DIE VIELFALT DER SEELSORGLICHEN PRAXIS ALS GRUNDLAGE DER FRAGE NACH DER SEELSORGE
Wolfgang Drechsel
1. WAS IST EIGENTLICH SEELSORGE? â ALS AUSGANGSFRAGE
Wer die einzelnen Seelsorgefelder in ihrem Nebeneinander betrachtet, dem erschlieĂt sich eine FĂŒlle und eine auĂerordentliche Vielfalt von Begegnungsformen, die in ihrer Unterschiedlichkeit vor allem dadurch zusammengehalten werden, dass sie sich alle unter der Ăberschrift »Seelsorge« versammeln. Ob Krankenhaus-Seelsorge, Blinden-Seelsorge, Notfall- oder Alten-Seelsorge â auf der sprachlichen Ebene werden all die Begriffe, die ein Handlungsfeld bzw. einen spezifischen Kontext umschreiben, verbunden durch die allen gemeinsame Bezeichnung als »Seelsorge«. D. h. Seelsorge ist der Begriff, der diese unterschiedlichen Bereiche bĂŒndelt, ihnen einen Rahmen und einen gemeinsamen Namen gibt.
Was aber ist dann eigentlich Seelsorge?
Auf der einen Seite weià jeder, der im kirchlichen Zusammenhang von ihr redet, was Seelsorge ist, um was es in der Seelsorge geht und dass sie ein Reden und Handeln im Sinne des christlichen Glaubens umschreibt. Die Verwendung des Begriffs Seelsorge ist selbstverstÀndlich im kirchlichen und praktisch-theologischen Sprachgebrauch. Und diese SelbstverstÀndlichkeit eines gemeinsamen Wissens darum, was Seelsorge denn sei, reicht im Allgemeinen, um dann auch den Bereich, das spezifische Feld, in dem man selbst tÀtig ist, auch wirklich der Seelsorge zuzurechnen.
VerĂ€ndern wir allerdings die vertraute Perspektive und blicken zuerst einmal allein auf die konkrete Praxis in den einzelnen Seelsorgefeldern, indem wir das gewohnte »immer schon irgendwie Wissen« um Seelsorge nicht in Anspruch nehmen, sondern uns auf eine Suchbewegung einlassen nach der »Seelsorge«, die diese Praxis zusammenhĂ€lt, so ergibt sich ein anderes Bild. Wenn wir genauer hinschauen, auf die konkrete Praxis und die verschiedenen Praxisfelder vergleichen, dann stellt sich eher die Frage: Wie ist diese in ihrer Unterschiedlichkeit ĂŒberhaupt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wenn wir vergleichen, was da eigentlich geschieht?
Nehmen wir zum Beispiel eine Situation im Altenheim: Die Seelsorgerin besucht eine Bewohnerin und sie unterhalten sich ĂŒber die Spatzen drauĂen vor dem Fenster und die Seelsorgerin bringt beim nĂ€chsten Besuch Vogelfutter mit. Im Vergleich zu einer Situation im Amtszimmer der Pfarrerin. Eine Frau aus der Gemeinde hat ein tiefgreifendes Lebensproblem und sie fĂŒhren ein BeratungsgesprĂ€ch, mit klarem Kontrakt und mit mehreren Sitzungen. Oder ein mehr oder weniger zufĂ€lliges Angesprochenwerden des Pfarrers am Rande einer Veranstaltung â im Vergleich zu einem GesprĂ€ch auf der Palliativstation, in dem es um die Frage geht: »Was war wichtig in meinem Leben, jetzt, angesichts meines Todes?« Oder die Seelsorgerin fĂ€hrt im Garten des Pflegeheims eine demente Frau im Rollstuhl spazieren â im Vergleich mit der Situation am Unfallort im Kontext der Notfallseelsorge.
Und um nur noch eine andere Perspektive zu benennen: WĂ€hrend es zu den Grundlagen einer jeden Seelsorgeausbildung gehört, sich einzufĂŒhlen bzw. empathisch zu sein, geht es in der Notfallseelsorge gerade nicht um vertiefte Empathie, sondern ganz im Gegenteil um Klarheit, Eindeutigkeit, Struktur.
