Urteil: 130 Jahre Zuchthaus
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Urteil: 130 Jahre Zuchthaus

Der Prozess gegen die "Werdauer OberschĂŒler" 1951

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Urteil: 130 Jahre Zuchthaus

Der Prozess gegen die "Werdauer OberschĂŒler" 1951

About this book

"Wendet euch gegen ein Gericht, das die Rechtssprechung wie einen Auftrag zur Auslöschung des politischen Gegners betreibt, – selbst wenn ihre Opfer noch Kinder sind. Fordert die Aufhebung des furchtbaren Urteils!"Mit diesen Worten wandte sich am 10. Oktober 1951 der Chefredakteur des "Tag", Wilhelm Gries, ĂŒber den RIAS an die deutsche Öffentlichkeit. Ingesamt 130 Jahre Zuchthaus hatte das Zwickauer Landgericht gegen 19 Jugendliche verhĂ€ngt, die als die "Werdauer OberschĂŒler" in die Geschichte eingegangen sind. Achim Beyer gehörte zu jener Widerstandsgruppe, die in der westsĂ€chsichen Kleinstadt mit FlugblĂ€ttern gegen die Scheinwahlen des SED-Staates protestiert hatte.Mit diesem Buch kann erstmals unter Verwendung von Stasi- und SED-Akten, anhand von Erinnerungsberichten und Privatfotos eine Analyse der damaligen Ereignisse vorgenommen werden. Aus der Perspektive des Betroffenen lĂ€sst der Autor seine Leser an den damaligen Ereignissen und ihren Folgen teilhaben.

