligiositĂ€t zeichnete sich die Gemeinschaft der GlĂ€ubigen aber immer noch durch eine relative HomogenitĂ€t aus. Ăber die StĂ€ndegrenzen hinweg gab es Gemeinsamkeiten in Bezug auf grundlegende Inhalte und Rituale des christlichen Glaubens, auch wenn deren Konkretion dann wiederum spezifische PrĂ€gungen aufwies, wie unterschiedliche Formen der Marienverehrung oder der Wallfahrten verdeutlichen (s. Kap. ). HĂ€retische Bewegungen, wie sie in den vorangegangenen Jahrhunderten die Einheit der Kirche bedroht hatten, spielten mit Ausnahme der Hussiten sowie der Waldenser, die weit verstreut in den Alpen Zuflucht gefunden hatten, keine groĂe Rolle mehr. Trotz aller Kritik an der kirchlichen Hierarchie und ihren FunktionstrĂ€gern war eine dezidierte Kirchlichkeit die religiöse Signatur dieser Zeit. GemÀà dem ekklesiologischen Dogma, dass es auĂerhalb der Kirche kein Heil geben könne, vertrauten die GlĂ€ubigen nicht nur auf die Heilsmittlerschaft der Kirche und nahmen die von ihr angebotenen Mittel geradezu sehnsĂŒchtig an, sondern die Motivation zur Erneuerung der Kirche fĂŒhrte auch dazu, dass Laien MaĂnahmen zur Selbsthilfe ergriffen, indem sie Klosterreformen vorantrieben und PredigtpfrĂŒnden stifteten.
Eine Sonderstellung nahmen die âSemireligiosenâ ein, die eine geistliche Lebensform praktizierten, ohne doch einer festen Ordensregel zu folgen. Sie ĂŒbten eine groĂe Anziehungskraft vor allem auf bestimmte Kreise der stĂ€dtischen Bevölkerung aus, was der allgemeinen âTendenz zur religiösen Regulierung des Laienlebensâ entsprach. Das Semireligiosentum wies eine groĂe Bandbreite von Erscheinungsformen auf, die sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Zusammensetzung, ihrer Zielsetzung und Organisation sowie ihrer Stellung zur Amtskirche voneinander unterschieden. Dazu zĂ€hlten Inklusen (MĂ€nner und Frauen, die sich zu Gebet und Askese völlig zurĂŒckgezogen haben), Konversen (LaienbrĂŒder) und Donaten (GlĂ€ubige, die ein wieder lösbares Versprechen klösterlichen Lebens ablegten) ebenso wie âVerbrĂŒderungenâ und andere religiöse Gemeinschaften, in denen monastische und laikale Lebensform miteinander vermischt waren. Sie boten GlĂ€ubigen die Möglichkeit, mit einem höheren Grad der Verbindlichkeit als von den Bruderschaften abverlangt ein geistliches Leben zu fĂŒhren, ohne in einen Orden eintreten zu mĂŒssen. Insbesondere Frauen, denen ansonsten der Zugang zu Liturgie und Theologie vielfach versperrt war, konnten auf diesem Wege ihren religiösen Neigungen und BedĂŒrfnissen nachgehen. Damit einher ging eine soziale Absicherung, denn die Zugehörigkeit zu einer geistlichen Gemeinschaft verbesserte die soziale Lage und das Ansehen insbesondere der Frauen aus unteren Gesellschaftsschichten und Randgruppen.
Die Amtskirche wurde in ihrer institutionellen Verfassung auch im spĂ€ten Mittelalter vom Adel dominiert. Die ĂŒberwĂ€ltigende Mehrheit der Bischöfe gehörte dem Hochadel an, und dieser besetzte auch die meisten FĂŒhrungspositionen in der Ămterhierarchie der Kirche. Das resultierte aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung dieser Ămter und den damit verbundenen Herrschaftsinteressen. In der Konsequenz fĂŒhrte das zur Trennung der weltlichen und der geistlichen Funktionen, die mit einem kirchlichen Amt verknĂŒpft waren, so dass teilweise Stellvertreter mit den genuin geistlichen Aufgaben betraut waren, wĂ€hrend der Amtsinhaber weltlichen Dingen nachging. Das konnte â musste aber nicht zwangslĂ€ufig â bedeuten, dass die geistlichen Pflichten vernachlĂ€ssigt wurden, zumal die Tendenz vorherrschte, die Stellvertreter â die sogenannten Leutpriester, Plebane oder Vikare â schlecht zu bezahlen, weshalb diese oft auch nur unzureichend ausgebildet waren. Diese Entwicklung vollzog sich aber nicht nur in der vom Adel dominierten Reichskirche, sondern auch im Niederkirchenbereich.
