1 Das Umfeld
1.1 Mein Vater war ein Aramäer …
Wer aufmerksam die Nachrichten aus dem Nahen Osten verfolgt, weiß, wie komplex die Verhältnisse in der Region sind. Alles scheint miteinander verbunden zu sein, Stammesgebiete sind oft wichtiger als Ländergrenzen, Wassermangel kann zum Kriegsgrund werden. Im Altertum war das nicht anders, daher sind viele Texte des Alten Testaments nur verständlich, wenn man die Grundzüge von Geographie, Geschichte und Denkweise des Alten Orients kennt. Ein erstes Beispiel mag das verdeutlichen:
Im Buch Deuteronomium ist ein Glaubensbekenntnis aufgezeichnet, das bei dem Opfer der ersten Früchte zu sprechen ist (26,5-9): »Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. […] Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.«
Aufs Knappste werden hier wesentliche Etappen der Frühgeschichte Israels zusammengefasst: Ursprünglich liegen die Wurzeln der Israeliten im Aramäergebiet, im heutigen Nordsyrien also. Als sie nach Ägypten fliehen und dort unterdrückt werden, befreit Gott sie durch eine wunderbare Rettungstat und führt sie dann in das gelobte Land Israel. Interessant ist, welche Elemente fehlen: Mose, der Führer des Exodus aus Ägypten, wird nicht erwähnt, ebenso wenig die Offenbarung am Sinai und die 40 Jahre in der Wüste. Alles ist konzentriert auf Gottes Rettungstat »mit starker Hand und ausgerecktem Arm« und die Gabe des Landes »in dem Milch und Honig fließen«.
»Der Name ›Israel‹ ist erstmals in einer ägyptischen Inschrift aus dem Jahr 1208 v. Chr. belegt.«
Interessanterweise kann nun das, was im Bekenntnis genannt ist, historisch wahrscheinlich gemacht werden. Tatsächlich hat es im 2. Jahrtausend eine Wanderungsbewegung von aramäischen Stämmen aus dem Norden in das Gebiet Kanaan im Süden gegeben. Dass sich Nomaden in Zeiten der Not nach Ägypten gerettet haben, ist ebenfalls belegt. Dies hängt damit zusammen, dass Ägypten aufgrund des Nilwassers nicht so abhängig von Regenfällen wie die Region Syrien-Kanaan war. Für den Exodus gibt es keine Belege, doch immerhin ist der Name »Israel« erstmals in einer ägyptischen Inschrift aus dem Jahr 1208 v. Chr. belegt. Kurz danach hat sich dann tatsächlich im Bergland westlich des Jordans eine Volksgruppe formiert, aus der sich später das Königreich Israel mit seiner Hauptstadt Jerusalem entwickelte. Allerdings waren die Anfänge Israels höchst bescheiden, wie heute die Archäologie nachweisen kann. Sicher ist kein großes Volk mit über 600 000 Menschen aus Ägypten geflohen, wie es im Buch Numeri vorgerechnet wird, sondern höchstens eine kleine Karawane. Auch ist das Land Kanaan sicher nicht in einem großen Feldzug erobert worden. Viel eher war es so, dass sich verschiedene Nomadengruppen niederließen und mit schon Ansässigen neue Stammesverbände gründeten.
»Die Erzählungen des Alten Testaments wollen zuallererst die geglaubte Geschichte darstellen.«
Später wird diese frühe Geschichte in Sagen und Erzählungen verherrlicht und immer weiter ausgestaltet, bis hin zu den Erzählungen von Mose und dem Pharao oder Josuas wunderbarer Eroberung von Jericho. Diese Geschichten wurden gesammelt und bilden den Grundstock der Bücher Genesis bis Josua. Das »kleine geschichtliche Credo«, wie das Bekenntnis aus Dtn 26 in der Forschung genannt wird, geht dann später den umgekehrten Weg und verdichtet die Geschichte wieder, um auf diese Weise Gott als Retter die Ehre zu geben. So wird beispielhaft deutlich, dass die Erzählungen des Alten Testaments zuallererst die geglaubte Geschichte darstellen wollen und nicht den Anspruch haben, historisch zuverlässige Geschichtsschreibung zu sein. Unsere modernen Erwartungen an eine Darstellung der Geschichte gehen also vorbei an den Absichten der Literaturwerke des Alten Orients – seien es die Bibel Israels oder die Überlieferungen anderer Völker.