Und das heiĂt: Wenn wir genauer hinschauen, auf die Praxis, auf das, was im konkreten Seelsorgegeschehen in den einzelnen Feldern passiert, dann ist es nicht mehr so selbstverstĂ€ndlich, das alles in einem Begriff zu vereinen, um so einen Zusammenhalt, etwas allen Gemeinsames zu konstatieren.
Exemplarisch lĂ€sst sich diese Situation dann noch einmal verdeutlichen an der Vorstellung, dass ein Seelsorger Besuch von einem Ethnologen bekommt, der nicht in unserer christlich-abendlĂ€ndischen Kultur aufgewachsen ist und hier Feldstudien zur Seelsorge betreibt. Der â von auĂen kommend â wundert sich zutiefst, was da alles mit dem Begriff Seelsorge umschrieben wird. Er bittet den Seelsorger, ihm zu erklĂ€ren, was es an Gemeinsamen gibt zwischen einer Unterhaltung im Alltag des Altenheimes bzw. der Gemeinde und einem hochdifferenzierten BeratungsgesprĂ€ch oder einer sehr spezifischen Krisenintervention, unter den Bedingungen des Hier und Jetzt am Telefon.
Und das heiĂt: Wenn wir auf die konkrete Praxis schauen in den einzelnen Feldern der Seelsorge, liegt es zuerst einmal nahe, das bislang SelbstverstĂ€ndliche zu entselbstverstĂ€ndlichen und zuerst einmal genauer zu fragen: Könnte es sein, dass sich durch die Verbindung eines spezifischen Feldes mit dem Begriff der Seelsorge, wie es z. B. in der Alten-Seelsorge zum Ausdruck kommt, auch der Begriff der Seelsorge verĂ€ndert?Dass es eben nicht so selbstverstĂ€ndlich ist, von vornherein von einer stabilen Einheit, von einer Gemeinsamkeit auszugehen, sondern dass es notwendig ist, jeweils konkret zu fragen: Was ist hier, in diesem konkreten Feld eigentlich Seelsorge? Um erst danach noch einmal und auf einer anderen Ebene neu die Frage stellen zu können: Was verbindet dann diese verschiedenen Seelsorgen eigentlich miteinander?Was ist das Gemeinsame, das diese Seelsorgefelder zusammenhĂ€lt und ihnen eine gemeinsame Ausrichtung gibt?
Ehe im Folgenden diese Fragen aus verschiedenen Perspektiven genauer betrachtet werden sollen, sei an dieser Stelle zuerst einmal in Thesenform eine mögliche Antwort in metaphorischer Form in den Raum gestellt:
In den verschiedenen Seelsorgefeldern werden sehr verschiedene Sprachen gesprochen, verschiedene Sprachen, die durch die Rahmenbedingungen, den Kontext des jeweiligen Seelsorgefeldes bestimmt sind â und sich dann noch einmal individuumsbezogen ausdifferenzieren. Die jeweilige Sprache bietet so immer auch eine konkrete Antwort auf die Frage: »Was ist Seelsorge?« â im Sinne von: »Was ist Seelsorge hier â in diesem spezifischen Feld?«
Diese Sprachen und die mit ihnen verbundenen Seelsorgen gilt es dann aber auseinanderzuhalten in ihrer lebensbezogenen PluralitĂ€t. Und erst wenn geklĂ€rt ist, welche Sprache in einem entsprechenden Feld gesprochen wird, können wir fragen, was dann diese Felder verbindet â im Sinne der Frage: Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Grammatik, die in diesen unterschiedlichen Sprachen zum Ausdruck kommt?Eine Grammatik, die vielleicht nirgends zu einem eigenen Thema wird, so wie wir, wenn wir reden, schlicht sprechen, ohne die verwendete Grammatik selbst zu benennen?Eine Grammatik, die doch als der gemeinsame Hintergrund wirksam ist, die im christlichen Glauben verwurzelt ist und so â im Hintergrund als »die Seelsorge« die verschiedenen einzelnen Seelsorgen in den unterschiedlichen Feldern zusammenhĂ€lt?
