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Erläuterungen
Zu »Rechtfertigung und Zweifel«
1. Zum Text
Paul Tillichs Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel wurde im Jahre 1924 in der Reihe Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen (39. Folge) im Verlag Alfred Töpelmann in Gießen publiziert. Ihm liegt ein Vortrag zugrunde, den er am 19. Juni 1924 auf der theologischen Konferenz in Gießen gehalten hatte. Neben dem Referat Tillichs enthält der Band den Vortrag des Gießener Neutestamentlers Karl Ludwig Schmidt zum Thema Die Stellung des Apostels Paulus im Urchristentum. Die Edition der Vorträge der Gießener Konferenz von 1924 bringt zunächst den Beitrag von Schmidt (3–17) und im Anschluss daran den von Tillich (19–32). Auf die Bedeutung des Gießener Vortrags für seinen intellektuellen Werdegang hat Tillich in seiner 1936 in den Vereinigten Staaten von Amerika publizierten Autobiographie On the Boundary ausdrücklich hingewiesen. In den nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erschienenen Gesammelten Werken Paul Tillichs, die von Renate Albrecht herausgegeben wurden, ist der Gießener Vortrag in den Band acht aufgenommen, der den Titel Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II trägt und der 1970 im Evangelischen Verlagswerk in Stuttgart erschien (GW VIII, 85–100). Diese Edition weicht zum Teil von dem Erstdruck ab. Die Edition des Vortrags in dem Band sechs der Main Works, der von Gert Hummel verantwortet wurde und 1996 im Verlag Walter de Gruyter erschien (MW VI, 83– 97), gibt an, auf der Grundlage des Erstdrucks erstellt zu sein. Das ist aber auch hier nicht der Fall. Interpunktion und Schreibweisen wurden von dem Herausgeber eigenmächtig stillschweigend verändert. Einen textidentischen Abdruck der Fassung der Main Works bietet die Ausgabe Ausgewählte Texte aus dem Jahre 2008 (AT, 123–137). Der Edition von Rechtfertigung und Zweifel in diesem Band liegt der Erstdruck von 1924 zugrunde (vier textkritische Eingriffe wurden vorgenommen: ahierarchischea ED: hieranchische; bVorzeichenb ED: Vorzeigen; cwerdenc ED: wedren; dMöglichend ED: Mög).
Im Nachlass Paul Tillichs, der in der Andover-Harvard Theological Library in Cambridge/Massachusetts aufbewahrt wird, sind zwei Vorarbeiten des Gießener Vortrags überliefert. Beide Texte liegen inzwischen publiziert in dem Band zehn der Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs vor (EW X, 433–453).
2. Zur Geschichte
Das Thema von Paul Tillichs Vortrag Rechtfertigung und Zweifel ist das Problem einer Begründung der Theologie in der Moderne. Dafür stehen die beiden Titelstichwörter »Rechtfertigung« und »Zweifel«. Mit dem ersten knüpft er an die protestantische Lehrtradition an, mit dem zweiten wird der Bezug auf die gegenüber dem Protestantismus der Reformationszeit veränderte Lage der Religion in der Moderne hergestellt. Sowohl das Anliegen als auch die Fragestellung des Vortrags von 1924 sind im intellektuellen Werdegang Tillichs nicht neu. Fünf Jahre zuvor hatte er unter der gleichen Überschrift einen umfangreichen Text ausgearbeitet, der ebenfalls einer Grundlegung der Theologie galt (EW X, 128–230). Die Zusammenstellung der beiden Hauptbegriffe Rechtfertigung und Zweifel lässt sich jedoch bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückverfolgen, wo das Thema in Briefen bereits anklingt. In einem Schreiben an Maria Klein vom 5. Dezember 1917 heißt es: Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des »Glaubens ohne Gott« gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet. (EW V, 121) Die paradoxen Formeln, mit denen der junge Tillich seiner Korrespondenzpartnerin den Inhalt seiner theologischen Arbeit erörtert, stellen Weiterentwicklungen seiner Theologie dar, deren Grundzüge er vor dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet hatte. Auch hier geht es um den Protestantismus und die Frage seiner theologischen Begründung vor dem Hintergrund der modernen Kultur.