1.2 Ein Land voll Milch und Honig – Die Geographie
Die Geschichte Israels wird wesentlich durch die geographischen Gegebenheiten bestimmt. Palästina, wie das Gebiet etwa seit dem 5. Jh. v. Chr. genannt wird, bildet zusammen mit Syrien die Landbrücke zwischen Mesopotamien im Nordosten und Kleinasien im Norden und Arabien und Ägypten im Süden. Im Westen wird es vom Mittelmeer und im Osten von der Wüste begrenzt, daher kommt dem schmalen bewohnbaren Gebiet eine besondere strategische Bedeutung zu. Jede Auseinandersetzung der Großmächte im Norden und Süden hatte unmittelbare Auswirkungen auf Israel-Palästina, etwa durch Truppenbewegungen. Ein großer Teil der Geschichte Israels wurde von außen bestimmt (vgl. Kartenmaterial auf den Seiten 104 und 105).
Das eigentliche Gebiet Israels wird von West nach Ost durch die Küstenebene, einen Mittelgebirgszug und den Jordangraben bestimmt. Im Norden bildet das Hermon-Gebirge die Grenze. Wichtige geographische Räume sind das Gebiet um den See Genezareth, die fruchtbare Jesreel-Ebene und der Höhenzug des Karmel. Das Ostufer des Jordan – das heutige Jordanien – bildet nur einen schmalen fruchtbaren Streifen, dann beginnt das ammonitische und moabitische Bergland, das in die arabische Wüste übergeht.
Kerngebiete israelitischer Herrschaft waren zum einen das zentrale Bergland »Ephraim«, wo später die zeitweilige Hauptstadt Samaria lag, zum anderen weiter südlich das judäische Bergland mit Jerusalem als Zentralort. Nur selten konnte die Herrschaft auf die fruchtbaren Ebenen an der Küste und im Norden ausgedehnt werden. So wird beispielsweise im Richterbuch von Kämpfen mit den Philistern erzählt, die in Städten an der Küste lebten und ihr Gebiet in das Bergland ausweiten wollten. Am Meer und im Ostjordanland durchzogen zwei große Fernhandelsstraßen das Land, die in Friedenszeiten für Handelsgewinne und in Kriegszeiten für Zerstörungen sorgten.
Die Besiedelung des Berglandes durch die frühen Israeliten war möglich geworden, als man den steinigen Grund mit Eisenpflügen bearbeiten konnte und durch das Anlegen von Terrassenfeldern mehr Fläche nutzbar machte. Ein »Land, in dem Milch und Honig fließt« ist Palästina außerhalb der Ebenen nicht. Angebaut wurden Getreide, Oliven und Wein, auch die Viehzucht war zur Versorgung wichtig. Im Süden, wo das Land in die Steppe und dann in die Negev-Wüste ausläuft, konnten Nomaden als Viehzüchter leben. Stets war das Leben abhängig von ausreichenden Regenfällen in den Wintermonaten. Blieben sie aus, drohten Hungersnöte. Mehrfach wird in der Bibel geschildert, dass sie der Grund dafür waren, dass die Menschen ihre Heimat verlassen mussten und nach Ägypten oder an die Küste zogen (Gen 12. 20).
1.3 Ägypter, Amalekiter, Assyrer – Die Nachbarn
»Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben …« Wie in unseren alltäglichen Bezügen auch, spielen Nachbarn eine wichtige Rolle im Leben. Das gilt für Israel angesichts seiner besonderen geographischen Lage umso mehr. Eine herausragende Rolle spielt Ägypten. Der Exodus aus Ägypten ist das Grunddatum der Geschichte Israels, zudem wird aber auch mehrfach geschildert, dass das Land am Nil Israeliten Zuflucht gewährt hat; zu nennen ist etwa die Josefsgeschichte. Auch der spätere König Jerobeam hat sich dorthin geflüchtet, als Salomo ihn verfolgte (1Kön 11,40), ebenso eine Gruppe von Flüchtlingen, die den Propheten Jeremia mit sich schleppte (Jer 43. 44).