2. VON DER MONOPOLISIERUNG DER KOMMUNIKATION UND BEZIEHUNG HIN ZU SEELSORGEfELDERN
Nun ist ein solches Herangehen an die Frage nach der Seelsorge zuerst einmal ungewohnt und vielleicht irritierend. Ein wesentlicher Grund dafĂŒr mag dabei allerdings bereits in der Sichtweise liegen, aus der wir hier die Frage »Was ist eigentlich Seelsorge?« betrachtet haben: Die Perspektive des Kontextes, des jeweiligen Seelsorgefeldes, das eine spezifische Praxis prĂ€gt und gestaltet.
Denn diese Wahrnehmungsperspektive macht einen anderen Zugang zur Seelsorge stark, als es im Kontext der protestantisch-poimenischen Tradition â zumindest in Verbindung mit dem Gesamtblick auf »die Seelsorge« â bislang ĂŒblich war.
Blicken wir an dieser Stelle kurz auf die Geschichte der Seelsorge im evangelischen Kontext, so ist diese in den letzten 50 Jahren zutiefst geprĂ€gt durch den radikalen Umbruch in der Zeit der Seelsorgebewegung: Weg von einem VerstĂ€ndnis von Seelsorge als einem theologisch identifizierbaren Wort-Geschehen (VerkĂŒndigung, Beichte)1 hin zu einem VerstĂ€ndnis als Beziehungsgeschehen, das die EigenstĂ€ndigkeit und Freiheit des GegenĂŒbers im Blick hat.2
Nun ist es an dieser Stelle nicht notwendig, all die bleibend wichtigen Aspekte dieses Paradigmenwechsels im Blick auf Seelsorgelernen oder im Blick auf die Vertiefung des VerstĂ€ndnisses der seelsorglichen Beziehung mittels der verschiedenen psychotherapeutischen Konzeptionen zu benennen, sondern zuerst einmal festzuhalten: Seit dieser Zeit ist die grundlegende Vorstellung, was Seelsorge denn sei, zutiefst geprĂ€gt durch ein Modell, das ausgerichtet ist auf eine (im weitesten Sinne förderliche) Vorstellung von Kommunikation und Beziehung: sei es dass in der Anfangszeit die Seelsorge selbst als »beratende Seelsorge« bezeichnet wurde,3 sei es dass einzelne therapeutische Richtungen im Modus der sogenannten »adjektivischen Seelsorgen« den Seelsorgediskurs prĂ€gten und prĂ€gen,4 sei es dass auf der Praxiseben vor allem das Krankenhaus lange Zeit als der exemplarischer Ort galt, an dem man eine auf Empathie und Wahrnehmung der GefĂŒhle hin orientierte Seelsorge exemplarisch fĂŒr alle Seelsorgebereiche und -felder, lernen konnte. Durchwegs war die Gesamtvorstellung von Seelsorge durch eine Ausrichtung auf eine gelingende und die SelbstĂ€ndigkeit bzw. Weiterentwicklung des GegenĂŒbers fördernde Vorstellung von Kommunikation und Beziehung geprĂ€gt und prĂ€gt sie nach wie vor.
Dies zeigt sich auf der unmittelbaren Ebene sehr plastisch in der immer wieder auftauchenden Vorstellung von Seelsorge als »tiefgehendem« GesprĂ€ch, das Fragen und Probleme hebt, bearbeitet, löst usw. und auf diese Weise, das GegenĂŒber »weiterbringt«.5
Nun sollen die Errungenschaften dieser Perspektive in keiner Weise geschmĂ€lert werden, allerdings ist festzuhalten, dass durch die Monopolisierung einer derartigen psychotherapeutisch geprĂ€gten Ausrichtung der Vorstellung von Seelsorge auf Kommunikation und Beziehung allein, auch weite Bereiche der faktischen kirchlichen Seelsorgepraxis aus dem Blickfeld geraten sind, bzw. strukturell abgewertet worden sind, weil sie eben aus der Perspektive »tiefgehenden und weiterfĂŒhrenden GesprĂ€chs« kaum sichtbare Erfolge oder WeiterfĂŒhrendes zu bieten haben.