Die wirtschaftliche und kulturelle Anziehungskraft der StĂ€dte, die nicht allein durch die Pest und die daraus resultierende Landflucht zu erklĂ€ren ist, hatte eine âUrbanisierung der Kircheâ zur Folge. Das entsprach den Interessen stĂ€dtischer Umlandpolitik und bedeutete fĂŒr die Kirche auf dem Land, dass sie einer stĂ€dtischen Kirche bzw. einem Kloster oder Stift inkorporiert (einverleibt) werden konnte, indem diesen die entsprechenden Pfarrrechte und PfrĂŒnden ĂŒbertragen wurden. In der Regel amtierten in solchen inkorporierten Pfarreien wiederum Vikare. So entstand ein Klerikerproletariat, das am Existenzminimum lebte und oft von einer Pfarrstelle zur nĂ€chsten wandern musste. Die Lebenssituation dieser Kleriker hat Sebastian Brant (1457 / 58â1521) im âNarrenschiffâ mit scharfer Kritik an den gesellschaftlichen und kirchlichen VerhĂ€ltnissen auf den Punkt gebracht: âKein Ă€rmer Vieh auf Erden ist / Als Priesterschaft, der Brot gebrist.â Gleichwohl nahm die Zahl derer, die ein geistliches Amt anstrebten, stetig zu, weil man sich letzten Endes doch eine hinreichende Versorgung versprach. Die Kumulation von PfrĂŒnden verstĂ€rkte noch das Einkommens- und BildungsgefĂ€lle unter den Klerikern. Zudem war der Inhaber einer PfrĂŒnde nicht stĂ€ndig vor Ort, soweit die Residenzpflicht das nicht von ihm verlangte oder er sich davon nicht dispensieren, d. h. freistellen lassen konnte. Nicht nur die höheren WĂŒrdentrĂ€ger, sondern auch der niedere Klerus war bestrebt, wenn möglich in der Stadt zu wohnen und die Betreuung der Gemeinde einem Stellvertreter zu ĂŒberlassen. Die feudalrechtliche VerknĂŒpfung eines kirchlichen Amtes mit einer PfrĂŒnde, die dem Amtsinhaber ein wirtschaftliches Einkommen sicherte, förderte das Bestreben, solche Ămter mit politischem Einfluss und Geld zu erwerben. Der Augustiner-Eremit Gottschalk Hollen (um 1411â1481) brachte das kritisch zum Ausdruck, indem er beklagte: âO, wieviele BrĂŒder und Nachahmer hat Judas auch heute noch, die Christus verkaufen: jene verfluchten Simonisten, die ihre Benefizien verschachern, als wĂ€ren es Pferde oder Rinder!â Die prinzipielle Einsicht in die Notwendigkeit kirchlicher Reformen fĂŒhrte zusammen mit den Bestrebungen zur institutionellen Zentrierung der Amtskirche in der zweiten HĂ€lfte des 15. Jahrhunderts dazu, dass reformwillige Bischöfe auf VerĂ€nderungen drĂ€ngten. So beanspruchten sie auch wieder verstĂ€rkt das Visitationsrecht, gegen das allerdings von Seiten der Klöster und der weltlichen Herrscher zum Teil Widerstand geleistet wurde.