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Information

StrohsĂ€cke, Marmeladeneimer und GummiknĂŒppel: Die Zeit der Strafhaft

Die eigentliche Leidenszeit – abgesehen von den Stasi-Verhören – begann fĂŒr uns erst im »Strafvollzug«.
Viele politische HĂ€ftlinge der fĂŒnfziger Jahre erinnern sich trotz der inzwischen verstrichenen langen Zeit noch immer an schreckliche Details ihrer Haft – heute unvorstellbar, kaum nachvollziehbar. Sie tauchen in schlimmen TrĂ€umen immer wieder auf, quĂ€len nĂ€chtens, rauben den Schlaf. Viele Betroffene stellen sich die schmerzliche und stĂ€ndig wiederkehrende Frage: Warum musste ich das erleiden und wie konnte ich das ĂŒberhaupt ĂŒberstehen?
Über die Haftjahre der »Werdauer OberschĂŒler« – fĂŒr acht von uns dauerten sie vom Mai 1951 bis Herbst 1956 – können an dieser Stelle nur einige wenige stichwortartige Andeutungen gemacht werden. Dabei ist zu berĂŒcksichtigen, dass sich die Haftbedingungen oftmals zur gleichen Zeit von Anstalt zu Anstalt unterschieden – je nachdem welcher Anstaltsleiter welches »Regiment« fĂŒhrte – und sich im Verlaufe der Jahre besserten. Zu Beginn der 50er Jahre waren die Haftbedingungen – im Vergleich zu spĂ€teren Zeiten – jedoch ĂŒberaus hart und erbarmungslos.
Die erste »Strafvollzugsanstalt« fĂŒr unsere Gruppe war das Zuchthaus Waldheim. SpĂ€ter lernten viele von uns auch andere ZuchthĂ€user der DDR von innen kennen. Ich war, wie meine so genannte Laufkarte (siehe Dokumenten-Anhang) ausweist, im Laufe der fĂŒnfeinhalb Jahre in sieben »Vollzugsanstalten«.
In meinen spÀteren GesprÀchen mit den mitverurteilten Schulkameraden wurden folgende Erlebnisse am hÀufigsten erwÀhnt:
In Waldheim wurden wir vom Wachpersonal Ă€ußerst brutal empfangen, denn wir galten als Schwerverbrecher, viel gefĂ€hrlicher als Mörder, denn wir hĂ€tten »die ganze Menschheit ins UnglĂŒck stĂŒrzen« wollen. Die Zivilkleidung und alle uns noch aus der Untersuchungshaft verbliebenen privaten GegenstĂ€nde mussten abgegeben werden; wir wurden neu »eingekleidet«: Jacke und Hose mit eingenĂ€htem Streifen (diese »Uniform« musste nachts, vorschriftsmĂ€ĂŸig zusammengelegt, aus der Zelle gegeben werden), Holzschuhe und Fußlappen, eine (wirklich nur eine einzige!) Garnitur UnterwĂ€sche (WĂ€schewechsel gab es nur alle paar Wochen), zwei dĂŒnne Decken, Blechnapf und Löffel (Messer und Gabel waren nicht gestattet). Allen Jungen wurde das Kopfhaar radikal geschoren - eine schlimme, totale EntwĂŒrdigung; erst 1953 wurden zwei Zentimeter Stoppelhaar gestattet.
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Das Zuchthaus Waldheim. (JVA Waldheim)
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Großes Zellenhaus in Waldheim. (Archiv GedenkstĂ€tte Buchenwald)
In einer Zelle mit etwa 8 qm GrundflĂ€che (außen an der ZellentĂŒr waren die Maße genau angegeben) mussten vier, hĂ€ufig sechs HĂ€ftlinge miteinander auskommen. Die vergitterten Fenster waren zusĂ€tzlich verblendet, d.h., es war nur ein kleiner Lichtschlitz offen. Der Strohsack war nur mit HĂ€cksel gefĂŒllt; es gab Ungeziefer. Als Toilette diente ein Marmeladeneimer mit schlecht schließendem Holzdeckel, der zweimal tĂ€glich geleert wurde; der Gestank war fĂŒrchterlich und widerlich; als Toilettenpapier gab es nur hartes Packpapier. Etwa ein Liter Wasser pro Person pro Tag musste ausreichen fĂŒr KörperwĂ€sche, ZĂ€hneputzen, AusspĂŒlen des Essgeschirrs. Es gab anfangs keine Literatur, keine Zeitungen, keine funktionierende Heizung, nur unregelmĂ€ĂŸig die »Freistunde«, die ohnehin selten lĂ€nger als 20 Minuten dauerte, im GĂ€nsemarsch mit Abstand von mindestens zwei Meter zum Vordermann, im Gleichschritt bei absolutem Sprechverbot; doch wir lernten bald zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, was eine gewisse Kommunikation ermöglichte, ohne dass man uns deshalb bestrafen konnte. Es war streng untersagt, tagsĂŒber auf den StrohsĂ€cken oder (wenn vorhanden) Bettgestellen zu sitzen oder gar zu liegen; aber es gab in diesen Zellen nur zwei Hocker. Uns Jugendliche plagte zudem ein stĂ€ndiger schrecklicher Hunger.
