1 Einleitung
Mit dieser Arbeit wird Neuland in der Forschung betreten. Bisher wurden die Friedensgebete in Leipzig von Hermann Geyer1 und in Wittenberg von Kay-Ulrich Bronk2 in zwei großen Studien von theologischer Seite wissenschaftlich aufgearbeitet. Hinzu kommt die umfangreiche die Historie in ganz Sachsen erfassende politikwissenschaftliche Arbeit von Michael Richter,3 die die Rolle der Friedensgebete aus ihrer Perspektive erfasst. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit speziellen Themen der Friedensgebetsforschung. Dies tut beispielsweise ein Aufsatz von Jürgen Ziemer4 über den Gebrauch der Bibel in den Kirchen während der »Wendezeit« und ein aus der Retrospektive geschriebener Vortrag5 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig am 28. Oktober 2009 von Peter Cornehl, der die Friedensgebete im größeren Zusammenhang des Phänomens »Öffentlicher Gottesdienste« erörtert.
Von der Wissenschaft bisher vernachlässigt wurden ländliche Regionen und kleinere Städte des Landes. In diese Lücke versucht die folgende Untersuchung vorzustoßen, indem sie die Vorgeschichte und die Geschichte der Friedensandachten in der Stadt Plauen mit damals ca. 73.000 Einwohnern von Oktober 1989 bis zum Frühjahr 1990 erstmalig historisch erfasst, zehn Friedensandachten rekonstruiert und in liturgiewissenschaftlicher Perspektive auswertet.
Bei der Rekonstruktion der Vorgeschichte und Geschichte der Friedensandachten wird die besondere Stellung Plauens in der Friedlichen Revolution von
1989 deutlich, hat doch in der Stadt an der Elster bereits am 7. Oktober 1989, also 2 Tage vor dem 9. Oktober 1989 in Leipzig, eine Massendemonstration mit ca. 25.000 Teilnehmenden stattgefunden, in der der DDR-Staat auf Einschüchterung und Gewalt setzte, jedoch einlenken musste. Kirchliches Handeln in einer ersten Friedensandacht am 5. Oktober 1989 in der Markuskirche Plauen und das mutige und entschiedene Eingreifen des lutherischen Superintendenten Thomas Küttler am 7. Oktober 1989 halfen mit, ein Blutvergießen auf dieser ersten nicht offiziellen Großdemonstration in Plauen zu verhindern.
In der Folge dieser Geschehnisse wurden die Friedensandachten der christlichen Kirchen Plauens im Herbst 1989 zu Orten von freier Information und des politischen Austauschs zwischen Nichtchristen und Christen der Stadt. Zugleich waren sie Stätten der Verkündigung des Evangeliums und des Gebets.
1.1 Zur wissenschaftlichen Literatur im Forschungsfeld der Friedensgebete
Im Folgenden wird auf einige bedeutsame wissenschaftliche Veröffentlichungen im Bereich der Friedlichen Revolution und der Friedensgebete hingewiesen und die jeweils unterschiedliche Herangehensweise skizziert.
Den Leitfragen an die Friedensgebete in Wittenberg,6 dem Mix an Methoden7 und den Klassifizierungen8 für die homiletische Analyse der Meditationen9 bei Kay-Ulrich Bronk folgt Hermann Geyer in keiner Weise, der das Leipziger Friedensgebet10 als »Konfliktsystem«11, sogar als das zentrale symbolische »Konfliktsystem für die ganze DDR«12 wahrnimmt, in dem Konflikte als »hochdifferenzierter Modus sozialen Lernens«13 hervortraten und das sich später als Lehrstück für soziales Lernen, als öffentliche Vorwegnahme von Pluralität und Demokratie inmitten der Diktatur14 in die drei Teilsysteme Friedensgebet, Kundgebung und Demonstration ausdifferenzierte.15 Geyer versteht das Leipziger Friedensgebet u. a. als Forum der Opposition und der Demokratie im Land. Dazu gehört für ihn, dass die zeitweilig konfliktmildernde Kirchenleitung für die Gruppen zum »Ersatzgegner« und zur Beschwerdeadresse für den unerreichbaren Staat wurde.16 Den Balanceakt der Kirche beschreibt Hermann Geyer mit den Worten Detlef Pollacks: »Die Kirche konnte nur deshalb eintreten für Menschen, die weitergingen als sie, weil sie nicht so weit ging.