ANHANG 1: EVANGELISCHE UND ORTHODOXE BEITRÄGE AUS DEM RUSSISCH-DEUTSCHEN GESPRÄCH ZUR SOZIALETHIK
CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN VON INKLUSION AM BEISPIEL DES PAPIERS INKLUSION LEBEN DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND
Martin Illert
I. KONTEXT UND INTENDIERTE LESERSCHAFT
Unter dem Titel »Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft« hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2014 eine sogenannte »Orientierungshilfe« veröffentlicht.1 Dieses Papier möchte ich hier vorstellen, um mit Ihnen in die Diskussion über Inklusion im Rahmen unseres Tagungsthemas »Gesellschaftliche Teilhabe als Chance zur deutschrussischen Verständigung« zu kommen. In der Diskussion im Anschluss werde ich dann auch meine persönlichen Erfahrungen als Vater eines inzwischen neunzehnjährigen jungen Mannes mit Behinderung einbringen können. Zunächst jedoch möchte ich Ihnen das kirchliche Papier bekannt machen, das die Kammer für Bildung, Erziehung, Kinder und Jugend der Evangelischen Kirche in Deutschland über mehrere Jahre hinweg erarbeitet hat und das der Rat der EKD im Jahr 2014 verabschiedete. Als Anlass für die Veröffentlichung benennt das Vorwort einen rechtlichen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechts-Konvention aus dem Jahr 2006. Im Papier heißt es dazu:
»Inklusion ist zum Leitbild eines umfassenden Wandels geworden: Wie schaffen wir es, dass Barrieren, Vorurteile und Trennungen abgebaut werden? Es geht nicht mehr um die Integration einer kleinen abweichenden Minderheitsgruppe in die ›normale‹ Mehrheit. Vielmehr soll die Gemeinschaft so gestaltet werden, dass niemand aufgrund seiner Andersartigkeit herausfällt oder ausgegrenzt wird.«2
Die Zielgruppe der Schrift, so wird in der Einleitung festgestellt, soll nicht allein allgemein die Gesellschaft oder die Politik, wie dies alle derartigen Veröffentlichungen der EKD beabsichtigen, sein. Die vorliegende Orientierungshilfe richtet sich darüber hinaus auch an die diakonischen Träger selbst, und in Besonderheit an alle, die sich um eine inklusive Weiterentwicklung des Gemeinwesens bemühen. In der Einleitung der Orientierungshilfe wird das Konzept der Inklusion in Anlehnung an die UN-Konvention durch die vier Unterpunkte gleichwertige Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe, Autonomie und gesellschaftliche Wertschätzung näher bestimmt.
Die Orientierungshilfe unterstreicht nach der Auflistung der Punkte, inwiefern es sich hier um einen Paradigmenwechsel handelt: Zu dem traditionellen medizinischen Modell der Behinderung, welche ein Arzt für einen Patienten diagnostiziert und gegen die die Maßnahmen der Behandlung und Rehabilitation wirken, tritt ein soziales Modell, bei dem die Gesellschaft daraufhin befragt wird, wo sie stigmatisiert und sich der Behinderung nicht anpasst. Eine Variante dieser Sicht kann neben den sozialen Faktoren auch kulturelle Muster, etwa diskriminierende Denkmuster als Ursachen von Behinderung ausmachen. Inklusion ist nach diesem Verständnis der gesellschaftliche Entwicklungsprozess von der rein medizinischen Definition hin zur barrierefreien Gesellschaft und Mentalität. Im Rahmen dieser hermeneutischen Voraussetzungen, die in der Folge nicht weiter hinterfragt werden, argumentiert die Orientierungshilfe.
II. THEOLOGISCHE GRUNDÜBERLEGUNGEN
Der Einführung in den Paradigmenwechsel fügt die Orientierungshilfe in einem zweiten Schritt theologische Erwägungen an. Damit signalisiert sie die Kompatibilität ihrer Theologie mit dem neuen Rahmen. Die theologischen Überlegungen setzen bei der Gottesebenbildlichkeit an und heben eingangs, dass »jeder Mensch […] von Gott, so wie er ist, nach seinem Bild geschaffen« sei. Dieses Geschaffensein begründe »seine unantastbare Würde«. Die Gottesebenbildlichkeit dürfe nicht substanzhaft, sondern müsse beziehungshaft verstanden werden. »Kein Mensch müsse eine bestimmte Eigenschaft haben, um seine Gottebenbildlichkeit nachweisen zu können«.3 In den Zusammenhang der Gottesebenbildlichkeit wird auch das alttestamentliche Bilderverbot gesetzt. »Die biblische Tradition gibt auf die Frage nach dem Wesen des Menschen die paradoxe Auskunft, dass Menschen sich von dem, nach dessen Bild sie geschaffen sind, kein Bildnis machen sollen«.4 Ferner wird die Trinität als Quelle der bereits in Gott begründeten Verschiedenheit gesehen: »Unterschiedlichkeit Gottes« komme »auch im trinitarischen Gottesverständnis als Vater, Sohn und Heiliger Geist zum Ausdruck«. Der trinitarische Gott sei »Vielfalt und Einheit zugleich. Gott ist die bunte Vielfalt für mich«, so beschreibt ein Mann mit einer geistigen Behinderung sein Gottesverständnis.5