Der aus einem lutherischen Pfarrhaus stammende Tillich hatte von 1904 bis 1908 in Berlin, Tübingen, Halle und wieder in Berlin Theologie studiert. Seine akademische Ausbildung erhielt er vor allem in Tübingen und Halle durch Theologen, die der sogenannten modern-positiven Theologie zugehören, einer Richtung, die weniger an die lutherischen Bekenntnisschriften als an die biblischen Schriften anknüpfte. Deren wichtigste und für den jungen Tillich bestimmende Vertreter waren der in Tübingen lehrende Adolf Schlatter und der Hallenser Theologe Wilhelm Lütgert. Um 1900, als der junge Tillich mit dem Studium der Theologie begann, wurden die Folgen des gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierungsprozesses zunehmend deutlicher. Die kulturellen Systeme differenzierten sich aus und standen gleichsam ohne eine sie integrierende Einheit nebeneinander. In den zeitgenössischen Debatten über die Rationalisierung der Gesellschaft sowie die Krise des Historismus wird nicht zufällig die Kultur zu einem zentralen Diskursfeld. Die kulturelle Ausdifferenzierung betraf auch die Theologie. Sie konkurrierte nun mit Religionswissenschaften, Soziologie und anderen akademischen Disziplinen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigene Wissenschaften mit eigenen Methoden etabliert hatten, um die Deutungshoheit der (christlichen) Religion. Das erforderte einen Umbau der Theologie und ihrer Grundlegung als eigenständiger Wissenschaft. Mit den angedeuteten Problemen sah sich der junge Tillich schon während seines Studiums konfrontiert. Die Texte, die aus dieser Zeit erhalten sind, lassen erkennen, dass Grundlegungsfragen der Theologie im Fokus seines Interesses standen. Ihre Bearbeitung erfolgte in einer Weise, die signifikant auch für die modern-positive Theologie ist: ein produktiver Anschluss an die Philosophie des Deutschen Idealismus. In Halle, wo Tillich von 1905 bis 1907 vier Semester studierte, war es der Privatdozent der Philosophie Fritz Medicus, der ihn mit dem Denken Johann Gottlieb Fichtes vertraut machte. Fichte ist denn auch zunächst der philosophische Gewährsmann für eine Neubegründung einer modernegemäßen protestantischen Theologie. Diese zielt, und das ist ebenso charakteristisch für die modern-positive Theologie, auf ein universales Offenbarungsverständnis. Das bedeutet, die Rechtfertigungslehre als Prinzip des Protestantismus wird von ihrer Bindung an das Heil in Christus gelöst und erweitert. Gott, das ist die Intention, soll nicht nur in seiner Offenbarung in Jesus Christus zu erfahren sein, sondern gleichsam in der Schöpfung und der Kultur. Es ist dieses Interesse, der Vortrag von 1924 wird es wieder aufnehmen, an dem sich der junge Tillich zunächst im Anschluss an Fichte und ab 1909 an Schelling abarbeitet, um eine eigenständige Antwort auf die »Krisis des Historismus« (Ernst Troeltsch) zu geben. Sie besteht in einer neuen, geschichtsphilosophischen Begründung der Absolutheit des Christentums, die nicht mehr anhand von inhaltlichen Merkmalen der christlichen Religion, sondern auf eine reflexive Weise konstruiert wird. Mit dem Christentum tritt das Wissen um die Wandelbarkeit aller Wahrheiten und Normen in die Geschichte ein. Deshalb ist es die absolute Religion.
