Religiöse Bildung und demokratische Verfassung in historischer Perspektive
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Religiöse Bildung und demokratische Verfassung in historischer Perspektive

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Religiöse Bildung und demokratische Verfassung in historischer Perspektive

About this book

Die Verfassung der Weimarer Republik von 1919 ordnete das Schulsystem, den schulischen Religionsunterricht sowie das Staat-Kirchen-Verhältnis neu. Vor diesem Hintergrund untersuchte der "Arbeitskreis für historische Religionspädagogik" auf seiner Jahrestagung 2018 die Frage, wie sich gesellschaftspolitische Demokratisierungsprozesse und konzeptionelle, inhaltliche sowie systematische Ausgestaltungsformen religiöser Bildung wechselseitig beeinflussten.Der vorliegende Sammelband vereint 13 Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Religionspädagogik, Politik-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaft. Diese widmen sich dem Verhältnis von schulischer Bildung und demokratischen Verfassungen anhand historischer Entwicklungen in Deutschland, Frankreich, der Tschechoslowakei und den Vereinigten Staaten.Religious Education and Democratic Constitution from a Historical PerspectiveThe constitution of the Weimar Republic of 1919 reorganized the school system, the school-based religious education and the relationship between state and church. Against this background, the "Arbeitskreis für historische Religionspädagogik" ("Working Group for Historical Religious Education") at its annual conference in 2018 examined the question of how socio-political democratisation processes and conceptual, textual and systematic forms of religious education mutually influenced each other.

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Information

TEIL 1:
WEIMARER VERFASSUNG
UND
RELIGIONSUNTERRICHT

KIRCHE, KONSTITUTION, KOMPROMISS

ZUR RELIGIONSDEBATTE IN DER WEIMARER NATIONALVERSAMMLUNG
Michael Dreyer

1. DIE WEIMARER REPUBLIK ALS DER ERSTE SÄKULARE STAAT IN DEUTSCHLAND

1.1 DIE PROBLEMLAGE: FORTDAUERND UND WENIG BEACHTET

Seit der Französischen Revolution ist das Nebeneinander von republikanischem Staat und organisierter Religion immer wieder problematisch und umstritten. Vom Staatskirchentum bis zum staatlich verordneten Atheismus ist alles vorgekommen, von der Privilegierung der Kirchen bis zu ihrer militanten Bekämpfung durch den Staat. In Deutschland sind diese Auseinandersetzungen weniger heftig geführt worden als in Frankreich oder gar Russland/Sowjetunion – aber das heißt nicht, dass es gar keine Auseinandersetzungen gegeben hätte. Gerade in den Momenten, in denen um deutsche Verfassungsordnungen gerungen wurde, ist dieses Thema kontrovers behandelt worden. Und das gilt für keine Zeit so sehr wie für die Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung in Weimar 1919.
Wenn man zu diesem Thema die wissenschaftliche Literatur recherchiert, fallen die Diskrepanzen und Defizite auf. In Ernst Rudolf Hubers monumentaler Deutscher Verfassungsgeschichte enthält der 1205 Seiten starke 5. Band nicht ganz zwei Seiten über unser Problem Kirche und Verfassung in Weimar.1 Das Gegenstück hierzu ist die 1996 erschienene und auf 726 Seiten »gekürzte […] Fassung« der Dissertation von Ludwig Richter, die Eberhard Kolb in Köln betreut hatte.2 Dies sind die beiden Extreme, aber wenn man sich mit der Forschung in der Breite beschäftigt, ist es erstaunlich, wie wenige Wissenschaftler sich von der Thematik angeregt gefühlt haben. Und dies ist umso bemerkenswerter, da es sich um den einzigen Teil der Weimarer Reichsverfassung (WRV) handelt, der bis heute in seiner ursprünglichen Form Gültigkeit besitzt. Inhaltlich gibt es zahlreiche weitere Aspekte der grundgesetzlichen Verfassungswirklichkeit, die ihren Ursprung in Weimar haben und die zum Teil wortgleich die Weimarer Bestimmungen ins Grundgesetz (GG) übernommen haben.3 Aber nur Art. 140 GG postuliert: »Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.« Allein dies schon sollte Anlass genug sein, sich mit der Rolle zu befassen, die das Verhältnis von Kirche und Staat in der Weimarer Republik gespielt hat und wie es sich entwickelt hat.

