»[…] DAS DU MICH EYN MAN GESCHAFFEN UND VON MEYM LEYB DAS KIND TZEUGET HAST«
WELTERKLÄRUNG, GEOZENTRISMUS UND SCHÖPFUNGSTHEOLOGIE BEI MARTIN LUTHER
Gesche Linde
I.EINLEITUNG: ZUR DISSOZIIERUNGSTHESE
Angeregt von Edmund Husserl,1 hat Hans Blumenberg geurteilt, der Beitrag der Reformation zur kopernikanischen Wende und damit zum »Anfang der neuzeitlichen Wissenschaft«2, namentlich der Beitrag Luthers (jedoch keineswegs nur Luthers), habe darin bestanden, »Naturwelt und Gnadenwelt«3 so voneinander zu lösen, dass beide »gegeneinander indifferent geworden«4 seien. »Weltdeutung und Selbstverständnis des Menschen waren durch die Reformation dissoziiert worden: die Lehre von der Rechtfertigung als forensischer Imputation ließ die ›Realität‹ des Menschen unberührt, verweigerte der geglaubten Erlösung ihre kosmischen Entsprechungen und verstand die Welt unter Ausklammerung der über ihr waltenden Providenz.«5
Diese These Blumenbergs entspricht einer weitverbreiteten Selbstdeutung des deutschen Protestantismus, derzufolge – und zwar glücklicherweise – Luther Theologie einerseits und Kosmologie bzw. Welterklärung andererseits voneinander entkoppelt habe, so dass die Theologie auf evangelischer Seite sich fortan zur Anthropologie habe fortentwickeln und der rasanten Erweiterung des Naturwissens mit aller Gelassenheit, um nicht zu sagen: Gleichgültigkeit – ja, sogar mit Wohlwollen – habe zuschauen können, unbelastet von der ungemütlichen Herausforderung, im Gefolge der Veränderung naturwissenschaftlicher Wissensbestände und Methoden sich einer ständigen Selbstrevision unterziehen zu müssen, dafür aber mit der Selbstgewissheit ausgestattet, auf den Wassern der Moderne, anders als das stets kentergefährdete katholische Schwesterschiff, ruhig dahingleiten zu können. Eine prominente Manifestation dieses Selbstverständnisses findet sich bei dem von Blumenberg zustimmend zitierten Adolf von Harnack, der 1897, nicht von ungefähr in einer öffentlichen Festrede, Luther für den (seines Erachtens adäquat von Melanchthon in den Loci von 1521 ausgedrückten) Gedanken lobt, dass »die christliche Religion« nicht »im Schema eines Gott-Welt-Dramas und einer heiligen Physik, sondern als die Erweckung und der Prozeß eines neuen inneren Lebens«6 aufzufassen sei. »Vor Luther«, so Harnack an anderer Stelle, »hat kein Anderer so klar und entschieden die großen Gebiete des Lebens getrennt. Wunderbar! dieser Mann wollte die Welt nichts Anderes lehren als was das Wesen der Religion sei; aber indem er ein Gebiet in seiner Eigentümlichkeit erkannte, kamen alle anderen zu ihrem Rechte.«7
An dieser Dissoziierungsthese möchte ich Zweifel anmelden. Meine Zweifel sind sowohl historischer als auch systematischer Natur. In systematischer Hinsicht lautet meine Vermutung, dass selbst eine bis zum Extrem anthropologisch gewendete Theologie nicht umhin kann, mit kosmologischen Annahmen zu operieren, und seien diese auch noch so sparsam, wie sich etwa am Beispiel Schleiermachers8 zeigen ließe. Mit diesem Aspekt werde ich mich im Folgenden nicht beschäftigen. In historischer Hinsicht scheint mir außer Frage zu stehen, dass die Dreifach-Diagnose Blumenbergs ‒ erstens: die forensische Rechtfertigungslehre lasse die Realität des Menschen unberührt; zweitens: die Erlösung als geglaubte habe in der reformatorischen Theologie keine kosmischen Entsprechungen mehr; drittens: die Welt sei unter Ausklammerung des Providenzgedankens zu verstehen ‒ jedenfalls für Luther nicht aufrechtzuerhalten ist. Das möchte ich im Folgenden unter Rückgriff auf die Schöpfungstheologie Luthers skizzieren. Die Konsequenz, die aus diesen Befunden zu ziehen wäre und die ich hier ebenfalls nicht explizieren kann, ist dementsprechend abermals eine doppelte. In historischer Hinsicht