DAS SELBST DES PREDIGERS GESTALTEN
Predigtarbeit auf Basis des Personen-Prinzips
von Isolde Meinhard
Otto Haendler war überzeugt, dass das Reden von Gott aus lebendiger geistlicher Erfahrung kommen muss. In seinem Werk »Die Predigt« schlägt er seinen Weg vor, um zu solcher Erfahrung hin zu führen und sie mit Predigtarbeit zu vermitteln. Mit Bezug auf diesen Ansatz Haendlers stelle ich Verknüpfungspunkte zu spezifischen zeitgenössischen praktisch-theologischen Texten her. In einem ersten Teil gehe ich der Frage Haendlers nach, wie wirkungsvolles Predigen vorbereitet und umgesetzt werden kann. Dazu verweise ich auf Aspekte, die Haendler anführt: Psychoanalyse und Meditation, »Fluidum« des Predigers und Gestaltung der Predigt. Jeweils daneben stelle ich, was in unserer Zeit dem entspricht und uns womöglich eine uns näher liegende Sprache anbietet. Im zweiten Teil komme ich auf theologische Fragen zu sprechen, die teilweise im ersten Teil bereits angeschnitten werden: Was ist religiöse Erfahrung? Welchen Stellenwert hat sie im Vergleich mit der Bedeutung biblischer Texte? Und wie gehen wir mit der Nichtmachbarkeit religiöser Erfahrung um?
1. »GEISTLICHE WIRKLICHKEITEN«
Haendler1 begründet und beschreibt, wie ein Prediger zu einer geistlichen Person werden kann, wie er zu Orientierung »im Raume geistlicher Wirklichkeiten«2 und zur »Verkündigung der geistlichen Wirklichkeiten«3 kommt. Diese Wirklichkeiten versteht er umfassend. Statt einer Entgegensetzung von Religion und christlichem Glauben4 akzeptiert Haendler, »dass auch in einem ausgeprägten Christenglauben […] das allgemeinreligiöse Element eine ungleich größere Rolle spielt, als man es in der Regel selber weiß«5. Während er »Die Predigt« schreibt, ist das Dritte Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht und Selbstdarstellung. Haendler beschäftigt, welche Kraft und Wirkmächtigkeit christlicher Glaube dem Staatskult entgegensetzen kann. Was können wir Menschen in diesem Zusammenhang tun – und auch versäumen, was überlassen wir angemessen Gottes Wirken? Haendler sieht, dass es nicht um eine Auseinandersetzung mit Argumenten geht, sondern dass tiefliegende Emotionen angesprochen sind. Entsprechend beschreibt er nicht – quasi in der Horizontalen – gesellschaftliche Veränderungen, denn Gegner sind nicht einfach Menschen. Stattdessen sieht er einen metaphysischen Kampf, in dem ganz andere Höhen und vor allem Tiefen und weit übermenschliche Kräfte involviert sind.6 Es geht um eine neue, angemessene Gestalt der »metaphysische[n] Fundierung des Seins«7. Entsprechend ist auch an Predigt und Kultus relevant, inwiefern sie teilhaben an übermenschlichen Mächten, Religion überhaupt, Gefühlen und kollektivem Unbewusstem.
Der gesellschaftliche Kontext in Deutschland in den letzten Jahrzehnten schafft für die Predigt nicht dieselbe Not und nicht dieselbe Herausforderung. In den zeitgenössischen sozialen Medien jedoch bildet sich seit Jahren ab, dass Emotionalität und vor allem Authentizität aufgrund persönlicher Erfahrung einen hohen Stellenwert haben. Und in jüngster Zeit spielt Emotionalisierung auch in der politischen Meinungsmache wieder eine dominante Rolle. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Phänomenen nimmt nach Generationen der Skepsis gegenüber Religion und Emotionen in verschiedenen Fachgebieten zu.
