»DU SIEHST MICH!« â IM ANGESICHT DES FEINDES
EINE REISE DER VERSĂHNUNG
GENESIS 33,1â171
Liebe Kirchentagsbesucher und -besucherinnen!
»Du siehst mich!« â so lautet die trostvolle Kirchentagslosung. Hagar spricht sie in der HebrĂ€ischen Bibel zuerst aus. »Du bist ein Gott, der mich sieht!« (Gen 16,13) â sagt die Frau, die Sklavin, die Fliehende. Sie wird angesehen â von Gott â und sieht daher mit neuen Augen. Und viele werden in der Folge in dieses Bekenntnis einstimmen, weil auch sie die Erfahrung machen: »Du bist ein Gott, der mich sieht!« Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs â und Hagars!
Heute geht es um die Erfahrung zweier MĂ€nner! Jakob und Esau. Und die zerbrochene Beziehung zwischen diesen beiden BrĂŒdern, die Gott sieht.
Lesen wir zunĂ€chst den vorgegebenen Bibeltext: Genesis 33,1â172:
1Jakob blickte auf, und siehe: Da kam Esau und mit ihm 400 Mann. Da verteilte er die Kinder auf Lea, Rahel und die beiden Sklavinnen. 2Er stellte die Sklavinnen und deren Kinder nach vorn, Lea und ihre Kinder hinter sie, dahinter Rahel und Josef. 3Er selbst ging ihnen allen voran. Siebenmal warf er sich zu Boden, wĂ€hrend er sich seinem Bruder nĂ€herte. 4Da lief Esau ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals. Er kĂŒsste ihn, und sie weinten. 5Als Esau aufblickte, sah er die Frauen und Kinder und fragte: »Wen hast du da alles bei dir?« Da antwortete Jakob: »Es sind die Kinder, durch die Gott mir, deinem Diener, seine Gunst gezeigt hat.« 6Da kamen die Sklavinnen und Kinder herbei und warfen sich zu Boden. 7Danach kamen auch Lea und ihre Kinder herbei und warfen sich zu Boden. Und schlieĂlich kamen Josef und Rahel herbei und warfen sich zu Boden. 8Da fragte Esau: »Was willst du mit der ganzen Herde, der ich begegnet bin?« Jakob antwortete: »Gunst finden in deinen Augen, mein Herr.« 9Esau aber sagte: »Ich besitze selber viel, mein Bruder. Was dir gehört, behalte.« 10Da sagte Jakob: »Nicht doch! Wenn ich Gunst in deinen Augen gefunden habe, so nimm mein Geschenk aus meiner Hand. Denn ich habe dein Gesicht gesehen, als sĂ€he ich Gott. Und du bist mir wohlwollend begegnet. 11Nimm doch meinen Segen an, der dir gebracht wurde, denn Gott hat mir Gunst erwiesen, und ich habe von allem reichlich.« So drĂ€ngte er ihn, bis er es annahm. 12Da sagte Esau: »Lass uns aufbrechen und losziehen. Ich werde an deiner Seite gehen.« 13Jakob sagte aber zu ihm: »Mein Herr, du weiĂt, dass die Kinder noch klein sind. AuĂerdem habe ich fĂŒr einige Schafe und Rinder zu sorgen, die noch sĂ€ugen. Wenn man sie nur einen Tag heftig antreibt, stirbt die ganze Herde. 14Ziehe du doch deinem Diener voran, mein Herr. Dann kann ich langsam hinterherkommen, so schnell das Vieh und die Kinder es zulassen, bis ich zu dir nach SeĂŻr komme, mein Herr.« 15Da sagte Esau: »Dann will ich wenigstens einige von den Leuten bei dir lassen, die bei mir sind.« Jakob aber fragte: »Wozu das? Lass mich nur Gunst in deinen Augen finden, mein Herr.« 16So kehrte Esau an jenem Tag auf seinem Weg nach SeĂŻr zurĂŒck. 17Jakob aber zog weiter nach Sukkot und baute sich ein Haus.
I.DIE VORGESCHICHTE: DER KONFLIKT â UND DIE FLUCHT
Eine wunderbare Versöhnungsgeschichte! Doch um sie in ihrer Tiefe zu verstehen, mĂŒssen wir an den Ort des Konfliktes zurĂŒck. Es gibt keine Heilung ohne die Erinnerung an das Böse.