1.2 SÄKULARISMUS UND RELIGIÖSER STAAT

Die Idee des säkularen Staates ist nicht neu; seine Umsetzung allerdings hat lange auf sich warten lassen. Scheinbar bieten sich die USA hier als Musterbeispiel an, denn schon 1791 stipuliert der erste Zusatzartikel zur gerade drei Jahre zuvor verabschiedeten Verfassung, das First Amendment: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof […].« Im gleichen Amendment folgen noch Rede-, Presse-, Versammlungs- und Petitionsfreiheit, aber die doppelte Religionsfreiheit war den Autoren des Amendments so wichtig, dass sie an die erste Stelle gerückt wurde. Im amerikanischen politischen und juristischen Verfassungsverständnis unterscheidet man zwischen der ›establishment clause‹ und der ›free exercize clause‹, aber der unmittelbare praktische Erfolg war in beiden Fällen identisch – nämlich gleich Null. Die Bestimmungen der Bundesverfassung waren nach einheitlicher Auffassung nur für die Bundesregierung und die Bundesebene bindend,4 während die Einzelstaaten sehr wohl die Freiheit hatten, Religionen zu fördern oder zu behindern. Die ersten Urteile des Supreme Court, die ernsthaft die Möglichkeiten und Beschränkungen dieser Verfassungsbestimmung ausloteten, erfolgten erst 1961, dann allerdings auch mit Auswirkungen für die einzelnen Staaten.5 Seither hat sich eine ausgesprochen breite Rechtsprechung entwickelt, die die komplexen Grenzen zwischen establishment (was verboten wäre) und free exercize (was nicht behindert werden darf) zu bestimmen versuchte. Heute sind die USA sicherlich eine der Nationen, in denen die Verfassungslage der Religion und der Kirchen am detailliertesten bestimmt und immer wieder in weiteren Urteilen neu bestimmt wird. 1919 war dies noch nicht der Fall, so dass man kaum auf dieses Beispiel zurückgreifen konnte.
Eher in Betracht käme in diesem Kontext Mexiko, das bereits 1833 die Verstaatlichung des bis dahin kirchlichen Schulwesens anordnete.6 In der bis heute gültigen mexikanischen Verfassung von 1917 führte der Art. 3 zur völligen Ausschaltung der Kirche aus dem Unterricht. Stattdessen sollten die Schulen gemäß dem wissenschaftlichen Fortschritt gegen Unwissenheit, Sklaverei, Fanatismus und Vorurteile kämpfen.7
Im gleichen Jahr entfaltete sich auch ein Negativbeispiel, das den deutschen Politikern in der Nationalversammlung in jeder Hinsicht näher vor Augen stand. Im revolutionären Russland wird am 15. November 1917, also exakt eine Woche nach der Oktoberrevolution vom 7./8. November, in der Deklaration der Rechte der Völker Rußlands die Abschaffung aller religiösen Privilegien und Einschränkungen dekretiert. Damit setzt auch unmittelbar die Verfolgung der bisherigen Staatsreligion ein, und der erste Bischoff wird bereits am 7. Februar 1918 mit Vladimir Bogoyavlensky, dem Metropoliten von Kiew, von der revolutionären Sowjetmacht ermordet.8
Wenn dies ein Beispiel für den staatlichen Säkularismus war, so war es ein Beispiel, dessen Radikalität in Deutschland fast niemand wiederholen wollte. Gleiches gilt auch für eine mögliche Vorbildfunktion des Nachbarn und Weltkriegsgegners Frankreich. Dort wird bereits 1905 das Loi de séparation des Églises et de l’État verabschiedet, das eine bis heute reichende strenge Trennung zwischen Staat und Kirche festschreibt. Die Kirchen gelten als private Vereine; es gibt keine Kirchensteuer, keine Schulaufsicht, keine amtlichen Statistiken über Religionszugehörigkeit. Dies hat inzwischen sogar Verfassungsrang. Art. 1 der Verfassung der Vierten Republik von 1946 (der in Art. 1 der Verfassung der Fünften Republik 1958 übernommen wurde) lautet: »La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.« Dieser scharfe französische Laizismus9 ist historisch zu erklären. Die französische Kirche – praktisch identisch mit der katholischen Kirche – ist seit der Revolutionszeit pro-monarchistisch und anti-republikanisch. Das war in der Dritten Republik nicht anders, und der Dreyfus-Skandal hat wiederum kirchliche Kreise in der ersten Reihe der konservativen Ankläger von Dreyfus gesehen. Das Gesetz von 1905 ist also, ebenso wie die späteren Verfassungsartikel, nicht aus der Neutralität geboren, sondern aus aktiver Feindschaft beider Seiten. Die Ausgangslage war in Deutschland komplexer, und den deutschen Verhältnissen zu Beginn der Weimarer Republik müssen wir uns jetzt zuwenden.