Bezugspunkt des Leides von Menschen mit Behinderung sei, so wird ferner ausgeführt, das Leiden Jesu Christi. Auf der Grundlage von Inkarnation und Kreuz kann der Text auch vom »inklusiven Handeln Gottes« sprechen. Gerade die Erwählten, so führt unser Text weiter aus, hätten in den biblischen Zeugnissen häufig das Stigma des Ungeeignet-Seins zu tragen:
»Regelmäßig wird in den biblischen Berufungsgeschichten vom Einwand der Erwählten oder ihrer Umgebung berichtet, nicht geeignet zu sein. David und Jeremia sind z. B. zu jung. Paulus verweist auf seine Schwachheit und eine Behinderung, die ihn quält, vertraut aber auf die Zusage Gottes: ›Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig‹. Und die Jünger Jesu entsprechen in keiner Weise gängigen Elitevorstellungen. Gemessen an dem, was ›vor Augen‹ ist, waren sie alle ungeeignet. Dennoch waren und sind sie wichtige Bausteine der Kirche.«6
In engem Anschluss an den ersten Korintherbrief heißt es in unserem Text sodann:
»Das Wahlverhalten Gottes ist ›töricht‹ und stellt menschliche Auswahlkriterien auf den Kopf. Er erwählt auch, was in den Augen anderer schwach, klein, gering, unbedeutend und hässlich ist (1 Kor 1,26 ff.; 5 Mose 7,6–8), und stellt damit unsere Normalitätsvorstellungen radikal in Frage.«7
Ferner sieht der Text in der Berufung des sprachbehinderten Moses im Alten Testament den biblischen Prototyp eines Assistenzmodells:
»Was hat Mose geholfen? Nicht der Hinweis, er sei doch Gottes gutes Geschöpf – er behält seine Angst, vor den Pharao zu treten. Auch seine Behinderung verschwindet nicht. Ihm hilft sein Bruder. Er hat Aaron an seiner Seite, einen Menschen, auf den er sich verlassen kann und der ihm hilft, wo es nötig ist. Und Aaron kann reden. Heute würden wir sagen: Aaron ist seine persönliche Assistenz.«8
An diese theologischen Grundüberlegungen fügt die Orientierungshilfe dann einige selbstkritische Einsichten der evangelischen Theologie an:
»In der Geschichte der Theologie gibt es bis in die Gegenwart immer wieder Zugänge und Darstellungen mit exkludierender und abwertender Wirkung […]. Unter der Voraussetzung eines strafenden und vergeltenden Gottes wurde ein einfaches Ursache-Wirkung-Muster entwickelt, das häufig Menschen mit Behinderungen die Gottebenbildlichkeit und damit ihre Würde oder gar ihr Lebensrecht abgesprochen hat.«9
Die selbstkritischen Überlegungen überraschen den Leser der Orientierungshilfe, da zuvor das Modell der Inklusion fest theologisch verankert worden ist. Eben hatte der Leser den Eindruck gewonnen, Inklusion sei ein schöpfungstheologisch, trinitarisch und kreuzestheologisch begründetes Kernanliegen der christlichen Theologie, da muss er erfahren, dass diese so stark theologisch verankerte Inklusion bis vor kurzem noch nicht auf der Agenda der Kirche stand. Der Text widmet sich diesem Widerspruch nicht ausführlich, sondern geht zu den positiven Impulsen der christlichen Tradition über. Diese seien »häufig durch jüdischchristliche Nächstenliebe motiviert. Diakonische Denkmuster spielen hier eine zentrale Rolle. Einen besonderen Akzent setzt die Vorstellung, im leidenden Menschen begegne Christus selbst.«10 Das Muster- und Vorbild für eine inklusive Kirche sei, so heißt es abschließend, das Motiv vom Leib Christi bei Paulus. Dieser verstehe
»die christliche Gemeinde als eine Ergänzungsgemeinschaft, in der Geben und Nehmen selbstverständliche Funktionen des einen Leibes Christi sind. Weil die Würde und der Wert des Lebens Gottes Geschenk sind, können Schwäche, Krankheit, Behinderung und Armut diese Würde nicht beeinträchtigen.«11
III. INKLUSION ALS GESAMTGESELLSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNG
Der nun anschließende Teil beschreibt die Herausforderungen bei der Umsetzung der Inklusion in der Gesellschaft und im Leben jedes Einzelnen. Die fundamentalsten Herausforderungen werden im Denken und in der Sprache gesehen: Sprache könne
»unwillkürlich und unbedacht Exklusion bewirken. Deshalb steht am Anfang gelingender Inklusion eine Veränderung des Denkens und Sprechens. Menschen lernen, die eigenen Bilder und Vorstellungswelten dahingehend zu hinterfragen, ob und in welcher Form sie ausgrenzend wirken oder teilhabeorientiert sind.«
Bei der Inklusion durch Denken und Sprechen geht es nach Ansicht der Autoren des Textes aber nicht nur um Sensibilitäten Betroffener, die zu achten sind, sondern die Sprache selbst soll als ein Instrument wahrgenommen werden, das Realität verändert.
»Sprach man lange Zeit ganz selbstverständlich von ›Idioten‹ und ›Krüppeln‹, so setzte sich später der Begriff ›Behinderter‹ durch. Unter der abstrakten Bezeichnung ›Behinderter‹ hat man versucht, weitere Unterteilungen und Spezifizierungen zu schaffen, um Menschen mit Behinderungen zu klassifizieren: Körperbehinderte, Geistigbehinderte, Sinnesbehinderte, Lernbehinderte. Doch damit werden Menschen nach ihren Defiziten eingeteilt. Nicht ihre Fähigkeiten stehen dann im Vordergrund, ihre individuellen M...