Die Ursachen fĂŒr diesen Konflikt liegen mehr als 20 Jahre zurĂŒck. Eine lange Zeit! Ein Konflikt, nicht nur zwischen zwei BrĂŒdern, sondern zwischen zwei Familien â ein Familiendrama! Und ein Konflikt zwischen zwei Brudervölkern: Jakob wird »Israel« und Esau wird »Edom« (Gen 36,8).
Alles begann bereits wĂ€hrend der Schwangerschaft von Rebekka, der Frau Isaaks. Damals spĂŒrte die werdende Mutter â deren Kinderwunsch so lange unerfĂŒllt geblieben war, bis Gott sie gnĂ€dig ansah â einen Kampf in ihrem Leib: zwischen den beiden Zwillingen. Rebekka fragte im Gebet Gott, was das zu bedeuten habe.
Und Gott antwortet:
Zwei Völker sind in deinem Leib, zwei Nationen trennen sich bereits in deinem SchoĂ.
Eine Nation ist der anderen ĂŒberlegen, und der Ăltere wird fĂŒr den JĂŒngeren arbeiten. (Gen 25,23)
Das trĂ€gt Rebekka nun in sich. Und tatsĂ€chlich: beide Söhne sind sehr verschieden! Esau â der Ăltere â wird ein JĂ€ger, sehr zum Gefallen seines Vaters Isaak. Jakob, der JĂŒngere, bleibt bei den Zelten â und ist der ganze Stolz der Mutter.
Wir wissen, dass Esau in einer schwachen Stunde, noch in den Teenager-Jahren, sein Erstgeburtsrecht an den listigen Jakob abtritt, fĂŒr ein Linsengericht! Der unbekĂŒmmerte Esau hat schlicht Hunger, der vorausblickende Jakob nutzt das aus. â Hier deutet sich der Konflikt bereits an: Die Sache mit dem erschlichenen Vater-Segen:
Der gebrechliche Isaak, Vater der beiden Söhne, lĂ€sst sich auf seinem Totenbett von Jakob (und dessen Mutter Rebekka) tĂ€uschen und erteilt seinen Segen dem jĂŒngeren Jakob. Mit allem, was dazugehört! FĂŒr Esau bleibt nichts ĂŒbrig! â Das Drama nimmt seinen Lauf:
»Und Esau erhob seine Stimme und weinte« (Gen 27,38), wird berichtet, als dieser merkt, dass er betrogen wurde und dass dieses Vergehen nicht mehr rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden kann. TrĂ€nen des Schmerzes, sicherlich auch der EnttĂ€uschung ĂŒber den Bruder, gewiss auch TrĂ€nen voller Wut.
Der Vater Isaak, selbst entsetzt ĂŒber die Verstrickung in diesen Verrat, hat kaum beruhigende Worte fĂŒr den Erstgeborenen ĂŒbrig: »Durch dein Schwert musst du leben und fĂŒr deinen Bruder sollst du arbeiten.« Zu der Verletzung kommt auch noch die DemĂŒtigung! Der Weg scheint vorgezeichnet: Esau wird ein Krieger! â Doch der Vater prophezeit ihm auch: »⊠bei deinem Umherirren wirst du sein Joch von deinem Hals abwerfen ⊠Da wurde Esau zum Feind Jakobs wegen des Segens« (Gen 27,40 f.), berichtet die Bibel. Von nun an sinnt Esau darauf, sich zu rĂ€chen, Jakob zu töten!
Und die Mutter Rebekka? Man mag sich kaum vorstellen, wie es ihr erging. Eine zerrĂŒttete Familie. Jetzt Witwe, verliert sie auch noch beide Söhne, der eine ist besessen von RachegefĂŒhlen, der andere flieht. Und sie wird ihn nie wiedersehen. â Rebekka wird in der fortlaufenden Geschichte nicht mehr erwĂ€hnt.
Jakob ist von nun an auf der Flucht! Fluchtursache: Bedrohung des eigenen Lebens. Es gibt viele FluchtgrĂŒnde. Bei Jakob ist es ein Familiendrama! Ein Bruderzwist, in den die ganze Familie involviert ist. Die groĂe TĂ€uschung war das Letzte, was er mit seinen Eltern und seinem Bruder erlebt hat. Ein Trauma, das von nun an sein Leben ĂŒberschattet! Aber: Ăberleben ist jetzt zunĂ€chst das Wichtigste.