Die Grundlagen seiner frühen Theologie hat Tillich im Rückgriff auf die Philosophie des späten Schelling ausgearbeitet, zunächst in seinen beiden Dissertationen, die er der spekulativen Religionsphilosophie des Leonberger Philosophen widmete, und sodann in einem eigenen Entwurf einer Systematischen Theologie, der im Jahre 1913 entstand. An der Grundstruktur des Religionsbegriffs, wie sie in den Texten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vorliegt, wird Tillich, aller Modifikationen ungeachtet, die er an deren prinzipientheoretischer Fundierung vornehmen wird, zeitlebens festhalten. Zwei Aspekte sind für die frühe Konstruktion wichtig: Zum einen behauptet Tillich mit Schelling den Gottesgedanken als Grundlage des Religionsbegriffs. Damit verbindet sich schon hier eine Ablehnung von vermögenstheoretischen Religionsbegriffen, die Religion auf eine Anlage oder ein Apriori im menschlichen Bewusstsein zurückführen. Bezugspunkt der Religion ist das Bewusstsein als solches. Tillichs universales Verständnis der Offenbarung knüpft hier an. Zum anderen unterscheidet er zwischen einem religiösen Prinzip und der Religion als geschichtlicher Wirklichkeit. Während ersteres die Grundlagenfunktion des Gottesgedankens bzw. des Absoluten für das Selbstverhältnis des Bewusstseins benennt, bezeichnet zweites die Realisierung des Grundlagenverhältnisses in der Geschichte als Religion. Das ist nur in und mit den theoretischen und praktischen Bewusstseinsvermögen möglich. Was bedeutet das für das Verständnis der Religion? Tillich gibt keine inhaltliche Bestimmung der Religion, sondern versteht sie als eine Weise von Reflexivität im Selbstverhältnis. Religion ist das Innewerden des Absoluten, das dem Bewusstsein zugrunde liegt. Das Kulturbewusstsein in seinen theoretischen, praktischen und emotionalen Akten wird zur Darstellung der Grundlagenfunktion des Absoluten im Bewusstsein. Dadurch erhalten die Kulturformen eine Brechung, die sie als religiöse kenntlich werden lässt. Schon die frühe Religionstheorie Tillichs zielt auf eine Erweiterung der überlieferten soteriologischen Religionsdeutung. Religion, so seine These, kann sich in allen Kulturformen verwirklichen. Eine besondere religiöse Sphäre in der Kultur gibt es somit nicht, da die Religion selbst auf keiner eigenen Bewusstseinsfunktion fußt und deshalb allgemeingültig ist.
Während des Ersten Weltkriegs hat Tillich seine frühe Religionstheorie umgeformt. Die Veränderungen, die er vornahm, bestehen vor allem in einer Verschiebung des Absoluten als gleichsam übergeordneten Rahmen der Konstruktion in den Vollzug des Bewusstseins. Der absolute Geist verwirklicht sich nicht mehr in der Geschichte, sondern wird als Strukturmoment des Glaubensvollzugs umformuliert. Er fungiert nun als Durchbruch des Unbedingten im Bewusstsein, also als ein Reflexionsgeschehen. Den alten Gedanken des Absoluten ersetzt Tillich durch die Bestimmung des Unbedingten. Es sei Sinn, aber nicht ein Sinn. Im Hintergrund der Neuformulierung steht eine Strukturbeschreibung des Bewusstseins, die neukantianische Motive mit der Phänomenologie Edmund Husserls verbindet. In dem Entwurf Rechtfertigung und Zweifel von 1919 hat Tillich seine neue Grundlegung der Theologie erstmals systematisch ausgeführt.
