1 Wie kommen Menschen dazu, nach Gott zu fragen und von Gott zu reden?
Ein fünf Jahre altes Mädchen, das mit seinem Vater regelmäßig sonntags in die Kirche ging, fragte eines Tages seine Mutter: »Mama, warum gehst du eigentlich nicht mit in die Kirche?« Die Mutter antwortete: »Weil ich nicht an Gott glaube«. Darauf fragt das Kind ganz entgeistert: »Du weißt nicht, dass es Gott gibt?«
Die Mutter hatte das früher auch einmal »gewusst«. Sie war sogar Kindergottesdienstmitarbeiterin gewesen. Aber der Glaube an Gott war ihr abhanden gekommen. Für das Kind war er dagegen eine Selbstverständlichkeit.
Wie wird diese Geschichte weitergehen? Wird das Kind eines Tages auch ehrlicherweise sagen müssen: »Ich glaube nicht (mehr) an Gott«? Wird die Mutter eines Tages ehrlicherweise sagen können: »Ich glaube (wieder) an Gott«? Wie kommen Menschen zum Glauben an Gott? Oder sollte man lieber fragen: Wie kommt der Glaube an Gott zu Menschen?
Die Frage, wie Menschen dazu kommen, nach Gott zu fragen, von Gott zu reden und an Gott zu glauben, ist für dieses ganze Buch grundlegend wichtig, weil sie darauf hinweist, dass der Glaube an Gott sich nicht von selbst versteht. Gott unterscheidet sich von anderen »Gegenständen« unseres Erkennens dadurch, dass er für unsere sinnliche Wahrnehmung und für unser Denken nicht direkt zugänglich ist. Wir können Gott nicht zeigen oder beweisen – uns nicht und anderen nicht. Deswegen ist das Dasein Gottes auch umstritten. Wer nicht über das hinaus Aussagen machen möchte, was für unser Erkennen verfügbar ist, wird dazu neigen, entweder (mit dem Atheismus) die Wirklichkeit Gottes zu bestreiten oder (mit dem Agnostizismus) zu behaupten, dass wir von Gott nichts wissen können. Wer jedoch nach Gott sucht, an Gott glaubt und darüber auch mit Nichtglaubenden ins Gespräch kommen möchte, tut gut daran, sich selbst, aber auch anderen darüber Rechenschaft zu geben, wie man zum Glauben an Gott und zur Erkenntnis Gottes gekommen ist. Warum Gott? Das hat immer mit dem eigenen Denken, Leben und Erleben zu tun.
Will man verstehen, wie Menschen dazu kommen, nach Gott zu fragen und von Gott zu reden, so kann man seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aspekte richten:
– auf die Anfänge des Suchens nach Gott in der Menschheitsgeschichte (1.1),
– auf die Anlässe, durch die Menschen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema »Gott« in Berührung kommen (1.2),
– auf die Gründe dafür, dass Menschen nach Gott fragen und von Gott reden (1.3),
– auf die verschiedenen Weisen, wie Menschen zur Erkenntnis Gottes gelangen (1.4).
Alle diese Fragen sind sinnvoll und wichtig. Sie sollen deshalb im Folgenden behandelt werden. Und daraus werden sich schließlich auch noch zwei weitere Fragen ergeben:
– welche Bedeutung bei alledem der Glaube hat (1.5) und
– welche Sprache dem Reden von Gott angemessen ist (1.6).
1.1 Über die Anfänge des Suchens nach Gott in der Menschheitsgeschichte
Die Frage nach den Anfängen des Gottesglaubens in der Menschheitsgeschichte lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten, weil sie sich auf etwas bezieht, was sich weitgehend der Erforschung entzieht. Wir haben dafür keine geeigneten (zum Beispiel schriftlichen) Quellen, sondern sind auf Spuren und Vermutungen angewiesen. Um so nahe wie möglich an die frühesten Wurzeln des Glaubens an Gott zu gelangen, kann man sich nicht auf Phänomene beschränken, in deren Zusammenhang ein Wort für Gott vorkommt, sondern muss auch andere religiöse Phänomene, insbesondere Rituale, Symbole und andere Zeichen, in die Beobachtungen einbeziehen.
