Kapitel III
Unsere Herkunft – Die lateinische Kirche
Aus der Antike ist für schwere politische und religiöse Vergehen die Strafe der Verbannung bekannt. Hierbei wurde der so Bestrafte seiner Heimat entweder auf Zeit oder auf Lebenszeit verwiesen und verlor zugleich alle seine Bürgerrechte. Bis in die Neuzeit hinein wurde diese Bestrafung vollzogen. Bekannte Verbannte der europäischen Geschichte sind der römische Dichter Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.), nach Constanţa ans Schwarze Meer verbannt, Kaiser Napoleon (1769–1821), der auf die Inseln Elba und St. Helena verbannt wurde, der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1918–2008), der bis 1957 nach Kasachstan verbannt wurde. Dass eine Verbannung als Strafe angesehen werden kann, ist nicht nur den damit verbundenen schlechten bis menschenverachtenden Lebensbedingungen geschuldet, wie dies etwa Solschenizyn in seinem Gulag-Leben erfahren musste, sondern vor allem der allumfassenden Entwurzelung der verbannten Person.
War für sie bisher ihre Heimat der vertraute und gewohnte Ort mit seinen selbstverständlichen Sitten und Gebräuchen, so befindet sie sich nun in der Fremde, wird heimat- und rechtlos. Heimatlosigkeit ermöglicht kein gutes Leben. Diese Erkenntnis liegt der Verbannung als Strafe zugrunde. Ein gutes Leben aber wollen alle Menschen führen. Deswegen bedarf jeder Mensch seiner Heimat.
1. Ein kleiner kulturgeschichtlicher Spaziergang
Das Christentum hat mit seiner lateinischen Kirche, dem Mönchtum, dem Papsttum und der Reformation Europa zu einem besonderen Kulturraum gemacht: Unsere europäischen Völker sind mit ihren zahlreichen Kulturen samt ihren davon bestimmten Landschaftsbildern und Baustilen bis heute zutiefst durch das Christentum geprägt. In nahezu allen Dörfern und Städten stehen Kirchen, hinzu kommen noch die großen Kathedralen, Dome, Münster, Basiliken, Votivkirchen, Klosteranlagen und die unzähligen Kapellen. Selbstverständlich läuten in Europa die Kirchenglocken, erklingen Orgeln, singen Kirchenchöre, spielen kirchliche Posaunenchöre und befinden sich Friedhöfe in den Ortschaften. Allesamt Ausdruck christlicher Kultur. Dass die Dächer unserer Häuser mit Ziegeln gedeckt sind, verdanken wir dem Mönchtum, ebenso den Wein, der freilich auf dem Umweg über die Römer zum europäischen Kulturgetränk wurde. Zudem hat das Mönchtum durch sein striktes Regelwerk unserem Alltag seine besondere Prägung gegeben, bis heute etwa erkennbar am regelmäßigen Stundenschlag, Halbstundenschlag und Viertelstundenschlag von Uhren. So machte das Mönchtum die europäischen Völker mit der Zeitmessung vertraut. Ebenso sind die Fastenspeisen wie Fisch, die schwäbischen Maultaschen, Geflügelspeisen, die Fastenbrezel und das Bier dem Mönchtum zu verdanken. Und nicht nur das: Die Fastenspeisen dienten nicht nur als Bußritual, sondern auch dem Zweck einer gesunden Lebensführung. Und schließlich führte das Mönchtum in Europa das regelmäßige Zusammenspiel von Arbeit und Muße, von Gebet und Bildung herbei. Lautet doch die dem heiligen Benedikt zugeschriebene und sprichwörtlich gewordene Lebensregel: ora et labora et lege, zu Deutsch: Bete und arbeite und lies. Die heute so viel beschworene work-life-balance ist schon seit Jahrhunderten durch das Mönchtum bestens gelöst und einer praktischen Lebenshaltung zugeführt worden: der gebildeten Frömmigkeit.
Nicht umsonst zählten und zählen die Mönche zu dem Kreis der Gebildeten in Europa. Denn die im 6. Jahrhundert entstandenen Kloster- und Domschulen gelten als Ursprung der klassisch europäischen Bildungseinrichtung: der Universität. Und später wird die Reformation elementar zur Volksbildung beitragen, wie dies beispielsweise an den beiden Katechismen Martin Luthers (1483–1546) von 1529 ersichtlich ist. Und Philipp Melanchthon (1497–1560) hat mit der Einführung des humanistischen Gymnasiums im Jahre 1526 in Nürnberg sehr erfolgreich das christliche Bildungsideal für Europa mitbegründen können. Ebenso sind die Realschulen dem christlichen Bildungsgeist entsprungen, wofür beispielhaft die Namen August Hermann Francke (1663–1727) mit seinen in Halle beheimateten Franckeschen Stiftungen und der Pfarrer Christoph Semler (1669–1740) mit seiner Realschule in Halle stehen, die er in seinem Privathaus eingerichtet hatte.
Und die kirchlichen Sprach- und Stilprägungen unserer deutschen Sprache sind erkennbar, wie eine Fülle von Sprichwörtern belegt. So entstammt die abwertende Redewendung unter der Gürtellinie dem Mönchtum und bezieht sich auf vulgäre, possenreißerische Witze, die als dem unreinen Körperbereich des Afters zugehörig betrachtet werden. Ebenso entstammt die Redensart auf den Nägeln brennen dem Mönchtum. Damit bezeichnete der Mönch den Schmerz, verursacht durch das auf seine Fingernägel heiß tropfende Wachs der brennenden Kerze, die er bei den nächtlichen Stundengebeten zu halten hatte. Dass indes eine Vielzahl von Journalisten diese Redewendung mit unter den Nägeln brennen wiedergeben, zeugt von deren kulturgeschichtlichen Unkenntnis.