Seine Mutter hatte ihm noch geraten: »gehe zu meinem Bruder Laban, biete dich deinem Onkel als Knecht an«. â Und Jakob macht seinen Weg, als FlĂŒchtling. Arbeitet sich hoch, gewinnt schlieĂlich Frauen, Kinder, Tierherden. Dabei muss er selbst TĂ€uschungen erfahren von seinem Onkel Laban. Es ist kein leichter Weg.
Von Esau erfahren wir nur, dass auch er heiratet. Er geht zu Ismael, jenem verschmĂ€hten Sohn seines GroĂvaters Abraham, und der Hagar â die von Gott gesehen worden war â und heiratet eine von dessen Töchtern, Mahalat!
Viel Zeit vergeht, 20, 25 Jahre. Kein Kontakt zwischen den BrĂŒdern! Jakob wĂ€chst an Erfahrung, Wissen, womöglich auch Einsicht. Er emanzipiert sich allmĂ€hlich gegenĂŒber seinem Onkel Laban. Aber er weiĂ wohl auch, dass er nicht ewig leben kann mit dieser Schuld der Vergangenheit. Wie soll man wachsenden Reichtum und Macht genieĂen, wenn das Trauma der Vergangenheit nicht geheilt ist, wenn die unverarbeitete Schuld immer wieder Scham hervorruft?
Irgendwann spĂŒrt Jakob, dass Gott sich ihm erneut zuwendet: Ich sehe dich! »Kehre zurĂŒck in das Land deiner Vorfahren und deiner Verwandtschaft, so werde ich zu dir stehen.« (Gen 31,3) â Diese Zusage ist es wohl, die den AnstoĂ gibt. Und Jakob macht sich tatsĂ€chlich auf den langen RĂŒckweg! Und er weiĂ: er wird alle seine Habe aufs Spiel setzen mĂŒssen fĂŒr diese Begegnung mit seinem Bruder. Dazu scheint er bereit. â Manchmal braucht es ein halbes Leben, um sich der eigenen Schuld der Vergangenheit zu stellen.
II.DER LANGE RĂCKWEG â ZUR VERSĂHNUNG?
Gott sagt sein Mit-Sein zu, aber er geht den Weg nicht fĂŒr Jakob. Es gibt hier keine stellvertretende Versöhnung! Den Willen zur Versöhnung kann man nicht erzwingen. Sie muss freiwillig erfolgen!
Womöglich beginnt nun der schwierigste Teil des RĂŒckweges fĂŒr Jakob. Er zögert zunĂ€chst, taktiert, vielleicht kann man Versöhnung ja doch begĂŒnstigen: Jakob schickt Boten aus zu Esau, die ihm von seinem Kommen berichten sollen â von seinem Erfolg in der Fremde, vielleicht auch, um die Stimmungs-Lage zu testen? Aber das Wichtigste: »damit ich Wohlwollen (Hebr. chen) in deinen Augen fĂ€nde« (Gen 32,6). â Diese Aussage wird uns noch hĂ€ufiger im Text begegnen. Womöglich die SchlĂŒsselaussage des gesamten Textes: Wohlwollen in den Augen des Anderen finden. Luther ĂŒbersetzte das HebrĂ€ische chen mit »Gnade«. »⊠damit ich Gnade vor deinen Augen fĂ€nde«.
Boten können zur Vorbereitung von Versöhnungsprozessen eine wichtige Funktion ĂŒbernehmen. Es ist nicht immer ratsam, gleich die direkte, persönliche NĂ€he zwischen einem Opfer und einem TĂ€ter herbeizufĂŒhren. Zu tief sitzen die Ăngste, die Verwundungen, die sich dann rasch wieder in Aggressionen entladen.
Aber fĂŒr das groĂe strategische Vorgehen bleibt hier kaum Zeit. Die Boten berichten Jakob, dass auch Esau sich schon auf den Weg gemacht hat, ihm entgegen. Und: er kommt mit 400 Mann, alle unter Waffen! â WĂŒrden wir diese Bande heute als »Terroristen« bezeichnen?
Oh Gott! â Ja, das ist Jakobs erste Reaktion. In seiner Angst ruft er Gott um Beistand und erinnert Gott an dessen Zusagen und VerheiĂungen! Krieg ist keine Option! Jakob will die Versöhnung. Aber immer noch taktiert er: teilt seine Leute und Tiere jetzt in zwei Lager auf. So ste...