Als wir immer wieder baten, arbeiten zu dĂŒrfen – vor allem wegen etwas mehr Verpflegung und um aus der Enge der stĂ€ndig verschlossenen Zelle fĂŒr einige Stunden herauszukommen – setzte man uns SchĂŒler als »KĂŒbler« ein, d.h. wir »durften« tĂ€glich zweimal die KĂŒbel leeren und im Großen Zellenhaus das Linoleum auf den GĂ€ngen bohnern.
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Innenansicht des Großen Zellenhauses in Waldheim, etwa 1950. (Archiv GedenkstĂ€tte Buchenwald)
Jeder von uns kann ĂŒber jeweils eigene Erlebnisse und Lebenserfahrungen berichten. Ich erinnere mich besonders an das Zusammenleben mit Kriminellen in einer Zelle (Sittlichkeitsverbrecher und Mörder), aber auch, welche Chance es bedeutete, nach monatelanger totaler Isolierung endlich Arbeit zu bekommen. Nur waren wir in den Arbeitskommandos deutlichen Schikanen ausgesetzt. Ich musste u.a. in der Haftanstalt Torgau Tarnnetze fĂŒr die Nationale Volksarmee (NVA) nĂ€hen und im »Schrott-Kommando« unter unwĂŒrdigen, sehr gefĂ€hrlichen und gesundheitsschĂ€digenden Arbeitsbedingungen mit Hammer und Meißel Flugzeugschrott zerteilen und sortieren. Hier ereigneten sich nahezu tĂ€glich UnfĂ€lle.
»Die meiste Zeit (in Halle, in Waldheim bei meinem zweiten Aufenthalt dort und in Luckau) war ich in der Schneiderei beschĂ€ftigt, wo wir fĂŒr Volkseigene Betriebe arbeiteten. In Waldheim wurde fĂŒr mich als Lohnbuchhalter in der Schneiderei vom VEB Bekleidungswerke offiziell rd. 250 Mark netto an die Vollzugsanstalt ĂŒberwiesen. Davon bekam ich als HĂ€ftling zum Eigenverbrauch (fĂŒr den Einkauf bestimmter Lebensmittel, Zigaretten, Zeitung) 19,50 Mark (= 8%); auf ein Sperrkonto (wurde bei der Entlassung ausgezahlt, wovon auch die Fahrkarte zu kaufen war) kamen 8 Mark (= 3%); fĂŒr FamilienunterstĂŒtzung (wurde nach Hause ĂŒberwiesen) 25 Mark (= 10%); die Haftanstalt behielt mithin fast 200 Mark (= 79%) ein.«35
Besonders bedrĂŒckend war die Haftzeit jener, die jahrelang nur in den kleinen Zellen oftmals mit (primitiven) kriminellen HĂ€ftlingen leben mussten, ohne andere GesprĂ€chspartner zu haben. In diesem Punkt anders waren die Bedingungen im Zuchthaus Bautzen, sofern man in einem der völlig ĂŒberbelegten SĂ€le untergebracht war. So schrecklich es hier auch war – immerhin gab es die Möglichkeit, sich unter den 200 bis 300 HĂ€ftlingen des Saales GesprĂ€chspartner auszusuchen, von denen man lernen konnte, was besonders fĂŒr SchĂŒler sehr wichtig war. Manchen HĂ€ftlingen gelang es, fĂŒr Stunden ihre Kameraden mit fundierten und gehaltvollen VortrĂ€gen vom HĂ€ftlingsalltag weg in eine andere Welt zu »entfĂŒhren«. Ein Bautzen-HĂ€ftling, der zeitweise in eine Zelle verlegt worden war, meinte dazu: »Erst mal wieder Saalluft schnuppern. Ihr glaubt gar nicht, wie jĂ€mmerlich das Leben in den Zellen ist. Ums Verrecken möchte ich da nicht mehr hin!«36
Mein Schicksal war es – abgesehen von wenigen Wochen – die gesamte Haftzeit in solchen kleinen Zellen eingesperrt gewesen zu sein.
Die monatlichen (zensierten) Briefe nach draußen – auf vorgedruckten Formularen nur wenige Zeilen – wurden von uns gedanklich Wort fĂŒr Wort wochenlang, mitunter in schlaflosen NĂ€chten vorformuliert. Die Antwortbriefe (es durfte nur jeweils ein Brief in der Zelle behalten werden) gaben Hoffnung, enthielten aber auch oft schlimme Nachrichten. Alle Briefe wurden zensiert, nicht wenige konfisziert.
Der Besitz von Fotos – auch der nĂ€chsten Angehörigen – war nicht erlaubt.
»Bei guter FĂŒhrung und Arbeitsleistung« durfte bis 1955 jeder Strafgefangene monatlich ein Paket empfangen. Danach wurde dies nur zu besonderen AnlĂ€ssen wie Weihnachten gestattet, da es den Gefangenen angeblich »so gut« ging, dass sie keiner UnterstĂŒtzung bedĂŒrften. Das Gewicht (3 kg) und der Inhalt der Pakete waren genau vorgeschrieben. Die von den Angehörigen liebevoll eingepackten Gaben wurden bei der Kontrolle meist zusammengeschĂŒttet, vorher regelrecht zerhackt (es könnte ja eine EisensĂ€ge eingeschmuggelt werden) und erst dann dem HĂ€ftling ĂŒbergeben. Reine Schikane. Die vitamin- und fetthaltigen Nahrungsmittel waren fĂŒr uns Jugendliche besonders wichtig, konnten aber nach einer solchen »Behandlung« nicht lange aufbewahrt werden.
