NEUBAU
Wolfgang Ratzmann • Matthias Petzoldt
Erick van Egeraat • Martin Petzoldt
Ulrich Stötzner • Rudolf Hiller
von Gaertringen • Horst Hodick
Wolfgang Ratzmann
FASZINIEREND UND HEFTIG UMSTRITTEN
Stationen und Positionen beim Bau des neuen symbolischen Zentrums der Leipziger Universität 1
Am zentralen Leipziger Augustusplatz, an dem sich auch Opernhaus und Gewandhaus befinden, ist ein neuer innerstädtischer Universitätscampus mit einem neuen Universitätshauptgebäude errichtet worden. In ungewöhnlicher Architektur ist dabei etwas Unverwechselbares entstanden, wobei eine Anlehnung an die Formensprache alter Kirchenbauten ins Auge fällt. Es ist offensichtlich, dass der neue Bau an die Universitätskirche St. Pauli erinnern soll, die bis 1968 an dieser Stelle stand. Das Herzstück des universitären Hauptgebäudes ist ein Erinnerungsbau, den die Universitätsleitung Paulinum2 genannt hat, der zugleich als Aula und Kirche dient und in dessen Dachbereich zusätzlich universitäre Institute untergebracht sind.
Das neue Gebäude ist schnell zu einem wichtigen Identifikationspunkt der Leipziger Innenstadt-Bebauung geworden. So taucht es seit seiner äußeren Fertigstellung immer wieder in deutschlandweit ausgestrahlten Fernsehserien aus der Messestadt auf: in der »Sachsenklinik« ebenso wie in der Krimiserie »Soko Leipzig«. Das neue Aula-Kirchen-Gebäude fasziniert offenbar viele Leipziger und ihre Gäste ebenso wie die Filmemacher der beiden Fernsehserien. Es spricht als »Amalgam neogotischer und neoexpressionistischer Formen«3 viele Menschen an. Es hebt dieses besondere Gebäude schnell heraus aus der relativen Gleichförmigkeit der sachlich-modernen Architektur und rückt es in den Mittelpunkt gespannter Aufmerksamkeit.
Eine Leserin der Leipziger Volkszeitung spricht in einem Leserbrief davon, dass die neue Universitätskirche »anmutig und architektonisch beeindruckend« dastehe, während sie deren Standort Augustusplatz als »nachwendlich verschandelt« bezeichnet (Anne-Sophie Arnold, Regis-Breitingen, LVZ v. 28.12.2012)
Doch erstaunlich ist, dass das Entstehen des Paulinums von Anfang an von heftigen Kontroversen begleitet war, die bis in die Gegenwart anhalten. Sie betrafen zunächst vor allem die äußere Gestalt, konzentrierten sich aber nach deren Fertigstellung auf die innere Ausgestaltung des Aula-Kirchen-Raumes, auf seinen Namen ebenso wie auf bestimmte markante Ausstattungsstücke und deren Platzierung im Inneren. Diese heftigen Debatten fanden nicht nur in den maßgeblichen regierungsamtlichen, universitären oder mit der Durchführung betrauten Baugremien statt, sondern deutlich wahrnehmbar ebenso in der Öffentlichkeit der Stadt, und sie wurden bisweilen auch überregional zur Kenntnis genommen, wie z. B. in der Wochenzeitung DIE ZEIT4 und in der »Welt«5. Ein wichtiger Austragungsort dieses offenen Streits war die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die durch ihre Berichte zum Neubau des Universitätscampus häufig eine Flut von Leserbriefen auslöste. Der heftige Streit, in dem es immer wieder auch zu persönlichen Verunglimpfungen kam, wird wohl nur dann halbwegs verständlich, wenn man unterstellt, dass es sich beim neuen Hauptgebäude der Leipziger Universität um einen symbolisch hochbedeutsamen Bau handelt, anhand dessen sich typische Einstellungen zum Verhältnis von Staat und Kirche, von Wissenschaft und Religion, von Gottesdienst und akademischem Lehr- und Feierbetrieb artikulieren konnten, die auf jeweils gegenteilige Überzeugungen stießen und harte Konfrontationen auslösten.
Mein Aufsatz will zunächst knapp die Baugeschichte in Erinnerung rufen und einige wichtige Stationen beim Bau des neuen Hauptgebäudes nachzeichnen. Diese findet sich allerdings ausführlich und von einer etwas anderen Perspektive aus auch an anderer Stelle – jedenfalls bis zum Zeitpunkt des Jahres 2009.6 Umso mehr ist es mein Anliegen, mich darüber hinaus dem anhaltenden heftigen Streit zuzuwenden, ihn mit einigen pointierten Äußerungen zu dokumentieren und zu interpretieren. Als Quelle benutze ich dazu einzelne Zitate aus Leserbriefen an die LVZ, die in diesen Jahren das Baugeschehen am Augustusplatz begleitet haben.
→ Installation vor dem Hauptgebäude der Universität
1. EINIGE STATIONEN DER BAUGESCHICHTE 7
Bald nach der Friedlichen Revolution 1989/90 melden sich die ersten Stimmen, die einen Wiederaufbau der alten Universitätskirche fordern. Die Diskussion pro und contra Wiederaufbau wird erstmalig öffentlich im Rahmen einer Podiumsdiskussion anlässlich des 25. Jahrestages der barbarischen Sprengung der Paulinerkirche im Mai 1993 geführt. Viele Fachleute äußern sich dabei zurückhaltend und kritisch gegenüber Plänen zum Wiederaufbau. Der inzwischen gegründete »Paulinerverein« verschreibt sich dagegen dem Anliegen, auf einen originalgetreuen Wiederaufbau der Universitätskirche hinzuwirken. Am damaligen Hauptgebäude der Universität, dem Plattenbau von 1970 mit dem daran befestigten Marx-Monument, wird eine Tafel zur Erinnerung an die Zerstörung der Kirche angebracht.