In der menschlichen Entwicklungsgeschichte gab es zahlreiche Einschnitte. Sie bezogen sich zum Beispiel auf die Lebensräume und Werkzeuge, auf Ernährungs- und Jagdgewohnheiten, auf die Beherrschung und Nutzung des Feuers sowie auf die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache und Kultur. Einen besonders auffälligen und charakteristischen Einschnitt bildet das Aufkommen von Gebräuchen und Riten, die dafür sprechen, dass Menschen anfingen, über die Grenzen des irdischen Lebens hinauszudenken. Das war allem Anschein nach erstmals beim Neandertaler der Fall:
»Die Neandertaler bestatteten ihre Toten und gaben ihnen Grabbeigaben mit. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheitsentwicklung nahm man sich der Verstorbenen an … Möglicherweise deuten die Bestattungen auch den Beginn religiösen Verhaltens an, und es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Neandertaler an ein Leben nach dem Tode glaubten« (F. Schrenk, Die Frühzeit des Menschen, München 20034, S. 113f.).
Damit entstand für die weitere Menschheitsentwicklung ein Vermächtnis von lang anhaltender Bedeutung, das auch nach dem Aussterben der Neandertaler weitergetragen wurde. So sind für den Menschen der zurückliegenden ca. 50 000 Jahre rituelle Praktiken mit religiöser Bedeutung ein charakteristisches Merkmal geworden. Dadurch unterscheidet sich dieser sogenannte »moderne Mensch« von früheren menschlichen Entwicklungsstufen und von anderen Entwicklungslinien in der Evolution des Lebendigen, da religiöse Rituale – soweit wir wissen – im Tierreich nirgends vorkommen. Religion zeigt sich in der Evolution als etwas charakteristisch Menschliches.
Auch wenn im Blick auf solche frühen Bestattungsrituale nicht eindeutig gesagt werden kann, was über den Tod hinaus erwartet oder erhofft wurde, ist es doch von Bedeutung, dass der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte den Zugang zur Religion anscheinend dadurch fand, dass er über das Lebensende hinaus dachte und fragte. Diese Sorge um das Schicksal der Toten verdient Beachtung. Die Körper der Verstorbenen verwesten doch sichtbar, lösten sich also allmählich in ihre organischen Bestandteile auf. Warum gab man ihnen bei ihrer Bestattung trotzdem Nahrungsmittel, Schminke und Amulette mit? Glaubte man an ein Weiterleben nach dem Tod? Die in solchen Grabbeigaben zum Ausdruck kommende Vorsorge für die Existenz nach dem Tod blieb von da an ein fester Bestandteil menschlicher Kultur und Religion. Sie weckt und nährt die Vermutung, dass der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung und darum eine Bedeutung hat, die über seinen Tod hinausreicht. Damit ist zumindest der Boden bereitet, auf dem sich Vorstellungen von Geistern und Gottheiten entwickeln konnten, die als Richter, Begleiter, Retter oder Bundesgenossen im Jenseits gedacht werden konnten. Die menschliche Sehnsucht nach einer über dieses irdische Leben hinausreichenden Erfüllung fand offenbar einen ihrer ersten Haftpunkte in einer Hoffnung, die über den Tod hinausreicht. Das religiöse Fragen und Suchen verdankt sich also von Anfang an einem menschlichen Wissensdurst und dem Gefühl einer besonderen menschlichen Bestimmung. Neben dem technischen Wissensdrang, der die Welt immer besser zu erfassen, zu erklären und zu beherrschen versucht, gibt es im Menschen ein Fragen, Suchen und Verstehen-Wollen, das sich auf sein eigenes Dasein als Ganzes bezieht. Der Mensch gibt sich nicht mit dem zufrieden, was vor Augen liegt, sondern will verstehen, wohin das menschliche Leben ausgerichtet ist und worauf es letztlich hinausläuft.