2. DIE AUSGANGSLAGE: PARTEIEN, KOALITIONEN, GRUNDRECHTE, RELIGION UND KIRCHE

2.1 DIE WEIMARER KOALITION UND IHRE GEGNER

Die Wahlen vom 19. Januar 1919 brachten bekanntlich eine deutliche Mehrheit für die demokratischen Parteien, die dann die Weimarer Koalition bilden sollten. SPD (37,9 %), die linksliberale DDP (18,5 %) und die katholische Christliche Volkspartei/Zentrum (19,7 %) verfügten über eine komfortable Mehrheit. Die Parteien der Rechten, DNVP (10,3 %) und DVP (4,4 %), und Linken, USPD (7,6 %), blieben gemeinsam deutlich unter einem Viertel der abgegebenen Stimmen.10
Dieses Ergebnis sorgte teilweise für Enttäuschung, denn die SPD hatte auf eine eigene sozialistische Mehrheit gehofft. Andererseits war die Überraschung über die klare Mehrheit der drei Parteien, die auf unterschiedliche Art alle dem Kaiserreich kritisch gegenübergestanden hatten, doch eher begrenzt. Misst man das Wahlergebnis an den letzten reichsweiten Wahlen, den Wahlen von 1912, ist diese deutliche Mehrheit schon weniger bemerkenswert. Natürlich hatte es Verschiebungen im Parteiensystem gegeben, aber, wenn man diese einmal unbeachtet lässt, dann hatte die SPD 1919 gegenüber 1912 einen Zugewinn von 3,1 % erzielt, das Zentrum hatte 3,3 % gewonnen und die DDP 6,2 %. Die demokratischen Parteien hatten also zusammen 12,6 % an Stimmen hinzugewonnen, und dies nach über vier Jahren eines verlorenen Krieges und einem vollkommen abgewirtschafteten monarchischen Regime. Für die einzelnen Parteien hielten sich die Gewinne im Rahmen dessen, was auch ohne Revolution und Regimewechsel von einer Wahl zur nächsten möglich war.
Es kommt hinzu, dass die demokratischen Parteien nicht erstmals mit Beginn der Nationalversammlung vor der Frage standen, wie sie politisch zusammenarbeiten sollten. Spätestens mit der Friedensresolution 1917, die von diesen drei Parteien (bzw. ihren Vorläufern) verabschiedet wurde, war eine gemeinsame Basis des Vertrauens und der Bekanntschaft der Spitzenpolitiker untereinander gegeben. Ebert und Scheidemann, Payer und Naumann, Erzberger und Gröber kannten sich bereits aus dem Reichstag von 1912 oder noch früheren Reichstagen, und sogar aus der letzten Regierung des Kaiserreiches, der immerhin vier von ihnen angehört hatten. Diese Vertrautheit erklärt neben dem begreiflichen Wunsch, die Verfassungsgebung und die Verhandlungen über den Friedensvertrag auf eine möglichst breite politische Basis zu stellen, dass es überhaupt zur Weimarer Koalition kam. Rechnerisch hätten auch Bündnisse zwischen SPD und Zentrum oder SPD und DDP alleine über die notwendige Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt.
In vielen inhaltlichen Fragen gab es also bereits weite Übereinstimmungen, doch das Verhältnis von Staat und Religion, von Staat und Kirche gehörte nicht dazu. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, dass es hier von Anfang an Probleme gab.
Das erste Beispiel, die Differenzen zwischen SPD und Zentrum, lässt sich anhand der Person Adolph Hoffmanns darstellen. Hoffmann war bis ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Michael Wermke: Die Weimarer Republik als ein Laboratorium der Demokratie – Eine Einleitung
  6. Teil 1: Weimarer verfassung und religionsunterricht
  7. Teil 2: Transnationale perspektiven
  8. Teil 3: Regionale perspektiven
  9. Teil 4: Medien
  10. Teil 5: Religiöse bildung im 18. und 19. jahrhundert
  11. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  12. Weitere Bücher
  13. Endnoten