Tillichs Theologie nach dem Ersten Weltkrieg resultiert aus einer sinntheoretischen Umformulierung des alten Religionsbegriffs. Das Absolute als Grundlagenfunktion ist nun in eine Strukturbeschreibung des Bewusstseins überführt und die aktuelle Religion als Durchbruch bzw. Meinen des Unbedingten beschrieben. Fluchtpunkt der theologischen Grundlegung ist der gegenwärtige Standpunkt in seiner geschichtlichen Bestimmtheit. Tillich benutzt die Rechtfertigungslehre als Strukturbeschreibung der Religion. Das Konkrete ist zugleich der notwendige Ausdruck des Unbedingten und seine Verfehlung. Die religiösen Formen sind folglich paradox. Sie müssen gesetzt und wieder negiert werden. Religion ist das Wissen um diese Struktur des Bewusstseins und seine paradoxe Verwirklichung. Der Zweifel, die Negation der konkreten Formen, in denen sich die Religion darstellt, ist auf diese Weise selbst ein notwendiges Element der Religion. Das Verhältnis von Religion und Kultur konstruiert Tillich so, dass beiden das Unbedingte strukturell zugrunde liegt. Der Unterschied zwischen Religion und Kultur besteht darin, dass in der ersteren das Unbedingte durch die kulturellen Formen hindurch gemeint wird. In der Kultur hingegen richtet sich das Bewusstsein auf die Formen und ihre Einheit. Religion ist damit Übergang vom Kulturbewusstsein zum Meinen des Unbedingten, von Tillich offenbarungstheologisch als Durchbruch des Unbedingten beschrieben.
Religion ist ein Reflexionsgeschehen im konkret bestimmten Bewusstsein. Mit der Konzeption ist ein Problem verbunden. Es entsteht mit der Frage, wie sich Religion und Kultur eigentlich unterscheiden, wenn beiden das Unbedingte – reflexive Erschlossenheit des Bewusstseins – zugrunde liegt und Religion selbst nicht inhaltlich bestimmt ist. In der Kontroverse Tillichs mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, 1923 in den Theologischen Blättern ausgetragen, wurden diese Probleme offensichtlich. Tillich beharrt auf seinem paradoxen Religionsbegriff, der inhaltlich unbestimmt ist, und kritisiert an der Dialektischen Theologie, sie gehe von einer Voraussetzung aus, die der Erkenntniskritik entzogen sei. In seiner Antwort auf die Kritik von Tillich macht Barth geltend, Religion sei in der Konzeption Tillichs ununterscheidbar von der Kultur. Ich vermisse an Tillichs »positivem Paradox« das, was es erst zum göttlichen Paradox und damit zum Objekt (die Alten hätten hier tiefsinniger Subjekt gesagt!) der theologischen Wissenschaft machen würde. (GW VII, 234 f.) Tillichs Antwort auf die Kritik Karl Barths findet sich in seinem Gießener Vortrag vom Juni 1924 mit dem Titel Rechtfertigung und Zweifel. Es sind Begründungsfragen der Theologie in der Moderne, die mit der Frage nach dem Status der Rechtfertigungslehre, dem zentralen Prinzip protestantischer Theologie, verhandelt werden.
3. Zur Erklärung
Tillichs Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel ist in vier Abschnitte untergliedert. Eine knappe Einleitung exponiert die Fragestellung des Textes –Welche Bedeutung hat die Rechtfertigung, das Durchbruchsprinzip des Protestantismus, gegenüber dem Zweifel an seinen Voraussetzungen? – und grenzt sie von in seinen Augen ungenügenden Lösungsvorschlägen ab. Tillich hält in dem Aufsatz an seiner Intention eines universalen Offenbarungsverständnisses als Grundlage einer modernen Theologie fest, verbindet jedoch deren Ausarbeitung mit einer Antwort auf die Anfragen von Karl Barth, die zu einer Modifikation seiner Religionstheorie führen. Sie liegt vor in der in seinem Aufsatz neu eingeführten Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung. Durch sie soll der Unterschied von Religion und Kultur, den Barth als unzureichend kritisiert hatte, genauer gefasst werden.