So sind ĂŒber Jahrzehnte beispielsweise die Altenseelsorge oder die Gemeindeseelsorge weitgehend aus dem poimenischen und auch kirchlichen BewuĂtsein schlicht herausgefallen, weil sie im VerhĂ€ltnis zu den beratenden, problemlösenden, selbstentfaltungsfördernden Werten des die Seelsorge prĂ€genden psychotherapeutisch grundierten Paradigmas eben nur wenig zu bieten haben, ja schlicht oberflĂ€chlich wirken.
Im Alltag des Altenheims geht es in der Seelsorge hÀufig genug nicht um lösungsorientierte Kompetenz, sondern schlicht um Formen der Unterhaltung, die zwar aus seelsorglicher Perspektive als Formen der lebendigen Beziehung als eminent bedeutsam angesehen werden können,6 aber aus der der Sicht des therapeutischen Paradigmas nur einen geringen Stellenwert erhalten.7 Was zur Folge hatte, dass im poimenischen und im kirchlichen Bewusstsein noch bis in die Gegenwart hinein, die Altenseelsorge eine deutlich untergeordnete Stellung innehatte und teilweise noch hat, als eine Art »niederer Klerus«.8
Im Blick auf die Gemeindeseelsorge nur ein Beispiel aus der poimenischen Literatur, das allerdings ganze Generationen geprĂ€gt hat. So fĂŒhrt Thilo in seinem Buch »Beratende Seelsorge« im Blick auf den Hausbesuch in der Gemeinde Folgendes aus: Dieser ist zwar unaufgebbar, aber es ist festzuhalten, »dass er seine sehr deutlichen Grenzen hat und die Motivationen bei Besuchern und Besuchten beim Hausbesuch nur in seltenen FĂ€llen einem beratenden GesprĂ€ch förderlich sein werden.« Mit der BegrĂŒndung, dass die Besuchten sich unter diesen Rahmenbedingungen zumeist hinter ihrem Heimvorteil verschanzen und sich nicht auf ihre Probleme und Lebensfragen einlassen: »Gerade die hĂ€ufig spontan geĂ€uĂerte Freude, die FĂŒlle der angebotenen materiellen GenĂŒsse mĂŒssen als Abwehrmechanismen gegen diesen Besuch gewertet werden.« So kann der Hausbesuch bestenfalls im Vorfeld einer möglichen Seelsorge angesiedelt werden, wobei die »beste Voraussetzung fĂŒr ein GesprĂ€ch seelsorgerlicher Beratung das GesprĂ€ch im Sprechzimmer des Beraters« bietet.9
Nun mag diese Perspektive in ihrer klassisch-analytisch orientierten Beratungsorientierung ĂŒber weite Strecken als ĂŒberholt gelten, aber die hier zum Ausdruck kommende Einstellung der Seelsorger in seiner Ausrichtung auf ein weiterfĂŒhrendes, tiefgehendes GesprĂ€ch sind nach wie vor wirksam: Exemplarisch in Fallberichten von Vikaren, die bei Hausbesuchen in der Gemeinde darauf warten, das aus dem Besuch ein »wirkliches seelsorgliches GesprĂ€ch«wird und ihre EnttĂ€uschung, dass die Besuchten »nur«aus ihrem Leben erzĂ€hlen, dann in die Frage kleiden:»HĂ€tte ich da weiterbohren sollen?«10
3. DREI GRUNDPERSPEKTIVEN DER SEELSORGE
Allein diese wenigen Andeutungen mögen genĂŒgen, dass zumindest unsere Ausgangsperspektive deutlicher hervortritt, die sich an dieser Stelle noch einmal neu formulieren lĂ€sst: Im Blick auf die Frage »Was ist eigentlich Seelsorge?« ist es wesentlich, nicht nur auf eine spezifische im weitesten Sinne therapeutisch orientierte Vorstellung von Kommunikation und Beziehung zu blicken, sondern auch den Kontext einzubeziehen, in dem jeweils Seelsorge stattfindet. Denn dieser Kontext bestimmt immer auch mit, wie sich Kommunikation und Beziehung in dem jeweiligen Seelsorgefeld bzw. -bereich entfaltet.
Das jeweilige Seelsorgefeld, der Kontext bestimmt immer auch mit, was Seelsorge eigentlich ist.
D. h. zuerst einmal ...