1.2 Wie kommen Menschen in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema »Gott« in Berührung?
Über viele Jahrhunderte hinweg kamen Kinder ganz selbstverständlich mit dem Thema »Gott« in Berührung: durch das familiäre und kirchliche Leben, durch Lieder, Geschichten, Tisch- und Abendgebete sowie durch den Besuch von Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempeln etc. und Gottesdiensten. Das ist auch heutzutage noch weithin (und außerhalb von Europa sogar in zunehmendem Maße) der Fall, aber es ist nicht mehr überall selbstverständlich. Und Eltern, für die der Glaube an Gott selbst keine Rolle spielt, können ihren Kindern in dieser Hinsicht auch kaum etwas vermitteln. Damit entschwindet das Thema »Gott« aus dem Leben vieler Menschen und verliert für die Gesellschaft an Bedeutung.
Die Frage nach Gott kann im Leben eines Kindes freilich auch gewissermaßen von selbst auftauchen, etwa in Form der Frage, wo die verstorbenen Großeltern jetzt seien. Und damit meldet sich dann auch schon früh im Leben eines Kindes ein Denken über den Tod hinaus an. Aber im Zentrum des kindlichen Fragens steht doch eher das Wissenwollen, »wer das gemacht hat«: die Wolken, den Sand, das Meer, den Himmel, die Farben, die Luft, die Welt bzw., »woher das alles kommt«. Und im Zusammenhang mit der Beantwortung solcher Fragen, die kein Ende nehmen wollen, lernen Kinder dann auch oft das Wort »Gott« kennen, wenn es ihnen nicht schon aus familiärer oder kirchlicher Praxis bekannt ist. Dabei kann das Reden von Gott ein aufrichtiges Bekenntnis zum Schöpfer der Welt sein, vielleicht ist es aber gelegentlich auch nur Ausdruck der Verlegenheit mangels einer anderen, besseren Antwort.
Es scheint so, als führte die Frage nach dem »Woher?« und die immer neue Anwendung des Prinzips von Ursache und Wirkung beim Nachdenken über die Welt fast von selbst zum Gottesgedanken. Dabei wird Gott dann verstanden als die erste Ursache für alles, was es als Welt und in der Welt gibt, oder als »Baumeister«, der die Welt so weise und gut geordnet hat, wie sie aus reinem Zufall wohl nie hätte entstehen und werden können.
Dieser Gedanke entspricht dem Empfinden und Denken vieler Menschen im Blick auf die Frage nach Gott. Er zeigt, wie das Fragen und Suchen nach Gott aus der aufmerksamen Betrachtung der Welt entstehen und zum Glauben an Gott führen kann, ohne dass dies ein zwingender Beweis für Gott als Schöpfer der Welt wäre. Zwischen der naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt und dem Glauben an Gott als Schöpfer kann jedoch eine Wechselwirkung bestehen, die sich dann zeigt, wenn der Glaube an einen Schöpfergott durch das Studium der Natur unterstützt wird und wenn dieser Glaube zugleich das genaue Studium der Natur anregt. Am Beginn der Neuzeit war der Schöpfungsglaube ein starkes Motiv für die immer genauere Erforschung der Natur und hat die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften entscheidend gefördert.
Auch in der individuellen Entwicklungsgeschichte des Menschen und in der Kulturgeschichte der Menschheit drängt also das Bestreben nach einem besseren, umfassenderen Verstehen der Welt und des Lebens, zum religiösen Nachdenken, Fragen und Suchen hin. Dabei empfinden in unserer Zeit freilich viele Menschen die naturwissenschaftlichen Hinweise auf »den Urknall« oder auf »die Evolution« als hinreichende und befriedigende Antworten, die sie nicht zum Weiterfragen veranlassen und die darum das diesbezügliche religiöse Interesse nicht wecken, sondern eher zum Verschwinden bringen.