lautete sie, dass Luther allenfalls mit erheblichen Einschränkungen als Gründungsfigur einer theologischen Moderne beansprucht werden kann und dass die bis heute entscheidenden theologischen Weichenstellungen ‒ etwa die radikale Unterscheidung von Gott und Welt oder die exklusive Verortung von Religion in der menschlichen Subjektivität ‒ tatsächlich erst im 18. und 19. Jahrhundert erfolgt sind. Eine solche Datierung entspräche der von den britischen Wissenschaftshistorikern Andrew Cunningham und Perry Williams geäußerten These, dass, wie sie es formulieren, »the invention of science«9, die Erfindung der Naturwissenschaft, der Naturwissenschaft nicht zuletzt als einer solchen, die ohne die Voraussetzung eines Schöpfergottes operiere ‒ die Erfindung derselben Naturwissenschaft, die angeblich bereits von der Reformation in die Selbstständigkeit entlassen und so maßgeblich zur Blüte getrieben worden sei ‒, keineswegs in das 16. und das 17. Jahrhundert falle, sondern später (ca. zwischen 1760 und 1848)10 anzusetzen sei. In systematischer Hinsicht lautete die Konsequenz, dass eine bewusst sich auf Luther beziehende bzw. sich als lutherisch verstehende Theologie sich nicht nur auf Anthropologie, nämlich auf Aussagen über christliches Selbstverständnis und christliche Sozialität, beschränken kann, sondern dass sie in ihre Sinnstiftungsbemühung auch die natürliche Welt einzubeziehen hat, mit dem voraussichtlichen Resultat, bestimmte Grundannahmen über deren Verfasstheit zumindest nicht völlig vermeiden zu können, etwa was das Thema der Anfangslosigkeit oder aber Anfangshaftigkeit der Welt betrifft, das Problem der kausalen Geschlossenheit oder Offenheit und die Auseinandersetzung zwischen reduktionistisch-physikalistischen und emergentistischen bzw. materialistischen und idealistischen Hypothesen.11 Um Missverständnisse zu verhindern: Ich behaupte nicht, dass eine jede Theologie sich zur Verfasstheit der natürlichen Welt äußern müsste oder sollte; ich behaupte nur, dass eine Theologie, die sich auf Luther beruft, davon nicht völlig wird Abstand nehmen können, und dass umgekehrt eine Theologie, die darauf programmatisch verzichtet, Luther nur eingeschränkt für sich beanspruchen kann. Denn es stimmt zwar, dass für eine Rechtfertigungstheologie nach lutherischem Zuschnitt als solche keine Kosmologie erforderlich ist; es stimmt aber auch, dass die schöpfungstheologische These von der Allwirksamkeit Gottes, welche die unverzichtbare Prämisse des lutherischen Rechtfertigungsgedankens bildet, ihrerseits kosmologische Implikationen enthält.
II.SCHÖPFUNG BEI LUTHER
II.1. BESTANDSAUFNAHME
Wie sind Schöpfung und Geschaffensein bei Luther konnotiert? Eine grobe Konkordanz ergibt folgendes Bedeutungsspektrum.
II.1.a) Von Gott geschaffen zu sein heißt, in deskriptiver Hinsicht, die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten sowie die sich daraus ergebenden Verhaltensoptionen – alle seine Kräfte12, wie Luther sagen kann – weder ursächlich selbst hervorbringen noch maßgeblich beeinflussen oder ändern zu können. Die Phänomenbereiche, auf die Luther in diesem Sinne explizit Bezug nimmt, sind die Geschlechtszugehörigkeit und der Sexualtrieb sowie die Sprachfähigkeit13, darüber hinaus aber auch die gesamte natürliche Bedürfnisstruktur des Menschen einschließlich des Nahrungs- und des Schlafbedürfnisses: »Eyn mensch«, so erinnert Luther, ist »geschaffen […] von Gott, das er essen, trincken, frucht haben seyns leybs, schlaffen und ander natuerliche werck thun soll, wilchs steht ynn keynes menschen gewallt zu endern.«14 Das, was nicht erst wir heute grob als ›Natur‹ bezeichnen würden, sondern was auch Luther schon so nennen konnte,15 ist dieser Argumentation zufolge nichts anderes als das Alias des Schöpfergottes.