1.1 Seelsorge – durch Predigt
Das Charakteristische von Haendlers Werk »Die Predigt« liegt in der grundlegenden Bedeutung der Psychoanalyse für seine Arbeit.8 Er sieht »die seelische Gesundheit der Zukunft […] davon abhängen, ob wir die unmittelbare Fähigkeit wiedergewinnen, aus den Kräften des Unbewussten wieder in höherem Maße zu leben«9. Ausdrücklich sieht er die Relevanz psychologischer Erkenntnis und Arbeit nicht nur für die Seelsorge, sondern auch für die Predigt. »Denn Predigt ist auch Seelsorge im intensivsten Sinne.«10
Während er sich auf die psychologischen Aspekte der Predigtarbeit konzentriert, behält Haendler die Perspektive auf die Öffentlichkeit der Predigt und den Anspruch auf eine gesellschaftliche Wirksamkeit bei.11 Der Begriff, mit dem er die Verflechtung von individuellem Lebensweg und gesamtgesellschaftlicher Situation benennt, ist »Schicksal«. Haendler fordert zur »Schicksalsfähigkeit« heraus.12 Dabei geht es um die aktive Annahme der eigenen Lebensgeschichte, der prägenden Begegnungen und Erlebnisse, aber auch der je gegenwärtigen Lebenssituation mit der Anforderung an die persönliche Entwicklung, die sie stellt.13 Auch die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Schicksalserleben anderer gehört zu diesen Aufgaben.14 Das Ziel ist »echte Erkenntnis«15, die sich nicht nur auf die eigene Person bezieht, sondern »eine unmittelbare lebensmäßige Beziehung zum Gesamtschicksal« weckt.16 Erkannt werden »die Wirklichkeiten und Mächte der geistigen Welt«17.
In der Seelsorgebewegung sind die Erkenntnisse über die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche für die Analyse von Predigtwirkungen fruchtbar gemacht worden.18 Selbsterforschung, Selbsterprobung in unvertrauten Settings wird auch in der Seelsorgeausbildung angeleitet. Predigen bleibt hier allerdings der Ausbildung zum seelsorgerlichen Gespräch untergeordnet. Wenig berücksichtigt wird auch die Vorstellung von einem kollektiven Unbewussten im Blick auf die Gesellschaft. Bei Haendler trägt sie jedoch wesentlich zur überindividuellen Bedeutung der Predigt bei. Die gesellschaftlich relevante Predigt und die Rolle des Predigers stellt er sich offenbar ähnlich vor wie C. G. Jung den Künstler und seine Dichtung.19 Gesamtgesellschaftlich wirksame Vorstellungen und Bindungen kommen durch ihre Prägekraft in der Person des Predigers zur Konfrontation mit dem Evangelium.
1.2 Religiöses Erleben
Wie kommt es dazu, dass Menschen durch eine Predigt bewegt werden? Es ist Haendlers Verdienst, dass er die Frage nicht mit Machbarkeiten beantwortet, sondern sich zwei grundlegenden, aber lange tabuisierten Aspekten gestellt hat, der persönlichen Spiritualität und der lebensbestimmenden Emotionalität. »Die Auseinandersetzung wird aus der Sphäre der Meinungen und ›Überzeugungen‹ in die der Mächte verlegt.«20 Neben der psychologischen Arbeit traut er der Meditation weitreichende Prozesse zu. In ihr werden »die Erkenntnis, die Erfahrungen, die Hingabe, aber auch Entscheidung und Kampf […] in die Region der wirkenden Urmächte zurückverlegt«21. Zwar ist »zur vollen Durcharbeitung des Seins«22 die »Zusammenarbeit mit dem […] erfahrenen Psychologen«23 wichtig, aber die Meditation als »Autopsychotherapie« steuert die notwendige »ureigene Selbstarbeit« zum Prozess bei.24 In der Beschreibung einzelner Schritte der Meditation gibt Haendler Hinweise, wie »wir der Ausstrahlungen des Unbewussten soweit habhaft werden können, dass wir zu einem Ausgleich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem kommen«.25 Dazu gehört das intuitive Denken, das in der Bild-Schicht zwischen Unbewusstem und Bewusstem vermittelt.26 Vorbereitend hilft die Stille.27 Durch den Atem geschieht Entscheidendes.28 Zie...