Auch die Aufforderung, die Klappe zu halten, ist dem liturgischen Brauch der Gebete im Chorraum der Klosterkirchen entnommen: Das Chorgestühl war mit einem beweglichen Sitz, der Klappe, versehen. Wenn diese nun beim Gebet durch einen Mönch unsachgemäß laut bedient und dadurch die Andacht gestört wurde, wurde besagter Mönch mit halte deine Klappe ermahnt.
Martin Luther indes war ein wahrer Sprachkünstler. Bis heute reden wir mit seinen Worten und Wörtern, ohne dass wir darum noch wüssten. Eine kleine Auswahl mag das vergegenwärtigen: friedfertig, kleingläubig, lichterloh, auf eigene Faust, Leib und Leben, fressendes Feuer, Nächstenliebe, Herzenslust, Machtwort, Lückenbüßer, Gewissensbisse, ein Herz und eine Seele.
Luthers 1534 vollendete Bibelübersetzung ist nicht die erste in deutscher Sprache gewesen, aber zweifellos die schönste, genaueste und einflussreichste. Eine Kostprobe, die alles sagt, ist der beliebte Psalm 23, der Gott als guten Hirten schildert. Ein Buchdrucker namens Günther Zainer veröffentlichte 1475 in Augsburg seine Bibelübersetzung. Der Psalm 23 beginnt da wie folgt: „Der Herr der regieret mich und mir gebrist nichts: und an der stat der weyde da saczt er mich. Er hat mich gefuret auff dem wasser der widerbringung: er bekert mein sel.“1 59 Jahre später formuliert Martin Luther denselben Psalm wie folgt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führet mich zum frischen Wasser.“2
Bis heute hat sich diese Sprachmelodie in die Seele unzähliger Christen eingeprägt und hat bergende Heimat gestiftet. Keine andere Religion oder Weltanschauung hat Europa so grundlegend geprägt wie das Christentum.
Im Folgenden werden nun beispielhaft für Europa typische Lebensbereiche näher dargestellt, die für die abendländische Heimat- und Kulturbildung von grundlegender Bedeutung geworden sind und bis heute Europa sein lateinisches Gesicht und seine Seele geben. Diese entstammt dem Geist des lateinischen Christentums.
2. Der Sonntag
Am alltäglichsten und gewöhnlichsten zugleich zeigt sich diese Prägung am Sonntag als gesetzlich geschütztem Feiertag. Es ist der römische Kaiser Konstantin der Große (306–337) gewesen, der mit einem Dekret vom 3. März 321 im römischen Reich den Sonntag zum allgemeinen Ruhetag für Richter, Gewerbetreibende und die Stadtbevölkerung erhoben hat. Im Jahre 337 erweiterte er dieses Dekret auch auf die Landbevölkerung, damit jeder Bürger seiner sonntäglichen Kultverpflichtung nachkommen kann.3
„Besonders deutlich tritt der Einfluss des Christentums im Bereich der Zeitmessung hervor. Obwohl sich das christliche Mittelalter am römischen Julianischen Kalender orientiert, tauchen wichtige Neuerungen auf, zunächst die Einteilung der Woche. Unter Bezugnahme auf die biblische Schöpfungsgeschichte wird der Sieben-Tage-Rhythmus eingeführt, sechs Arbeitstage und ein Ruhetag. Die Einhaltung der Sonntagsruhe wird bald für alle Christen zur Pflicht erhoben, so dass Karl der Große das Einverständnis der Kirche braucht, um den Bauern Ausnahmen zu gestatten, weil sie bei Feldarbeiten, insbesondere Ernten, das schöne Wetter nicht verstreichen lassen dürfen. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Einteilung der menschlichen Aktivitäten nach dem Wochentakt in der europäischen Welt sicher der beste Rhythmus für den Wechsel von Arbeit und Ruhe.“4
Seitdem gibt der Sonntag in Europa einen verlässlich wöchentlichen Rhythmus von Alltag und Feiertag, von Arbeit und Muße vor. Demgemäß wurde der Sonntag zum Zentrum des christlichen Kalenders und zugleich zum festen Orientierungspunkt für die gesamte europäische Lebenswelt. Der damit verbundene Sonntagsschutz wird in Deutschland bis in unsere Gegenwart über das Grundgesetz gewährleistet: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“5
Diese Zeit der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung bewirkt bis heute eine tiefe kulturelle Prägung für Land und Leute nicht nur in Deutschland. Damit aber greift die Sonntagsruhe die Vorstellung einer christlichen Zeit in der Zeit auf. Diese christliche Zeit lebt von der Idee des Guten, wofür exemplarisch das Christentum als Träger der Wahrheit steht: Christliches Zeitverständnis versteht alle Zeiten des Lebens, jede Zeit der Welt und des Kosmos als von Gottes guter und heilsamer Ordnung getragen und auch ertragen. Ersichtlich und grundgelegt wurde dieses Denken mit der Passionsgeschichte Christi, wie sie in den Evangelien überliefert ist. Und es ist gerade die Passionsgeschichte Jesu, die die abendländische Kultur in Musik und bildender Kunst bis hin zum klassischen Volksbrauchtum wie den Passionsspielen bis heute bestimmt und geformt hat. Damit aber wird die Betrachtung des Leides einer besonderen Würdigung unterzogen:
Exkurs: Leiden und Christentum
Das Christentum lehrt einerseits, Leiden, wo immer wir ihm begegnen, zu bekämpfen, zu lindern, zu beheben. Und es lehrt andererseits, eigenes Leiden mit Ergebung, ja Zustimmung anzunehmen und zu ertragen.6
Das Eigentümliche des Christentums ist es, dass es Zweierlei...