Daraus ergibt sich zweierlei. Erstens: Das Geschaffensein bringt eine Einschränkung der Verfügungsgewalt über die eigene Person mit sich,16 die sogar bis zur Gefährdung des Lebens reichen kann. In diesem Sinne empfiehlt Luther den Frauen, der Aufgabe des Gebärens, zu der sie geschaffen seien, trotz der Aussicht auf den möglichen Tod fröhlich nachzukommen: »Denn hie ist gottis wort, das dich alßo geschaffen, solche nodt ynn dyr gepflantzett hatt.«17 Zweitens: Der Autonomiemangel, den das Geschaffensein bedeutet, begrenzt die Verfügungsgewalt nicht nur über einen selbst, sondern auch über andere. Wenn Luther warnt, dass Väter keinerlei »gewallt«18 hätten, ihren Kindern »die ehe gar zu verpieten und zur keuscheyt zu zwingen«19, so ist der Ausdruck ›gewallt‹ darum sowohl deskriptiv als auch normativ zu verstehen: Väter verfügen tatsächlich nicht über die Macht, ihre Kinder zur Keuschheit zu zwingen, und zwar deshalb, weil der natürliche Sexualtrieb sich nun einmal jederzeit als stärker erweisen wird; zugleich aber käme den Vätern auch gar nicht die Legitimation dafür zu, weil sie sich damit gegen Gott selbst stellten.
II.1.b) Von Gott geschaffen zu sein heißt, abermals in deskriptiver Hinsicht, Bestandteil eines fixierten Inventars von Formen oder Gegenstands- oder Ereignistypen zu sein, die keinerlei eigendynamischer Veränderung unterliegen. In diesem Sinne ist das, was geschaffen ist, stets so gewesen, wie es jetzt ist, und wird auch künftig so bleiben:20 Die Einrichtung der Welt ist stabil. Das gilt nach Luther für so unterschiedliche Dinge wie Formen von Körperteilen einschließlich der Geschlechtsorgane21, für die instrumentelle Vernunft22 und für die stimmlichen Äußerungen von Lebewesen bzw. für die Musik23 und letztlich auch für soziale Institutionen wie die Ehe. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb, veranlasst durch die aufkommenden Evolutionstheorien der Biologie, im 19. Jahrhundert die Omphalos-Debatte wieder neu erwachen konnte, also das Dilemma diskutiert wurde, ob Adam mit Bauchnabel geschaffen worden sei (in welchem Falle Gott Adam mit einem für ihn selbst nutzlosen Körperteil ausgestattet hätte) oder ohne (was wiederum die Frage aufgeworfen hätte, ob es sich bei Adam tatsächlich um einen Angehörigen der menschlichen Gattung gehandelt habe).24
II.1.c) Von Gott geschaffen zu sein heißt, nun in normativer Hinsicht, einer objektiven und nicht selbstgewählten Zweckbestimmung zu unterliegen, und zwar einer solchen, die jenseits der Erhaltung der individuellen Existenz liegt. So sind Menschen25 wie auch Tiere und Pflanzen zur Fortpflanzung geschaffen;26 anders als Tiere und Pflanzen sind Menschen zudem zur Arbeit geschaffen; sie sind darüber hinaus dazu geschaffen »nicht […], das wir umb unsert willen leben, sondern Gottes ehre zu foerdern und den leuten nutz zu sein«27; die Frau ist dazu geschaffen, »das es soll und mus umb den man seyn«28; die Kreaturen sind sowohl dazu geschaffen, dass Menschen sie liebhaben,29 als auch dazu, dass Menschen sie gebrauchen;30 Speise ist geschaffen, damit Menschen sie unter Danksagung empfangen,31 die Engel sind geschaffen, um die Welt zu regieren,32 etc.
II.1.d) Von Gott geschaffen zu sein heißt, wiederum in normativer Hinsicht, keinerlei Schädigung seitens anderer ausgesetzt werden zu dürfen bzw. sich selbst keiner Schädigung unterziehen zu dürfen, sondern einer Sorgsamkeitspflicht gegenüber sich selbst zu unterliegen. »[…] man [soll] dem leibe nicht schaden thun noch ihnen verletzen, sondern in bewaren und seiner pflegen, wie ihnen Gott ge...