Die unter bestimmten Auflagen nur alle 3 Monate gestatteten Besuche von immer nur einer Person und genau 30 Minuten Dauer fanden unter diskriminierenden Bedingungen statt.
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30 Minuten Sprechzeit: Besuchserlaubnisschein aus Waldheim. (BStU-Kopie)
Es war keine BerĂŒhrung gestattet. Es durfte nur ĂŒber private Angelegenheiten gesprochen werden. Bereits beim Hinweis auf ein Gnadengesuch wurde das GesprĂ€ch brutal unterbrochen. FĂŒr uns Inhaftierte waren die Besuche Hoffnung und Belastung zugleich: Wir durften unsere Angehörigen nach langer Pause nur kurz wieder sehen. Wer danach in die trostlose Zelle zurĂŒckkam, vermochte in der folgenden Nacht kaum zu schlafen. Aber auch die Besucher waren meist schockiert: in den unfreundlichen Besucher-RĂ€umen blickten sie in unsere blassen, hĂ€ufig auch traurigen Gesichter.
Uns Jugendliche besuchten meist die MĂŒtter, bei zwei der MitschĂŒler waren es auch die Jugendfreundinnen und jetzigen Ehefrauen (nach ĂŒber fĂŒnf Jahren Hoffen und Bangen und Warten auf die Entlassung!!); das bedeutete aber auch: aufgrund der strengen und letztlich unmenschlichen Besuchsregelungen musste die Mutter oder die spĂ€tere Ehefrau mindestens ein halbes Jahr (!) auf ein kurzes Wiedersehen warten, Geschwister und andere Familienangehörige gar bis zur Haftentlassung.
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Die Besuchserlaubnis-Bestimmungen. (BStU-Kopie)
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(BStU-Kopie)
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»Zum Fenster hinausgesehen«: Ein hinreichender Grund fĂŒr »Hausstrafen«. (BStU-Kopie)
Eine Jugendfreundin, die mich auf meinen ausdrĂŒcklichen Wunsch einmal in Waldheim besuchte (als »Verlobte« bekam sie eine Besuchserlaubnis), kann den damit verbundenen Schock auch nach Jahrzehnten nicht vergessen:
»FĂŒr mich war es das wahrscheinlich schrecklichste Erlebnis in meinem Leben. Ich war ja noch nie in einer Haftanstalt. Als ich zu Dir gefĂŒhrt wurde und eine TĂŒr nach der anderen hinter einem zugeschlossen wurde, dachte ich, ich komme in meinem Leben da nicht mehr heraus. Da habe ich mir gesagt, da muß ich durch, ich muß dem Achim Mut machen. Wir mĂŒssen uns miteinander unterhalten. FĂŒr mich war das sehr, sehr erschĂŒtternd – das muß ich noch heute sagen: nicht nur das TĂŒrenzuschließen, sondern die Begegnung mit Dir.«37
FĂŒr Kleinigkeiten gab es zusĂ€tzliche »Hausstrafen«. Die Akten weisen aus, dass ich 1955 eine Verwarnung bekam, weil ich »zum Fenster hinausgesehen« hĂ€tte.38 Im als Faksimile abgedruckten Dokument heißt es in altdeutscher Schreibschrift »Zur Sache«:
»Ich gebe zu, daß ich am 17.7.55 gegen 20.30 zum Fenster hinaus gesehen habe. Zu diesem Zwecke habe ich die Blende hoch geschoben.
Dadurch habe ich m...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Michael Beleites: Vorwort
  6. Prolog: Wir »Werdauer OberschĂŒler«
  7. Die »Weiße Rose« war unser Vorbild: Nachkriegsjugend in der Sowjetischen Besatzungszone
  8. Unsere »Verbrechen«: Die Aktionen der Gruppe
  9. Verhaftung und Untersuchungshaft: Totale Isolierung
  10. Die »Verhandlung«: Eine Justizposse mit schlimmen Folgen
  11. Stromabschaltungen und internationale Proteste: Reaktionen nach dem Prozess
  12. Der Ausnahmefall: Ein Prozess hinter dem RĂŒcken der Partei
  13. Misstrauen und SchulausschlĂŒsse: Die Reaktionen in der Oberschule Werdau
  14. StrohsĂ€cke, Marmeladeneimer und GummiknĂŒppel: Die Zeit der Strafhaft
  15. Pieck, Benjamin und das Moskauer Tauwetter: Gnadengesuche und Entlassung
  16. Neue Probleme im »normalen Leben«: Die RĂŒckkehr nach Werdau
  17. UnverstĂ€ndnis und BĂŒrokratie, aber auch SolidaritĂ€t: Der Neubeginn im Westen
  18. Die Bestrafung der TÀter: DDR-»Richter« ohne Unrechtsbewusstsein
  19. Vorbehalte und spÀte Anerkennung in der Heimat: Die moralische Rehabilitierung
  20. Dokumenten-Anhang
  21. WeiterfĂŒhrende Literatur - Auswahl
  22. AbkĂŒrzungen