«17 Dass es Kirche und Gruppen nicht gänzlich auseinanderdividierte, sieht Geyer darin begründet, dass Liturgie und staatsbürgerliche Verantwortung von Anfang an zusammengehören, dass Gottesdienst immer eine öffentliche Angelegenheit mit einer stellvertretenden Dimension ist. Christus ist der »Archiliturg« der Menschheit. Von daher gibt es keine politischen Gottesdienste. Gottesdienst ist politisch.18 Ein besonderes Verdienst der Arbeit Hermann Geyers besteht m.E. darin, dass er mit Victor Turner und anderen Ritualforschern gegenüber der älteren Ritenforschung zeigen konnte, dass Rituale nicht nur für eine Gruppe identitätsstiftend, sondern auch gesellschaftsverändernd19 wirken, dass die hochgerüstete DDR-Staatsmacht handlungsunfähig war, weil tausendfach die sozialistischen Rituale verweigert und stattdessen ein alternatives Ritual, das Friedensgebet, zum Anziehungspunkt wurde. Geyer zeigt, dass nicht der Machtapparat, aber die Macht des staatlich verordneten Rituals20 zusammengebrochen war, ohne diese jedoch war auch der Machtapparat haltlos geworden.21 In der Ritualverweigerung sowie im alternativen Ritual des Friedensgebetes wurde das Gegebene transzendiert und nicht hingenommen. Diese Ergebnisse Geyers lassen sich auch in anderen Situationen verifizieren, beispielsweise in Plauen, wo die Geschehnisse nicht erst durch den nachgewiesenen Wahlbetrug zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 ihren revolutionären Verlauf nehmen, sondern in der Verweigerung des Wahlrituals vieler Plauener einen ihrer Auslöser haben.22 Sowohl Bronk23 als auch Geyer verweisen in ihren Arbeiten darauf, dass die Bedeutsamkeit der Individualität und die Würdigung der »Subjektivität«24 in den Friedensgebeten die Wirkung der Gebete und ihre politische Bedeutsamkeit erhöht hat. Hier konnten Einsichten aus Henning Luthers Religionstheorie fruchtbar gemacht werden, in der der Einzelne in seinem Subjekt-werden durch seinen Abstand zur Welt die Differenz deutlich macht, »dass das, was ist, nicht alles ist.«25 Diese Individuierung sei in pluralen Kontexten wie dem Friedensgebet als politische Dimension der Religion erkennbar. Während die DDR ihre Gesellschaft nicht hinterfragbar sakralisierte und der Einzelne seine egoistischen Interessen für das Kollektiv transzendieren musste, wirkte die Religion in den pluralen Kontexten für den Einzelnen und seine Freiheit. Sie stiftete die Erfahrung von der Gesellschaft im Letzten unabhängig zu sein.26 Die Demokratie entspreche im Politischen dem religiösen Individuationsprozess des Subjekts. In der Gestalt des Friedensgebets sei dann die Religion zur politischen Kraft geworden, weil sie nicht auf Kontingenzbewältigung und »Sinnstiftung« einer zwiespältigen Wirklichkeit gesetzt, sondern in aller Ambivalenz auf das über sie Hinausweisende hingewiesen hat.27 Einig sind sich Geyer28 und Bronk29 auch in der Ablehnung der These des Soziologen Detlef Pollack, dass die Kirchen lediglich einen »Kristallisationspunkt«30 für den Protest angeboten hätten. Dass die These Pollacks nicht stimme, lasse sich bereits beim Betreten einer Kirche feststellen, die ein Raum außerhalb der alltäglichen Räume sei. Bronk resümiert: In einem Kirchenraum vollzieht sich eine »temporäre Distanzierung vom Alltagsblick, eine Verschiebung der Perspektive. Damit wird der Wahrnehmungsfluss unterbrochen und der Blick auf die Welt verändert. Es entsteht die Möglichkeit, aus der ›Konventionalität der gewohnten Erkenntnisweise‹31 herauszutreten. Der Raum, die Liturgie und die besondere Sprache lassen eine Welt auf Zeit entstehen, aus der heraus die Alltagswelt etwas zu erkennen gibt, was sie dem alltäglichen Blick vorenthält.«32 Hermann Geyer bezeichnet die Friedensgebete in den Kirchen als »Symbole der Transzendenz«33, die in unverwechselbarer Weise dazu beigetragen haben, »die Situation zu ›transzendieren‹«34. Das Friedensgebet sei zum Schwellenort in einer Schwellenzeit35 geworden, in dem die Angst der Menschen mit der Hoffnung auf Gottes Handeln verknüpft werden konnte.36 Dies habe Menschen aufbrechen, Grenzen übersch...