Die Stadt Leipzig lobt 1994 einen städtebaulichen Ideenwettbewerb zum Augustusplatz und Universitätsareal aus, der eine Fülle unterschiedlicher gestalterischer Vorschläge für das künftige Gesicht des Universitätshauptgebäudes erbringt. Von den 64 Teilnehmern sehen dreizehn eine wiederaufgebaute Universitätskirche vor, die sie in einen erneuerten Campus einbeziehen. Der erste Preisträger, ein Architekturbüro aus Hannover, plädiert aber für einen modern-funktionalen Zweckbau.
Im Mai 1998, 30 Jahre nach der Zerstörung der Kirche, wird eine große Installation vor dem Hauptgebäude aufgestellt, die den Giebel der früheren Universitätskirche nachzeichnet und die die bisherige Dominanz des Marx-Monuments an der Fassade des Hauptgebäudes aus den DDR-Jahren beendet. Die Theologische Fakultät verabschiedet im Juni 1998 eine Erklärung, in der sie ihre Haltung zu den Wiederaufbauplänen festlegt: Sie befürwortet einen Neubau, der »nach dem Leitbild der ›Universitätskirche‹ als geistlicher und geistiger Mittelpunkt und Ort der Identität der Universität vorzusehen« ist. Sie nennt als Kennzeichen dieses identitätsstiftenden Ortes die Funktionen »Aula, Auditorium maximum, Gottesdienstraum, Gedächtnisstätte, Konzertraum.« Sie setzt sich dabei aus ihrer spezifischen Verantwortung heraus dafür ein, dass die Universität mit diesem Raum ein »liturgisches Zentrum« wiedergewinnt, das als fester Ort für Universitätsgottesdienste, geistliche Musik und die liturgisch-homiletische Ausbildung der Theologiestudierenden zur Verfügung steht. Sie hält es für möglich, dass ein solches Gebäude auf der Grundfläche der zerstörten Universitätskirche errichtet wird und dass »der Anschluss an die innere Haupteinteilung der Kirche in Langhaus und dreischiffigen Chor« solche Möglichkeiten für eine vielseitige Nutzung des Raumes »als geistiges, kulturelles und liturgisches Zentrum der Universität« eröffnet.
Der seit 1997 amtierende Universitätsrektor Prof. Dr. Volker Bigl setzt am 9. November 1998 einen »Arbeitskreis Hauptgebäude« unter Vorsitz des Kunsthistorikers Prof. Topfstedt ein. Dieser erarbeitet Vorschläge, die vom Rektorat und vom Konzil der Universität im Juni 1999 bestätigt werden. In ihnen heißt es: »Das repräsentative Herzstück und geistige Zentrum des neu strukturierten Campus muss der Bau des bisher fehlenden Aula-Gebäudes mit einem multifunktional nutzbaren Saal (Kapazität ca. 600 Plätze) werden. Die Aula muss über eine flexible Bestuhlung verfügen, die eine vielfältige Nutzung des Raumes für akademische Festakte, für den Universitätsgottesdienst, für die Proben und Konzerte des Universitätschores und des Universitätsorchesters sowie für wissenschaftliche Konferenzen gestattet. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist das würdige Gedenken an die 1968 gesprengte Universitätskirche, welches in angemessener Weise auch in der Architektur des Gebäudes Niederschlag finden könnte …«
Nach solchen ersten Beschlüssen zur baulichen Neugestaltung des Unicampus finden immer wieder öffentliche Diskussionen über das Pro und Contra eines Wiederaufbaues bzw. eines Neubaus statt. Im August 2001 lobt der Freistaat Sachsen einen Wettbewerb zur Neu- und Umgestaltung des innerstädtischen Universitätskomplexes am Augustusplatz aus, in dessen Aufgabenbeschreibung es heißt: »Die neue Pauliner Aula soll als Ort akademischer Veranstaltungen, der Universitätsgottesdienste und der universitären Musikpflege eine lebendige Begegnungsstätte für die Universitätsangehörigen sowie für Gäste der Universität aus aller Welt und die Einwohner der Stadt Leipzig werden.« Der Wettbewerb endet im Mai 2002 mit der Vergabe des 2. Preises an das Architekturbüro behet + bonzio (Münster), das mit seinem Konzept für die gesamte Campusbebauung überzeugt. Aber der Vorschlag für die Aula überzeugt schon die Juroren des Wettbewerbs nicht ganz und findet in der Öffentlichkeit erst recht keine Zustimmung. Entschiedener Widerstand kommt vor allem vom Paulinerverein, aber auch von vielen Leipzigern, denen die nüchtern-funktionale moderne Architektur des Hauptgebäudes nicht zusagt. Dennoch erbittet der Senat der Universität von der Staatsregierung in Dresden, dem Geldgeber eines Universitätsneubaues, die Zustimmung.
Das Kabinett in Dresden befürwortet im Januar 2003 den Neuba...