»Der Exodus aus Ägypten ist das Grunddatum der Geschichte Israels.«
Ägypten hat im 2. Jt. v. Chr. die Oberherrschaft über Palästina ausgeübt, um so sein Vorfeld militärisch zu sichern. Als nach Kämpfen mit den Hethitern und den Seevölkern gegen Ende des 2. Jt. sein Einfluss in Kanaan schwand, konnte sich das Königtum Israel etablieren. Auch im 1. Jt. gab es verschiedene Feldzüge ägyptischer Pharaonen, um die Vormacht in Palästina wiederherzustellen, so unter Schischak/Scheschonk im 10. Jh. (1Kön 14,25) oder Necho im 7. Jh (2Kön 23,29). In verschiedenen Texten des AT ist der Einfluss ägyptischer Ideen eindeutig festzustellen, so besonders in Ps 2 oder 104.
Weniger eindeutig fassbar sind die Philister, die etwa seit dem 12. Jh. v. Chr. in Stadtstaaten wie Gaza oder Askalon in der Küstenebene siedelten. In der biblischen Erzählung ist der »Riese Goliath« (1Sam 17) ihr bekanntester Vertreter. Offensichtlich waren die Philister den Bewohnern des Berglandes durch ihre Waffen- und Eisentechnologie überlegen. Die biblischen Erzählungen über Philisterkämpfe konzentrieren sich auf die Zeit des frühen Israel, nach dem 9. Jh. ist von ihnen kaum noch die Rede. Archäologische Erkenntnisse über ihre Kultur sind sehr spärlich.
Intensive Kontakte hat es mit den nördlichen Nachbarn in Tyros und Sidon gegeben, den wichtigsten phönizischen Küstenstädten im heutigen Libanon. Positiv wird geschildert, dass König Hiram von Tyros Salomo beim Bau des Tempels unterstützt hat (1Kön 5–8). Als verwerflich wird beschrieben, dass König Ahas von Juda mit Isebel eine Prinzessin aus Sidon zur Frau genommen hat (1Kön 16,31), die dann zur Gegenspielerin des Propheten Elia wurde.
Die Aramäer, von denen oben bereits die Rede war, entwickeln sich im 1. Jt. zu einer wichtigen Macht im Norden Israels, als sich mehrere Stadtstaaten unter der Führung von Damaskus zusammenschlossen. Mehrfach wird danach von Konflikten berichtet. Wichtig ist besonders der sogenannte syrisch-ephraimitische Krieg im 8. Jh., als Aram zusammen mit dem Nordreich Israel gegen Jerusalem zog, um es in eine Koalition gegen die Assyrer zu zwingen. Dieser Konflikt ist der Hintergrund des berühmten Kapitels Jes 7.
Assur gehörte nicht zu den unmittelbaren Nachbarn Israels, dennoch ist sein Einfluss kaum zu unterschätzen. Seit ca. 1100 v. Chr. drängten die Assyrer aus dem nördlichen Zweistromland (heutiger Irak) zunächst in die hethitischen Gebiete in Kleinasien, dann weiter in den Süden bis nach Ägypten. So wurde im 8. Jh. auch das Nordreich Israel nach und nach assyrisch und verlor unter Sargon II. seine Selbständigkeit (2Kön 17).
Das assyrische Reich wurde von Babylon abgelöst, das die Expansionspolitik seiner Vorgänger unmittelbar fortsetzte. Im 6. Jh. zogen die Truppen Nebukadnezars auch nach Juda, das aufgrund seiner Lage abseits der großen Handelswege seltener angegriffen worden war. Im Jahr 587/6 wurde Jerusalem erobert, und für seine Oberschicht begann die babylonische Gefangenschaft.
»Im Jahr 587/6 wurde Jerusalem erobert. Für seine Oberschicht begann die babylonische Gefangenschaft.«
Zwischenzeitlich hatte sich im Nordosten Mesopotamiens Persien als neue Macht etabliert, die unter ihrem Herrscher Kyros im Jahr 539 Babylon eroberte und ein Weltreich formierte, das bis zur Zeit Alexanders des Großen (333 v. Chr.) Bestand hatte. Zwar endete damit das Exil, doch war Israel nun eingebunden in das persische System von regionalen Herrschern, den Satrapen. Erst im 2. Jh. v. Chr. sollte es wieder selbständig werden können.