In der Struktur der kirchlichen Hierarchie dominierten die Bischöfe, wĂ€hrend die Metropoliten ihre Macht lĂ€ngst eingebĂŒĂt hatten. Diese Entwicklung entsprach den Interessen der römischen Kurie, die damit eine konkurrierende Zentralgewalt in den Kirchenprovinzen verhinderte. Auf der Ebene der BistĂŒmer besaĂ der Bischof die kirchenrechtliche Gewalt und hatte die Aufgabe, die General- oder Diözesansynode zu leiten. Dieses Gremium, das selbst nur beratende Funktion hatte, spielte âeine herausragende Rolle in der Vermittlung und Popularisierung des pĂ€pstlichen Dekretalenrechts fĂŒr den Niederklerus ohne juristische Ausbildung und sogar fĂŒr Laienâ. Jeder Pfarrer sollte eine Abschrift der Synodalgesetze besitzen und seine Gemeinde ĂŒber ihre Bestimmungen unterrichten. Die Archidiakone (Stellvertreter des Bischofs) und Landdekane waren verpflichtet, die Kenntnisse der Pfarrer bezĂŒglich der Statuten zu ĂŒberprĂŒfen. Diesem Ziel dienten Visitationen mit entsprechenden Handreichungen, die allerdings im 15. Jahrhundert ânur in unregelmĂ€Ăigen und langen ZeitabstĂ€ndenâ durchgefĂŒhrt wurden, so dass sich die faktische Beachtung der normativen Vorgaben nur schwer ermitteln lĂ€sst. Nach den Vorstellungen des Konzils von Basel sollten die Synoden fĂŒr die DurchfĂŒhrung der Kirchenreform sorgen.
Der Einfluss, den ein Bischof auf den Klerus seiner Diözese ausĂŒben konnte, hing von den jeweiligen Strukturen und MachtverhĂ€ltnissen ab. Eine wichtige Rolle spielten die Domkapitel, denen das Recht der Bischofswahl zustand und die ihre eigenen Interessen verfolgten, indem sie den Kandidaten auf bestimmte Zusagen, die sogenannten Wahlkapitulationen, verpflichteten. Die personengeschichtliche Erforschung des Speyerer Domkapitels liefert ein typisches Beispiel dafĂŒr, wie ein adliger Personenverband seinen Einfluss ĂŒber ein enges Geflecht verwandtschaftlicher, freundschaftlicher und regionaler Beziehungen geltend machen konnte. Eine solche Patronage (GĂŒnstlingswirtschaft) und der damit verbundene Nepotismus (Vetternwirtschaft) waren durchaus ĂŒblich und wurden nicht in Frage gestellt, solange sie nicht als Zumutung empfunden wurden. Im Zusammenhang mit der kirchlichen Reformbewegung des 15. Jahrhunderts wurde daran allerdings scharfe Kritik geĂŒbt, und an der Entwicklung in der Diözese StraĂburg lĂ€sst sich ablesen, dass sich die enge Verbindung zwischen lokalen gesellschaftlichen Eliten und dem Klerus nach 1450 signifikant auflöste.
Dem Einfluss des Bischofs stand vor allem das weit verbreitete Patronatswesen im Wege. Nach wie vor war es gĂ€ngige Praxis, dass der Patron die entscheidende Rolle bei der Besetzung von Pfarrstellen spielte. Solche Patronatsrechte konnten Einzelpersonen oder auch PersonenverbĂ€nde wie Genossenschaften und Kommunen innehaben. Das Recht einer Gemeinde, den Pfarrer selbst zu wĂ€hlen, blieb die Ausnahme, wenngleich solche Pfarrerwahlen mit dem blĂŒhenden Stiftungswesen zunahmen. Innerhalb der Gruppe der weltlichen Patronatsherren gab es im spĂ€ten Mittelalter âbedeutende Verlagerungenâ, die fĂŒr die Pfarreien unmittelbare Konsequenzen hatten. WĂ€hrend die Territorialherren darum bemĂŒht waren, ihr landesherrliches Kirchenregiment auszubauen und deshalb die Besetzung wichtiger Pfarrstellen zu kontrollieren, trat der ĂŒbrige Adel einen GroĂteil seiner Patronatsrechte an Klöster und Stifte ab, die ihrerseits danach strebten, solche Pfarreien zu inkorporieren und damit deren geistliche wie vermögensrechtliche EigenstĂ€ndigkeit aufzuheben. Das durchaus spannungsgeladene Zusammenspiel von geistlicher und weltlicher Obrigkeit zeigte sich auf der Ebene der Pfarreien und MesspfrĂŒnden daran, dass die Kirche mit der weltlichen Gewalt kooperieren musste...