Aber das Fragen nach Gott hat nicht nur eine Bedeutung für das menschliche Verstehen (des Lebens und der Welt), sondern auch eine, die sich auf die normative Orientierung für das menschliche Handeln bzw. Verhalten bezieht. Gott wird dabei häufig verstanden als der Gesetzgeber, der durch Werte und Normen, Gebote und Verbote der Welt eine verbindliche Ordnung gibt. Wenn diese Normen jedoch nicht im Zusammenhang mit den Grundfragen nach dem Woher und Wohin menschlichen Lebens gesehen, sondern davon isoliert werden, können sie wie willkürliche Gehorsamsforderungen seitens einer absolut überlegenen Macht wirken, die auf Befolgung und Übertretung mit Belohnung und Bestrafung reagiert. Aber religiöse Ge- und Verbote wollen als Hilfestellungen und Wegweiser für das Gelingen des Lebens verstanden werden. Sie sind – biblisch gesprochen – »zum Leben gegeben« (Röm 7,10). Damit spielen sie nicht nur eine wichtige Rolle, um vor dem Urteil Gottes bestehen zu können, sondern dienen zugleich dem möglichst gedeihlichen Zusammenleben der Menschen. Solche Normen beziehen sich vor allem auf die Achtung der Würde jedes Menschen, auf das soziale Leben, auf den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, auf die Respektierung und auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums sowie auf die Einhaltung der Rechts- und Friedensordnung. Sie können sich aber auch auf den Umgang mit der außermenschlichen Natur beziehen. Dabei umfassen sie oft auch Vorschriften über Aussaat und Ernte, über Tierhaltung und den Verzehr von Pflanzen und Tieren. Schließlich beziehen sich solche Normen auch auf das religiöse Leben, sei es im Sinne allgemeiner Vorschriften für die Gottesbeziehung oder im Sinne spezieller Vorschriften für die Gestaltung kultischer Feiern.
1.3 Welche Gründe gibt es für die Frage nach Gott und das Reden von Gott?
Gründe für die Frage nach Gott und für das Reden von Gott tauchten bereits in den beiden vorangegangenen Abschnitten auf. Sie lassen sich zusammenfassen in der Formulierung: Menschen versuchen, ihr Leben und ihre Welt im Ganzen zu verstehen, zu ordnen und zu gestalten, und sie werden dabei veranlasst, in jede Richtung über das hinaus zu fragen, was ihrem Wahrnehmen und Denken unmittelbar zugänglich und insofern verfügbar ist. Das lässt sich verstehen als Ausdruck einer für das Menschsein charakteristischen Sehnsucht nach Ganzheit und Erfüllung, ohne die dem Menschen Entscheidendes fehlen oder verloren gehen würde.
Diese Sehnsucht stößt im Tod an eine unüberwindbar erscheinende Grenze. Sie verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern verwandelt sich in eine tastende Hoffnung über den Tod hinaus. Andere Gründe für die Frage nach Gott und das Reden von Gott ergeben sich daraus, dass Menschen Erfahrungen machen, durch die sie – im Positiven oder im Negativen – tief bewegt oder sogar erschüttert werden und die förmlich nach einer Möglichkeit der Deutung und Verarbeitung schreien. Solche Erfahrungen können zum Anlass werden, die Gottesbeziehung bewusster zu gestalten und zu vertiefen oder – sie grundlegend zu verändern, wenn nicht sogar zu verabschieden. So ist für viele Menschen die Geburt eines eigenen Kindes oder der Tod eines nahen Menschen ein Grund dafür, grundsätzlich über ihre Weltsicht nachzudenken. Ebenso sind unerwartete Erfahrungen großen Glücks und Gelingens, aber auch unvorstellbare Einbrüche schweren Unglücks oder Scheiterns Gründe dafür, nach einer umfassenden Deutung der Wirklichkeit zu fragen, in der solche Erfahrungen und Erschütterungen ihren Ort finden können. Das Gemeinsame all dieser Gründe kann man wohl darin sehen, dass in solchen Krisen bisherige, vertraute und eingeübte Verstehens- und Deutungsmuster durch neue Erfahrungen in Frage gestellt werden. Das kann dann nach einem veränderten Verständnis der Wirkl...