Östlich des Jordans lebten im Norden die Ammoniter, deren Name noch heute im Namen von Amman, der Hauptstadt Jordaniens herauszuhören ist. Zwischen Ammon und Israel gab es fortwährend Auseinandersetzungen, die aus der Richter- und Davidszeit erzählt werden (Ri 10–11; 2Sam 10–12). Die Konfliktlage zeigt sich auch daran, dass im AT für die Stämme Ruben, Gad und Manasse Siedlungsgebiete im Gebirge Gilead in Ammon beansprucht werden.
Weiter südlich im Bergland am Toten Meer lebten die Moabiter. Auch hier wird erzählt, dass David ihr Gebiet in sein Reich eingliederte (2Sam 8). Auf einer im 19. Jh. gefundenen Stele des moabitischen Königs Mescha wird berichtet, wie die Moabiter die israelitische Herrschaft wieder abschütteln konnten; ein für die Geschichte Israels höchst wichtiges Dokument.
Im Gebiet südöstlich des Toten Meeres siedelten schließlich die Edomiter. Nach Gen 36 sind sie auf Jakobs Bruder Esau zurückzuführen, was vielleicht auf alte Verbindungen hinweist. Unter Davids Herrschaft soll Edom Teil Israels gewesen sein (2Sam 8). Es konnte sich dann aber später wieder lösen (2Kön 8) und unterstützte im 6. Jh. die Baby lonier bei der Eroberung Jerusalems. Daher wird Edom in Ps 137 gänzlich negativ dargestellt.
Über diese Völkerschaften hinaus werden im AT noch eine ganze Reihe anderer Gruppen erwähnt, die heute nicht mehr ganz eindeutig zuzuordnen sind. So werden die Amalekiter als Erzfeinde im Süden geschildert (Ex 17), was vielleicht auf Weidekonflikte im Steppengebiet zurückgeht. Noch weniger weiß man über die Hiwiter und Perisiter, die öfter zusammen mit Amoritern, Kanaanäern, Hethitern, Horitern und Jebusitern in Listen als die früheren Bewohner des Landes genannt werden. Immerhin ist deutlich, dass die Stadt Jerusalem vor ihrer Eroberung durch David ein Stadtstaat der Jebusiter war.
1.4 Götter und die Welt – Religionen im Umfeld Israels
Folgt man der biblischen Darstellung, so haben die Israeliten seit Abraham allein den Gott JHWH verehrt. Die Nachbarvölker dienten jedoch allen möglichen heidnischen Göttern, die man oft pauschal als »Baale und Ascheren« zusammenfassen konnte. Inzwischen ist aber durch neuere Funde deutlich geworden, dass der Glaube an einen einzigen Gott nicht am Anfang der Religionsgeschichte Israels stand, sondern sich erst langsam entwickelte. Die frühen Israeliten verehrten viele Götter, waren Polytheisten wie ihre Nachbarn auch (dazu unten S. 99).
»Der Glaube an einen einzigen Gott hat sich im Verlauf der Religionsgeschichte Israels erst langsam entwickelt.«
So verschieden die Völkergruppen in Syrien und Kanaan auch waren, es lassen sich doch einige gemeinsame Grundzüge ihrer Religiosität feststellen. Grundlegend ist zunächst, dass die ganze Welt als von göttlichen Mächten durchwaltet angesehen wird. Damit konnte alles, was wir Heutigen als Naturphänomene begreifen, als Hinweis auf göttliches Wirken gesehen werden: Phänomene wie die Gestirnsumläufe, das Wetter, Geburten von Menschen und Tieren, das Wachsen der Pflanzen. Wenn sich nun in allen Dingen Göttliches manifestiert, führt das auch zu einer Vielzahl von Verehrungsformen. So wurden heilige Zeiten (etwa Neumond und Vollmond) und heilige Orte (z. B. Bäume, Quellen, Berge) aus den normalen, profanen Lebensvollzügen ausgesondert und für kultische Vollzüge reserviert. Man konnte durch Tabu-Vorschriften die Macht der Götter anerkennen, so dass etwa das Blut als Sitz der Lebenskraft nicht gegessen werden durfte. Durch Opfer konnte man den Göttern für die Gaben danken, die sie den Menschen gegeben hatten, aber sie auch in Zeiten der Not besänftigen. Alle diese Elemente finden sich auch in der Religion Israels.
Abb. 1: Baal mit dem Blitz; Stele aus Ugarit.
Wie die Religionen der Nachbarn Israels im Einzelnen vorzustellen sind, ...