Die komplexe Argumentationsstruktur von Tillichs Text resultiert aus seinem Anliegen, einerseits die traditionelle protestantische Begründung der Theologie in der und durch die Rechtfertigungslehre zu erweitern und – damit verbunden – eine Antwort auf die Kritik von Barth zu geben. Das geschieht dadurch, dass die Theologie Barths als moderne Erneuerung von Luthers Rechtfertigungslehre gedeutet und als ungenügend zurückgewiesen wird. Das ist der problemgeschichtliche Hintergrund der Ausführungen Tillichs, den der Text selbst nicht eigens explizit macht. Für eine Rekonstruktion des argumentativen Aufbaus ergibt sich: Tillich setzt in dem ersten Abschnitt mit einer theologiegeschichtlichen Konstruktion ein, durch die die dialektische Theologie Barths in die Geschichte der modernen protestantischen Theologie eingeordnet wird. Der zweite Abschnitt arbeitet das Unbedingte als Voraussetzung jeder Gotteserkenntnis als Position Tillichs heraus. Im dritten Abschnitt ordnet er seine Position in die zeitgenössischen theologischen Debatten ein. Der abschließende vierte Abschnitt erörtert mit dem Begriff der Heilsoffenbarung Tillichs Neufassung des Religionsbegriffs vor dem Hintergrund eines universalen Offenbarungsverständnisses als Basis und Grundlage der Theologie.
Die Erläuterung folgt dem Aufbau des Aufsatzes und zerlegt die einzelnen Abschnitte in zusammenhängende Sinnabschnitte. Zitate, die dem jeweiligen Abschnitt entnommen sind, werden nicht nachgewiesen.
3.0 Themenexposition: Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre
für die Theologie
Tillichs Eingangsfrage, welche Bedeutung die Rechtfertigungslehre habe, wenn deren Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, zielt auf das Begründungsproblem der protestantischen Theologie unter den Bedingungen der Moderne. Die beiden Titelstichworte »Rechtfertigung« und »Zweifel« deuten auf dieses Problem, indem sie die klassische Grundlage protestantischer Theologie auf die Situation um 1900 beziehen. Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens geht mit dem Gottesgedanken und der Schriftlehre von Voraussetzungen aus, die in der Herausbildung der Moderne seit der Aufklärung aufgelöst wurden. Ebenso haben sich die soziokulturellen Bedingungen der Religion gegenüber dem Reformationszeitalter und dem des Konfessionalismus geändert. Kultur und Gesellschaft sind nicht mehr so homogen wie im 16. und 17. Jahrhundert. Im Hintergrund der Problemexposition von Tillich steht Ernst Troeltschs Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus, also die These, dass der aus der Aufklärung hervorgegangene Protestantismus sich von dem der Reformationszeit grundlegend unterscheidet. In dem Text von 1924 wird das nicht explizit angeführt, wohl aber in dem Entwurf von 1919. Aus dem veränderten Problemhorizont der Moderne, für den das Stichwort Zweifel steht, resultieren andere Anforderungen an eine Begründung der modernen Theologie im und durch das Prinzip der Rechtfertigung.
Tillichs Abgrenzung seines Anliegens von dem Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl ist eine Konsequenz des begründungstheoretischen Anspruchs. Holl hatte in seiner kleinen SchriftWas hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen (Tübingen 1907) das Schicksal der protestantischen Zentrallehre in der Moderne erläutert und deren Sinn herausgearbeitet. Tillichs Frage ist eine andere. Ihm geht es um eine Grundlegung der Theologie im Rechtfertigungsgedanken vor dem Hintergrund des Wegfalls seiner Voraussetzungen. Wenn jener nämlich das Prinzip der protestantischen Theologie benennt, seine Voraussetzungen jedoch aufgelöst sind, dann geht es bei der iustificatio in der Tat um eine Lebensfrage für die Theologie. Als eine solche werde sie, so die Diagnose von Tillich, in der Theologie selbst nicht empfunden.
Warum das so ist, deutet er als eine Folge, die mit der Rechtfertigungslehre im Protestantismus selbst zu tun hat. Zwar benennt sie das Prinzip der Theologie, aber dieses ist selbst nur negativ, ein Durchbruchsprinzip, wie es im Text heißt. In der Geschichte des Protestantismus trat deshalb schon bei Martin Luther die Lehre von der Bibel als Heiliger Schrift an deren Seite. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie sich die Bibel zur Rechtfertigung verhält. Die Theologie des 19. Jahrhunderts behandelte dieses Problem als Unterscheidung von Material- und Formalprinzip des Protestantismus. Der Gehalt der Religion, die Rechtfertigung, finde sich in der Bibel. Diese al...